Ende der achtziger Jahre inspirierte die Kontroverse über Martin Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus zahlreiche Untersuchungen, die sich der bis dahin gänzlich vernachlässigten Geschichte der Philosophie im Dritten Reich zuwandten. Diese bis heute anhaltende, auch durch den allgemeinen Aufschwung der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte belebte Forschungskonjunktur förderte zahlreiche Studien zur Geschichte philosophischer Seminare zutage, zu Subdisziplinen wie der Philosophischen Anthropologie, vor allem aber zur intellektuellen Biographie repräsentativer Denker wie Heidegger, Jaspers, Scheler, Hartmann, Gehlen, Freyer, oder Cassirer, Plessner und Hönigswald, den Protagonisten der deutschen Philosophie in der Emigration. Es fehlte jedoch an einer als Gesamtdarstellung konzipierten Disziplingeschichte der Philosophie, die den zeithistorisch-politischen Verflechtungen des Faches institutionell, biographisch und ideengeschichtlich nachgespürt hätte, so wie dies die vorliegende Untersuchung tut. Erstmals wird hier die philosophiehistorischen Erforschung des Zeitraums zwischen 1918 und 1945 auf eine breite empirische Basis gestellt. Die ergibt sich aus der Berücksichtigung der akademischen Philosophie an dreiundzwanzig Universitäten sowie zehn Technischen Hochschulen des Deutschen Reiches, so daß die weltanschaulich-politischen Positionen von fast 400 Philosophiedozenten thematisiert werden, überwiegend jenen minores zweiten oder dritten Ranges, die bisher im Schatten der "Meisterdenker" vergessen wurden, deren Anteil am wissenschaftspolitischen Geschick ihre Faches jedoch kaum zu überschätzen ist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2002War die SA vielleicht eine Trachtengruppe?
Christian Tilitzkis gründliche Mammutstudie zur Universitätsphilosophie in der Nazizeit läutet ein neues Forschungsstadium ein und irritiert durch apologetische Töne
Hitler hielt nicht viel von deutschen Professoren. Wenn man ihnen die Welt überließe, meinte er, würden sie die Menschheit in lauter Kretins mit Riesenköpfen verwandeln. Hitler mußte seine Abneigung mäßigen, schließlich brauchte er Chemiker, Physiker, Biologen und Techniker. Auch Historiker und überhaupt Kulturwissenschaftler benötigte er, da der Nationalsozialismus eine Anzahl historischer Thesen voraussetzte. Da er überdies eine einheitliche deutsche Weltansicht bieten wollte, waren Philosophen gefragt, die allen Fachvertretern zu erklären hatten, was jetzt an der Zeit sei.
Dies war die Stunde derjenigen deutschen Denker, die schon länger mit dem "System" von Weimar gehadert und unter der Zerrissenheit des modernen Lebens gelitten hatten. Einige Philosophen hatten versucht, die Erfahrung des Weltkriegs zu durchdenken, sie hatten den Relativismus und Historismus "überwunden" und das Ende des Individualismus und Subjektivismus proklamiert; sie hatten das "Volk", die "Gemeinschaft" und die Gefährdetheit der Kultur entdeckt. Sie verkündeten nun, ein Zeitalter sei zu Ende gegangen; sie meldeten ihre Kompetenz an, die Gegenwart zu deuten und in die Zukunft zu weisen. Einige bildeten sich ein, sie könnten den Führer führen.
Der berühmteste dieser Weltweisen war Heidegger; seine Bekenntnisse zum Nationalsozialismus und seine Bemühungen, die Universität Freiburg, deren Rektor er 1933 wurde, nationalsozialistisch umzubauen, haben das Interesse von Historikern und Philosophen mehrfach auf sich gezogen, nachdem Habermas schon in den fünfziger Jahren in dieser Zeitung auf sie hingewiesen hatte. Auch andere bekannte Autoren wie Gehlen und Bäumler, Krieck oder Spranger wurden teils wegen ihrer "Verstrickung" angeklagt oder verteidigt. Eine flächendeckende Untersuchung der Universitätsphilosophie gab es nicht. Diese Lücke füllt nun das monumentale Werk von Christian Tilitzki. Er widmet sich den mittleren und kleinen Geistern; er registriert mit Akribie die philosophisch-politischen Positionen der Ordinarien und der Dozenten in allen philosophischen Seminarien der deutschen Universitäten. Für die Zeit nach 1938 bezieht er auch Österreich und Prag in seine Untersuchung ein. Unter der richtigen Voraussetzung, eine historische Untersuchung könne nicht erst mit 1933 einsetzen, sondern müsse von der intellektuellen Situation der Weimarer Zeit ausgehen, hat Christian Tilitzki die erste umfassende Geschichte der deutschen Philosophie von 1919 bis 1945 geschrieben.
