Deutsche Ordnungspolizisten waren für die Deportation oder Ermordung der über zwei Millionen jüdischen Opfer in der Sowjetunion mitverantwortlich. Wolfgang Curilla beschreibt den Einsatz der Ordnungspolizei. erstmalig flächendeckend für das Baltikum und Weißrußland. Als Quellen dienten ihm neben der zeitgenössischen Überlieferung eine Fülle von großenteils bisher unveröffentlichten Dokumenten und Zeugenaussagen aus weit über 100 Strafverfahren gegen NS-Täter in der Bundesrepublik, in Österreich und in der damaligen DDR. Die detailliert nach Einheiten und Einsatzgebieten gegliederte Darstellung macht das Buch zu einem handbuchartigen, hochinformativen Nachschlagewerk. Nach der Zahl der beteiligten Einheiten waren von 1941 bis 1944 über 20 000 Ordnungspolizisten im Baltikum und in Weißrußland im Einsatz. Auch ihre Mitwirkung bei der Öffnung von Massengräbern, ihre Einsätze im "Bandenkampf" gegen Partisanen und ihre Verwendung an der Front sind Gegenstand der Darstellung. Vergleichemit anderen Täterinstitutionen wie SD, Zivilverwaltung, Wehrmacht und Waffen-SS und einheimischen Einheiten, z.B. dem lettischen Arajs-Kommando, stellen den Einsatz der Ordnungspolizei in den Gesamtrahmen der deutschen Vernichtungspolitik in diesem Teil der Sowjetunion.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2006Unauffällige Vernichter
Die deutsche Ordnungspolizei im Baltikum und in Weißrußland
Viele Zahlen, viele Eintragungen, noch mehr Schicksale. Ein Beispiel: "Vom 29. 10. bis 1. 11. 1942 wurde das Ghetto von Pinsk vernichtet. Insgesamt wurden in diesen Tagen in Pinsk mindestens 18000 Juden ermordet." Die Täter kamen nicht aus den Reihen von SS oder SD. Sie waren Angehörige einer Organisation, die mit dem Slogan warb, sie sei "Dein Freund und Helfer". Die Täter waren deutsche Polizisten. Ihre Rolle bei der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden wurde lange Zeit unterschätzt. Doch unterschieden sich die Bataillone der Ordnungspolizei kaum von den berüchtigten Einsatzgruppen oder den nicht minder gefürchteten Brigaden der Waffen-SS. Es waren primär diese drei Institutionen, die in der besetzten Sowjetunion zu den eigentlichen Vollstreckern des Holocaust wurden. Die Zahl der Juden, die hier den deutschen Polizisten zum Opfer fielen, wird auf eine Million geschätzt, in Polen war es wahrscheinlich über eine halbe Million.
Nachlesen läßt sich all das in der monumentalen Dokumentation von Wolfgang Curilla. Obwohl sich dieser primär auf zwei Räume konzentriert, das Baltikum und Weißrußland, und alle übrigen Tatorte nur kursorisch streift, ist sein voluminöses Kompendium auf über 1000 Seiten angewachsen. Das spricht nicht allein für die Akribie, die Umsicht sowie die geradezu stupende Literatur- und Quellenkenntnis des Autors. Auch die unvorstellbaren Dimensionen dieses grausigen Geschehens werden damit deutlich. Darüber wird - Bataillon für Bataillon, Tat für Tat - meist in Form kurzer und komprimierter Eintragungen berichtet, unterbrochen von ausführlichen Schilderungen von Zeitzeugen, wie sie sich in den Akten der Justiz finden. Deren Perspektive ermöglicht den Blick über den Rand oder besser: den Abgrund der Exekutionsgruben. Angesichts des Ausmaßes dieses Genozids ist es erstaunlich, wie klein auch in diesem Fall die Zahl der eigentlichen Täter blieb. Ende 1941 waren nicht mehr als 26 Bataillone der Ordnungspolizei in der Sowjetunion im Einsatz; ihre Stärke umfaßte rund 12000 Mann. Doch gelang es diesen, eine beispiellose Schreckensherrschaft zu errichten, der nicht nur Juden zum Opfer fielen. Es gab Bataillone, welche den Tod von über 60000 Menschen zu verantworten hatten. Möglich wurde dies nur, weil dieser Teil der deutschen Polizei in ein viel umfassenderes Netzwerk aus SS, Zivilverwaltung, Wehrmacht oder Kollaborateuren eingebunden war, das erst in dieser Kombination seine mörderische Wirkung entfalten konnte.