Es gab Vorarbeiten für verwandte Disziplinen und biographische Studien zu einzelnen Autoren; es gibt die bedeutenden Arbeiten von Helmut Heiber über Walter Frank (bereits 1966 mit erheblicher Aktenkenntnis) und dessen Bände über die Universität unter dem Hakenkreuz. Tilitzki hat die vorliegende Literatur minutiös aufgearbeitet; sein Werk eröffnet ein neues Stadium der Forschung und Darstellung. Auch wer die Akzente anders setzt, muß in Zukunft von diesem Standardwerk ausgehen.
Die Darstellung gibt sich betont nüchtern. Sie beruht auf hervorragender Kenntnis der philosophischen Bücher dieses Zeitabschnitts; sie überrascht durch die Vielzahl wichtiger Dokumente, die bislang ungenutzt in Archiven gelegen haben. Sie erstaunt auch durch die Mitteilung, daß eine Reihe von Archiven immer noch die Benutzung ihrer Bestände verweigerten.
Verachtung in barschem Ton
Das Buch geht professionell historisch vor; es respektiert strikt die Chronologie und untersucht Berufungen und Habilitationen jeweils in den Zeitabschnitten 1919 bis 1924, 1925 bis 1932, 1933 bis 1939, 1939 bis 1945. Mit einer ungeheuren Fülle neuen Materials berichtet es über die Universitätspolitik und über Kommentare der Universitätsphilosophen zum politischen Zeitgeschehen. Der Band bringt ein Verzeichnis der politisch-weltanschaulichen Lehrveranstaltungen zwischen dem Wintersemester 1918/19 und dem Sommersemester 1945; es endet mit einem abundanten Verzeichnis der Quellen und der Literatur.
Was Tilitzki vorlegt, ist eine ausgezeichnete Geschichte der philosophischen Institutionen und der politischen Publizistik der Philosophieprofessoren. Eine Geschichte des philosophischen Denkens soll es offenbar nicht sein. Der Autor verkündet im barschen Ton seine Verachtung für die Moralisierung und Pädagogisierung der Zeitgeschichte; er vermeidet die überschwenglichen Tiraden früherer Geisteswissenschaftler; unwirsch polemisiert er gegen neueste Darstellungen, die zu generalisierenden Verdächtigungen neigen oder wohlfeilen verspäteten Widerstand gegen das nationalsozialistische Unrecht demonstrieren. Er plädiert für konsequente Historisierung. Sorgfältig bedient er seine Lieblingsfeinde, vor allem Wolfgang F. Haug und George Leaman.
Tilitzki zeichnet mit aktenmäßiger Trockenheit ein Kolossalgemälde, das sich nicht auf wenige Linien zusammenziehen läßt. Sein durchgehendes Interesse gilt der Vielfalt der Ansätze; überall sucht er Differenzierung und widerspricht einfachen Herleitungen. Insbesondere wendet er sich gegen die Vorstellung, die "Konservativen" der Weimarer Zeit seien Vorläufer des Nationalsozialismus gewesen. Er behauptet, selbst die Deutschnational-Völkischen wie Bruno Bauch, Max Wundt und Theodor Haering seien es nur bedingt gewesen. Die NSDAP und ihre Vordenker haben versucht, die Völkischen und die Rassentheoretiker der Weimarer Zeit zu absorbieren. Die "Wegbereiter" wurden zur Seite geschoben, als die Marschierer kamen. Also keine direkte Filiation und schon gar keine bleibende Harmonie zwischen den National-Konservativen und Hitler.