Aller ideologischen Indoktrinierung zum Trotz waren die Polizisten von ihrer Herkunft und Sozialisation eigentlich kaum für die Rolle der Massenmörder prädestiniert. Da aber Heinrich Himmler über zwei Schlüsselpositionen verfügte, der des Reichsführers SS und des Chefs der deutschen Polizei, kam es, daß man eine alte bewährte Institution in dieser extremen Weise mißbrauchen konnte. Dem wollten sich nur sehr wenige Polizisten widersetzen; als etwa der Leutnant Dr. Hornig zornig wie vergeblich die Aktion "Hasenschießen" (die Liquidierung von 780 sowjetischen Kriegsgefangenen) aufzuhalten suchte, kostete ihn das nicht nur die Stellung. Er wurde zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt und ins KZ Buchenwald überstellt.
Viel häufiger waren jene, die gerne töteten oder zumindest doch voll Überzeugung: "Säuglinge flogen in großem Bogen durch die Luft, und wir knallten sie schon im Fliegen ab, bevor sie in die Grube und ins Wasser flogen. Nur weg mit dieser Brut, die ganz Europa in den Krieg gestürzt hat . . .", schrieb ein Polizeisekretär aus Wien im Oktober 1941 nach Hause. Berichtet wird von einem Fall, wo jüdische Kinder zum Geschlechtsverkehr mit Polizeihunden gezwungen wurden, bevor man sie exekutierte.
Am größten scheint aber - faßt man die Ausführungen des Autors zusammen - jene Gruppe unter den Tätern gewesen sein, die weder in der einen noch in der anderen Richtung auffiel, die gewöhnlich nur auf Befehl handelte und die sich nur langsam an die nicht abreißenden Massaker gewöhnte. Genau das erscheint am beunruhigendsten: eine mehr oder weniger stark ausgeprägte ideologische Nähe zum Regime, eine halbmilitärische Ordnung und der Druck der Gruppe reichten aus, um aus den Vertretern von Recht und Ordnung Verbrecher zu machen, wie sie in der Geschichte nur selten vorkommen.
Die Polizei des "Dritten Reichs" war lange ein Stiefkind der Forschung. Daß gerade sie eine Schlüsselfunktion in der Schoa übernahm, war nur den Spezialisten bekannt. Erst mit den Büchern von Christopher Browning und Daniel Goldhagen begann sich das zu ändern. Danach gewann auch das dunkelste Kapitel der deutschen Polizeigeschichte langsam an Konturen. Doch gibt es kaum eine Studie, die von ihrer Quellenbasis und ihrem Informationsgehalt mit dem Werk Curillas verglichen werden kann. Angesichts der Publikationswut der zeitgeschichtlichen Forschung sind Standardwerke selten geworden. Als unentbehrliches Nachschlagewerk wäre "der Curilla" dazu aber prädestiniert.
CHRISTIAN HARTMANN
Wolfgang Curilla: Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrußland 1941-1944. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006. 1041 Seiten, 68,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die deutsche Ordnungspolizei im Baltikum und in Weißrußland
Viele Zahlen, viele Eintragungen, noch mehr Schicksale. Ein Beispiel: "Vom 29. 10. bis 1. 11. 1942 wurde das Ghetto von Pinsk vernichtet. Insgesamt wurden in diesen Tagen in Pinsk mindestens 18000 Juden ermordet." Die Täter kamen nicht aus den Reihen von SS oder SD. Sie waren Angehörige einer Organisation, die mit dem Slogan warb, sie sei "Dein Freund und Helfer". Die Täter waren deutsche Polizisten. Ihre Rolle bei der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden wurde lange Zeit unterschätzt. Doch unterschieden sich die Bataillone der Ordnungspolizei kaum von den berüchtigten Einsatzgruppen oder den nicht minder gefürchteten Brigaden der Waffen-SS. Es waren primär diese drei Institutionen, die in der besetzten Sowjetunion zu den eigentlichen Vollstreckern des Holocaust wurden. Die Zahl der Juden, die hier den deutschen Polizisten zum Opfer fielen, wird auf eine Million geschätzt, in Polen war es wahrscheinlich über eine halbe Million.
Nachlesen läßt sich all das in der monumentalen Dokumentation von Wolfgang Curilla. Obwohl sich dieser primär auf zwei Räume konzentriert, das Baltikum und Weißrußland, und alle übrigen Tatorte nur kursorisch streift, ist sein voluminöses Kompendium auf über 1000 Seiten angewachsen. Das spricht nicht allein für die Akribie, die Umsicht sowie die geradezu stupende Literatur- und Quellenkenntnis des Autors. Auch die unvorstellbaren Dimensionen dieses grausigen Geschehens werden damit deutlich. Darüber wird - Bataillon für Bataillon, Tat für Tat - meist in Form kurzer und komprimierter Eintragungen berichtet, unterbrochen von ausführlichen Schilderungen von Zeitzeugen, wie sie sich in den Akten der Justiz finden. Deren Perspektive ermöglicht den Blick über den Rand oder besser: den Abgrund der Exekutionsgruben. Angesichts des Ausmaßes dieses Genozids ist es erstaunlich, wie klein auch in diesem Fall die Zahl der eigentlichen Täter blieb. Ende 1941 waren nicht mehr als 26 Bataillone der Ordnungspolizei in der Sowjetunion im Einsatz; ihre Stärke umfaßte rund 12000 Mann. Doch gelang es diesen, eine beispiellose Schreckensherrschaft zu errichten, der nicht nur Juden zum Opfer fielen. Es gab Bataillone, welche den Tod von über 60000 Menschen zu verantworten hatten. Möglich wurde dies nur, weil dieser Teil der deutschen Polizei in ein viel umfassenderes Netzwerk aus SS, Zivilverwaltung, Wehrmacht oder Kollaborateuren eingebunden war, das erst in dieser Kombination seine mörderische Wirkung entfalten konnte.