In diesem Zusammenhang skizziert Tilitzki instruktiv die Geschichte der Blätter für deutsche Philosophie und ihr Geschick in der Zeit des Nationalsozialismus. Auch für die Zeit von 1933 bis 1945 entdeckt der Verfasser eine Vielzahl von Ansätzen. Zwar seien Juden und Sozialisten vertrieben, Liberale und Zentrumsphilosophen zurückgedrängt gewesen, aber der Polyzentrismus der NS-Macht habe in der kurzen Zeit von 1933 bis 1939 nicht jeden Pluralismus beseitigen können. Dazu gab es zu viele Konflikte zwischen den Fakultäten, dem Ministerium und den verschiedenen Instanzen der Partei. Zwar habe die NS-Ideologie bestimmte gemeinsame Grundzüge gehabt: das Führerprinzip, Antiliberalismus, Antibolschewismus und Antisemitismus - aber jeder Philosoph, der die nationalsozialistische Weltanschaung kohärent darstellen wollte, wurde in Polemiken verwickelt. Es gab frühe Enttäuschungen, weil die nationalsozialistische Politik anders ausfiel, als mancher Befürworter Hitlers 1933 gedacht hatte. Der Führer ließ sich von deutschen Professoren nicht so recht führen.
Außerdem gab es immer noch berühmte Gelehrte wie Nicolai Hartmann oder Eduard Spranger, die zwar oberflächliche Kompromisse schlossen, aber ihrem "bürgerlichen" Wissenschaftskonzept mehr oder minder auffällig folgten. Die Macht der "Mandarine" ließ sich so schnell nicht brechen. Sie waren untereinander selten einig; auch der mächtige Alfred Bäumler konnte eine Habilitation über Platon nicht durchsetzen, wenn die Berliner Ordinarien philologische Mängel aufdeckten. Der Kriegsausbruch 1939 löste nicht entfernt die intellektuelle Aktivität aus, die 1914/15 zu beobachten war. Die Philosophie spielte nicht mehr die große Rolle von damals. Es war zu einem Abbau der Stellen und des öffentlichen Prestiges gekommen. Im Universitätsalltag litt die Philosophie unter dem überwiegenden Interesse, das Regierung und Partei an verwertbaren Wissenschaften zeigten. Auch die Pädagogik setzte sich oft als Konkurrenz durch.
Das Buch tritt mit fast positivistischem Pathos als historisch-empirisch auf. Es kondensiert eine Fülle neuen historischen Stoffs. Es bricht überzeugend die Wand ein, die zwischen Historikern und Philosophiehistorikern in Deutschland oft noch besteht und die dazu führt, daß dieselben Themen immer wieder mit dem Pathos der Identifikation behandelt werden und wichtige Quellen unbeachtet bleiben. Kenntnisreich beleuchtet es zeitgeschichtliche Bezüge einzelner theoretischer Positionen. Es versteht philosophiehistorische Forschung nicht als den hingebungsvollen Nachvollzug der inneren Logik philosophischer Positionen, sondern als die Analyse denkender Antworten auf präzis erforschbare geschichtliche Situationen. Es handelt sich um eine Berliner Dissertation, die Karlfried Gründer und Ernst Nolte begutachtet haben. Deren Einfluß ist präsent, besonders wenn immer wieder einmal an den "Weltbürgerkrieg" als Voraussetzung aller Denkarbeit erinnert wird, aber es handelt sich um keine Anfängerarbeit, sondern um eine methodisch durchreflektierte Mammutstudie, der eine klar bezeichnete politisch-philosophische Position zugrunde liegt. Diese provoziert Einwände. Fortschritte in stofflicher Hinsicht sind zu bewundern, aber die methodischen Grenzen dieser Art von Historiographie zu übersehen.
Der Krieg fiel vom Himmel
Tilitzki nimmt theoretische Positionen überwiegend, oft ausschließlich als Merkmale einer Gruppenzugehörigkeit. Er teilt die deutschen Denker nach "Lagern" ein, wie es die Geheimpolizei der NS-Zeit getan hat: Liberale, Sozialliberale, Sozialidealisten, Zentrumsphilosophen, Deutschnationale und völkische Rechte. Zuweilen kommen ihm Bedenken bei diesem Verfahren; dann macht er sich auf die Suche nach Differenzen und setzt die Worte "Lager" oder "Zentrumsphilosophen" in Anführungszeichen, aber das ändert nichts an der Einteilungssucht und an der Beschränkung des Blicks auf die Funktionen einer Theorie. Schließlich verschwinden die Anführungszeichen wieder, und es wimmelt von "Lager"- und Militär-Metaphern. Der Verfasser nennt sein Vorgehen eine "Musterung"; er findet die Philosophen in einer "Schlachtordnung". Er schreibt eine Geschichte der Philosophie, ohne sich für das Denken als Denken zu interessieren.
Das Buch zeigt: Die deutsche Philosophie hat einen "Wirrwarr von Werten und Worten" (J.F. Brecht) produziert. Tilitzki führt sie vor, um zu beweisen, daß es 1933 bis 1945 keinen Einheitsblock des Denkens gegeben hat. Um der Fülle des Materials irgend Herr zu werden, hilft er sich mit einer einfachen Abstraktion. Er konstruiert einen durchgehenden Gegensatz von völkisch-nationalsozialistischem Partikularismus und westlichem Universalismus. Humanisten, Liberale und katholische Philosophen steckt er ins "Lager" der "Universalisten". Er fordert historisch vorurteilsloses Verständnis für die Verteidiger des "Partikularismus", weil dessen Vordenker lokale und nationale Differenzen durch internationale Wirtschaftsverflechtung und universalistische Ideologien bedroht gesehen hätten. Der Nationalsozialismus als "Verteidiger der Partikularität", diese philosophasternde Umschreibung läßt das historische Phänomen hinter einer terminologischen Nebelwand verschwinden. Sie klingt, als sei die SA eine oberbayerische Trachtengruppe gewesen.
Überdies weist Tilitzki selbst nach, daß die Gedankenkonstruktion des Gegensatzes von Universalismus und "Partikularität" dem Gedankenvorrat nationalsozialistischer Professoren entstammt. Nun gehört es zu den Regeln historischer Arbeit, das Selbstverständnis früherer Philosophen sorgfältig zu erheben, aber nicht als Maßstab ihrer Bewertung zu übernehmen. Das Pathos historisch bewußter Strenge, das Tilitzki durchweg hervorkehrt, schlägt um in Apologie. Er versucht, das Bedrohtsein der "Partikularität" - wohlgemerkt: da ist vom hochgerüsteten Dritten Reich, nicht vom Regensburger Altertumsverein die Rede - mit der Zusatzhypothese zu beweisen, der Erste Weltkrieg sei gewiß nicht und der Zweite Weltkrieg sei wohl auch nicht primär das Ergebnis der deutschen Politik gewesen.
In diplomatisch verklausulierten Wendungen und mit Wahrscheinlichkeitsvorbehalten kündigt Tilitzki mit Berufung auf den Nichthistoriker Bernard Willms den Konsens auf, daß das Dritte Reich den Zweiten Weltkrieg begonnen hat. Mit Hinweis auf noch nicht veröffentlichte Akten der Alliierten legt er die Vermutung nahe, die Rede von Deutschlands "Alleinschuld" sei politische Dogmatisierung. Wenn "Alleinschuld" bedeuten sollte, Hitler habe ohne Vorgeschichte im luftleeren Raum agiert, dann hätte Tilitzki freilich recht. Eine solche moralistische Abstraktion mag in der politischen Rhetorik zuweilen vorgekommen sein, aber die Bekämpfung dieses Phantoms setzt Tilitzkis Unternehmen dem Verdacht aus, er habe seinen politischen Dogmatismus mit mikrologischer Mimikry verdeckt.