Aller ideologischen Indoktrinierung zum Trotz waren die Polizisten von ihrer Herkunft und Sozialisation eigentlich kaum für die Rolle der Massenmörder prädestiniert. Da aber Heinrich Himmler über zwei Schlüsselpositionen verfügte, der des Reichsführers SS und des Chefs der deutschen Polizei, kam es, daß man eine alte bewährte Institution in dieser extremen Weise mißbrauchen konnte. Dem wollten sich nur sehr wenige Polizisten widersetzen; als etwa der Leutnant Dr. Hornig zornig wie vergeblich die Aktion "Hasenschießen" (die Liquidierung von 780 sowjetischen Kriegsgefangenen) aufzuhalten suchte, kostete ihn das nicht nur die Stellung. Er wurde zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt und ins KZ Buchenwald überstellt.
Viel häufiger waren jene, die gerne töteten oder zumindest doch voll Überzeugung: "Säuglinge flogen in großem Bogen durch die Luft, und wir knallten sie schon im Fliegen ab, bevor sie in die Grube und ins Wasser flogen. Nur weg mit dieser Brut, die ganz Europa in den Krieg gestürzt hat . . .", schrieb ein Polizeisekretär aus Wien im Oktober 1941 nach Hause. Berichtet wird von einem Fall, wo jüdische Kinder zum Geschlechtsverkehr mit Polizeihunden gezwungen wurden, bevor man sie exekutierte.
Am größten scheint aber - faßt man die Ausführungen des Autors zusammen - jene Gruppe unter den Tätern gewesen sein, die weder in der einen noch in der anderen Richtung auffiel, die gewöhnlich nur auf Befehl handelte und die sich nur langsam an die nicht abreißenden Massaker gewöhnte. Genau das erscheint am beunruhigendsten: eine mehr oder weniger stark ausgeprägte ideologische Nähe zum Regime, eine halbmilitärische Ordnung und der Druck der Gruppe reichten aus, um aus den Vertretern von Recht und Ordnung Verbrecher zu machen, wie sie in der Geschichte nur selten vorkommen.
Die Polizei des "Dritten Reichs" war lange ein Stiefkind der Forschung. Daß gerade sie eine Schlüsselfunktion in der Schoa übernahm, war nur den Spezialisten bekannt. Erst mit den Büchern von Christopher Browning und Daniel Goldhagen begann sich das zu ändern. Danach gewann auch das dunkelste Kapitel der deutschen Polizeigeschichte langsam an Konturen. Doch gibt es kaum eine Studie, die von ihrer Quellenbasis und ihrem Informationsgehalt mit dem Werk Curillas verglichen werden kann. Angesichts der Publikationswut der zeitgeschichtlichen Forschung sind Standardwerke selten geworden. Als unentbehrliches Nachschlagewerk wäre "der Curilla" dazu aber prädestiniert.
CHRISTIAN HARTMANN
Wolfgang Curilla: Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrußland 1941-1944. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006. 1041 Seiten, 68,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nicht weniger als das neue Standardwerk zum Thema habe Wolfgang Curilla vorgelegt, resümiert Rezensent Christian Hartmann. Überhaupt sei die zentrale Rolle der deutschen Polizeibataillone in Osteuropa bei der Ermordung von Juden, Kriegsgefangenen und anderen Opfern erst seit den Büchern von Daniel Goldhagen und Christopher Browning in den Blickwinkel der Forschung geraten. Rund 12000 ordentliche deutsche Polizisten, referiert der Rezensent, hätten ungefähr eine Millionen Menschen in Osteuropa umgebracht und darüber zum Teil grausam-wollüstige Berichte in ihren Briefen nach Hause geschickt. Zu der eigenartigen Allianz von Polizei und SS sei es ganz einfach deshalb gekommen, weil Heinrich Himmler auch Chef der deutschen Polizei gewesen ist. Wolfgang Curillas Buch dokumentiere allein durch seinen Umfang die ungeheuren Ausmaße der Vernichtung. Vor allem sei es aber akribisch bis ins kleinste Detail gearbeitet, wobei dem Autor seine staunenswerte Kenntnis von Literatur wie Primärquellen zugute kommt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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