KURT FLASCH
Christian Tilitzki: "Philosophie und Politik". Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. 2 Teilbände. Akademie Verlag, Berlin 2002. 1475 S., geb., 165,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christian Tilitzkis gründliche Mammutstudie zur Universitätsphilosophie in der Nazizeit läutet ein neues Forschungsstadium ein und irritiert durch apologetische Töne
Hitler hielt nicht viel von deutschen Professoren. Wenn man ihnen die Welt überließe, meinte er, würden sie die Menschheit in lauter Kretins mit Riesenköpfen verwandeln. Hitler mußte seine Abneigung mäßigen, schließlich brauchte er Chemiker, Physiker, Biologen und Techniker. Auch Historiker und überhaupt Kulturwissenschaftler benötigte er, da der Nationalsozialismus eine Anzahl historischer Thesen voraussetzte. Da er überdies eine einheitliche deutsche Weltansicht bieten wollte, waren Philosophen gefragt, die allen Fachvertretern zu erklären hatten, was jetzt an der Zeit sei.
Dies war die Stunde derjenigen deutschen Denker, die schon länger mit dem "System" von Weimar gehadert und unter der Zerrissenheit des modernen Lebens gelitten hatten. Einige Philosophen hatten versucht, die Erfahrung des Weltkriegs zu durchdenken, sie hatten den Relativismus und Historismus "überwunden" und das Ende des Individualismus und Subjektivismus proklamiert; sie hatten das "Volk", die "Gemeinschaft" und die Gefährdetheit der Kultur entdeckt. Sie verkündeten nun, ein Zeitalter sei zu Ende gegangen; sie meldeten ihre Kompetenz an, die Gegenwart zu deuten und in die Zukunft zu weisen. Einige bildeten sich ein, sie könnten den Führer führen.
Der berühmteste dieser Weltweisen war Heidegger; seine Bekenntnisse zum Nationalsozialismus und seine Bemühungen, die Universität Freiburg, deren Rektor er 1933 wurde, nationalsozialistisch umzubauen, haben das Interesse von Historikern und Philosophen mehrfach auf sich gezogen, nachdem Habermas schon in den fünfziger Jahren in dieser Zeitung auf sie hingewiesen hatte. Auch andere bekannte Autoren wie Gehlen und Bäumler, Krieck oder Spranger wurden teils wegen ihrer "Verstrickung" angeklagt oder verteidigt. Eine flächendeckende Untersuchung der Universitätsphilosophie gab es nicht. Diese Lücke füllt nun das monumentale Werk von Christian Tilitzki. Er widmet sich den mittleren und kleinen Geistern; er registriert mit Akribie die philosophisch-politischen Positionen der Ordinarien und der Dozenten in allen philosophischen Seminarien der deutschen Universitäten. Für die Zeit nach 1938 bezieht er auch Österreich und Prag in seine Untersuchung ein. Unter der richtigen Voraussetzung, eine historische Untersuchung könne nicht erst mit 1933 einsetzen, sondern müsse von der intellektuellen Situation der Weimarer Zeit ausgehen, hat Christian Tilitzki die erste umfassende Geschichte der deutschen Philosophie von 1919 bis 1945 geschrieben.
Es gab Vorarbeiten für verwandte Disziplinen und biographische Studien zu einzelnen Autoren; es gibt die bedeutenden Arbeiten von Helmut Heiber über Walter Frank (bereits 1966 mit erheblicher Aktenkenntnis) und dessen Bände über die Universität unter dem Hakenkreuz. Tilitzki hat die vorliegende Literatur minutiös aufgearbeitet; sein Werk eröffnet ein neues Stadium der Forschung und Darstellung. Auch wer die Akzente anders setzt, muß in Zukunft von diesem Standardwerk ausgehen.
Die Darstellung gibt sich betont nüchtern. Sie beruht auf hervorragender Kenntnis der philosophischen Bücher dieses Zeitabschnitts; sie überrascht durch die Vielzahl wichtiger Dokumente, die bislang ungenutzt in Archiven gelegen haben. Sie erstaunt auch durch die Mitteilung, daß eine Reihe von Archiven immer noch die Benutzung ihrer Bestände verweigerten.
Verachtung in barschem Ton
Das Buch geht professionell historisch vor; es respektiert strikt die Chronologie und untersucht Berufungen und Habilitationen jeweils in den Zeitabschnitten 1919 bis 1924, 1925 bis 1932, 1933 bis 1939, 1939 bis 1945. Mit einer ungeheuren Fülle neuen Materials berichtet es über die Universitätspolitik und über Kommentare der Universitätsphilosophen zum politischen Zeitgeschehen. Der Band bringt ein Verzeichnis der politisch-weltanschaulichen Lehrveranstaltungen zwischen dem Wintersemester 1918/19 und dem Sommersemester 1945; es endet mit einem abundanten Verzeichnis der Quellen und der Literatur.
Was Tilitzki vorlegt, ist eine ausgezeichnete Geschichte der philosophischen Institutionen und der politischen Publizistik der Philosophieprofessoren. Eine Geschichte des philosophischen Denkens soll es offenbar nicht sein. Der Autor verkündet im barschen Ton seine Verachtung für die Moralisierung und Pädagogisierung der Zeitgeschichte; er vermeidet die überschwenglichen Tiraden früherer Geisteswissenschaftler; unwirsch polemisiert er gegen neueste Darstellungen, die zu generalisierenden Verdächtigungen neigen oder wohlfeilen verspäteten Widerstand gegen das nationalsozialistische Unrecht demonstrieren. Er plädiert für konsequente Historisierung. Sorgfältig bedient er seine Lieblingsfeinde, vor allem Wolfgang F. Haug und George Leaman.
Tilitzki zeichnet mit aktenmäßiger Trockenheit ein Kolossalgemälde, das sich nicht auf wenige Linien zusammenziehen läßt. Sein durchgehendes Interesse gilt der Vielfalt der Ansätze; überall sucht er Differenzierung und widerspricht einfachen Herleitungen. Insbesondere wendet er sich gegen die Vorstellung, die "Konservativen" der Weimarer Zeit seien Vorläufer des Nationalsozialismus gewesen. Er behauptet, selbst die Deutschnational-Völkischen wie Bruno Bauch, Max Wundt und Theodor Haering seien es nur bedingt gewesen. Die NSDAP und ihre Vordenker haben versucht, die Völkischen und die Rassentheoretiker der Weimarer Zeit zu absorbieren. Die "Wegbereiter" wurden zur Seite geschoben, als die Marschierer kamen. Also keine direkte Filiation und schon gar keine bleibende Harmonie zwischen den National-Konservativen und Hitler.
In diesem Zusammenhang skizziert Tilitzki instruktiv die Geschichte der Blätter für deutsche Philosophie und ihr Geschick in der Zeit des Nationalsozialismus. Auch für die Zeit von 1933 bis 1945 entdeckt der Verfasser eine Vielzahl von Ansätzen. Zwar seien Juden und Sozialisten vertrieben, Liberale und Zentrumsphilosophen zurückgedrängt gewesen, aber der Polyzentrismus der NS-Macht habe in der kurzen Zeit von 1933 bis 1939 nicht jeden Pluralismus beseitigen können. Dazu gab es zu viele Konflikte zwischen den Fakultäten, dem Ministerium und den verschiedenen Instanzen der Partei. Zwar habe die NS-Ideologie bestimmte gemeinsame Grundzüge gehabt: das Führerprinzip, Antiliberalismus, Antibolschewismus und Antisemitismus - aber jeder Philosoph, der die nationalsozialistische Weltanschaung kohärent darstellen wollte, wurde in Polemiken verwickelt. Es gab frühe Enttäuschungen, weil die nationalsozialistische Politik anders ausfiel, als mancher Befürworter Hitlers 1933 gedacht hatte. Der Führer ließ sich von deutschen Professoren nicht so recht führen.
Außerdem gab es immer noch berühmte Gelehrte wie Nicolai Hartmann oder Eduard Spranger, die zwar oberflächliche Kompromisse schlossen, aber ihrem "bürgerlichen" Wissenschaftskonzept mehr oder minder auffällig folgten. Die Macht der "Mandarine" ließ sich so schnell nicht brechen. Sie waren untereinander selten einig; auch der mächtige Alfred Bäumler konnte eine Habilitation über Platon nicht durchsetzen, wenn die Berliner Ordinarien philologische Mängel aufdeckten. Der Kriegsausbruch 1939 löste nicht entfernt die intellektuelle Aktivität aus, die 1914/15 zu beobachten war. Die Philosophie spielte nicht mehr die große Rolle von damals. Es war zu einem Abbau der Stellen und des öffentlichen Prestiges gekommen. Im Universitätsalltag litt die Philosophie unter dem überwiegenden Interesse, das Regierung und Partei an verwertbaren Wissenschaften zeigten. Auch die Pädagogik setzte sich oft als Konkurrenz durch.
Das Buch tritt mit fast positivistischem Pathos als historisch-empirisch auf. Es kondensiert eine Fülle neuen historischen Stoffs. Es bricht überzeugend die Wand ein, die zwischen Historikern und Philosophiehistorikern in Deutschland oft noch besteht und die dazu führt, daß dieselben Themen immer wieder mit dem Pathos der Identifikation behandelt werden und wichtige Quellen unbeachtet bleiben. Kenntnisreich beleuchtet es zeitgeschichtliche Bezüge einzelner theoretischer Positionen. Es versteht philosophiehistorische Forschung nicht als den hingebungsvollen Nachvollzug der inneren Logik philosophischer Positionen, sondern als die Analyse denkender Antworten auf präzis erforschbare geschichtliche Situationen. Es handelt sich um eine Berliner Dissertation, die Karlfried Gründer und Ernst Nolte begutachtet haben. Deren Einfluß ist präsent, besonders wenn immer wieder einmal an den "Weltbürgerkrieg" als Voraussetzung aller Denkarbeit erinnert wird, aber es handelt sich um keine Anfängerarbeit, sondern um eine methodisch durchreflektierte Mammutstudie, der eine klar bezeichnete politisch-philosophische Position zugrunde liegt. Diese provoziert Einwände. Fortschritte in stofflicher Hinsicht sind zu bewundern, aber die methodischen Grenzen dieser Art von Historiographie zu übersehen.
Der Krieg fiel vom Himmel
Tilitzki nimmt theoretische Positionen überwiegend, oft ausschließlich als Merkmale einer Gruppenzugehörigkeit. Er teilt die deutschen Denker nach "Lagern" ein, wie es die Geheimpolizei der NS-Zeit getan hat: Liberale, Sozialliberale, Sozialidealisten, Zentrumsphilosophen, Deutschnationale und völkische Rechte. Zuweilen kommen ihm Bedenken bei diesem Verfahren; dann macht er sich auf die Suche nach Differenzen und setzt die Worte "Lager" oder "Zentrumsphilosophen" in Anführungszeichen, aber das ändert nichts an der Einteilungssucht und an der Beschränkung des Blicks auf die Funktionen einer Theorie. Schließlich verschwinden die Anführungszeichen wieder, und es wimmelt von "Lager"- und Militär-Metaphern. Der Verfasser nennt sein Vorgehen eine "Musterung"; er findet die Philosophen in einer "Schlachtordnung". Er schreibt eine Geschichte der Philosophie, ohne sich für das Denken als Denken zu interessieren.
Das Buch zeigt: Die deutsche Philosophie hat einen "Wirrwarr von Werten und Worten" (J.F. Brecht) produziert. Tilitzki führt sie vor, um zu beweisen, daß es 1933 bis 1945 keinen Einheitsblock des Denkens gegeben hat. Um der Fülle des Materials irgend Herr zu werden, hilft er sich mit einer einfachen Abstraktion. Er konstruiert einen durchgehenden Gegensatz von völkisch-nationalsozialistischem Partikularismus und westlichem Universalismus. Humanisten, Liberale und katholische Philosophen steckt er ins "Lager" der "Universalisten". Er fordert historisch vorurteilsloses Verständnis für die Verteidiger des "Partikularismus", weil dessen Vordenker lokale und nationale Differenzen durch internationale Wirtschaftsverflechtung und universalistische Ideologien bedroht gesehen hätten. Der Nationalsozialismus als "Verteidiger der Partikularität", diese philosophasternde Umschreibung läßt das historische Phänomen hinter einer terminologischen Nebelwand verschwinden. Sie klingt, als sei die SA eine oberbayerische Trachtengruppe gewesen.
Überdies weist Tilitzki selbst nach, daß die Gedankenkonstruktion des Gegensatzes von Universalismus und "Partikularität" dem Gedankenvorrat nationalsozialistischer Professoren entstammt. Nun gehört es zu den Regeln historischer Arbeit, das Selbstverständnis früherer Philosophen sorgfältig zu erheben, aber nicht als Maßstab ihrer Bewertung zu übernehmen. Das Pathos historisch bewußter Strenge, das Tilitzki durchweg hervorkehrt, schlägt um in Apologie. Er versucht, das Bedrohtsein der "Partikularität" - wohlgemerkt: da ist vom hochgerüsteten Dritten Reich, nicht vom Regensburger Altertumsverein die Rede - mit der Zusatzhypothese zu beweisen, der Erste Weltkrieg sei gewiß nicht und der Zweite Weltkrieg sei wohl auch nicht primär das Ergebnis der deutschen Politik gewesen.
In diplomatisch verklausulierten Wendungen und mit Wahrscheinlichkeitsvorbehalten kündigt Tilitzki mit Berufung auf den Nichthistoriker Bernard Willms den Konsens auf, daß das Dritte Reich den Zweiten Weltkrieg begonnen hat. Mit Hinweis auf noch nicht veröffentlichte Akten der Alliierten legt er die Vermutung nahe, die Rede von Deutschlands "Alleinschuld" sei politische Dogmatisierung. Wenn "Alleinschuld" bedeuten sollte, Hitler habe ohne Vorgeschichte im luftleeren Raum agiert, dann hätte Tilitzki freilich recht. Eine solche moralistische Abstraktion mag in der politischen Rhetorik zuweilen vorgekommen sein, aber die Bekämpfung dieses Phantoms setzt Tilitzkis Unternehmen dem Verdacht aus, er habe seinen politischen Dogmatismus mit mikrologischer Mimikry verdeckt.
KURT FLASCH
Christian Tilitzki: "Philosophie und Politik". Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. 2 Teilbände. Akademie Verlag, Berlin 2002. 1475 S., geb., 165,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Starkes Buch. 1475 Seiten stark. Und eine "scharfe Anklage" gegen die bisherige philosophiehistorische Forschung in Sachen Nationalsozialismus. Er kenne, schreibt Thomas Meyer in einem höchst gekonnten Verriss, keine Studie, die das Wissen um die deutsche Philosophie zwischen 1918 und 1945 auch nur in Ansätzen "derart erweitert und kontextualisiert" wie die vorliegende. Großes Lob also für den "Aktenkenner" und "Quellenpositivsten" Tilitzki. So weit, so gut. Was folgt, ist eine gnadenlose Abrechnung mit einer sich auf Theoreme Ernst Noltes stützenden Dissertation, die nicht nur "von Beginn an jede Form historischer Objektivität verfehlt" und jegliches Interesse an den politischen Vorgängen des "Dritten Reiches" vermissen lässt, sondern darüber hinaus - und das ist ein Vorwurf, über dessen Brisanz "in diesen Wochen" sich der Rezensent durchaus im Klaren ist - "Merkmale jenes intellektuellen Antisemitismus" aufweist, "der jüdische Denker nur als abstrakte denunziert und ihre universalistische Ethik als leere Formen". Starker Tobak. Aber Meyer nennt Beispiele, die seinen Vorwurf stützen sollen: Keine Zeile etwa finde sich über die Spinoza-Publikationen von Leo Baeck, Leo Strauss u.a. aus der Weimarer Zeit, während der Spinoza-Streit des "Dritten Reiches" in "jeder Nuance" verhandelt werde; Einrichtungen wie das Frankfurter Lehrhaus von Franz Rosenzweig oder das jüdisch- Theologische Seminar in Breslau seien für den Autor nicht existent. Die Kritik an diesem Buch, so Meyer abschließend, müsse an der Methode und an der Interpretation ansetzen, "die zahllosen Ungeheuerlichkeiten" als Teil der Textstrategie verstanden werden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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