Das in internationaler Kooperation entstandene Handbuch rekonstruiert die Lebensgeschichten der am Eisernen Vorhang getöteten DDR-Bürger und ihre Beweggründe zur gefahrvollen Flucht in den Westen. Doch nicht nur Flüchtlinge fielen dem Eisernen Vorhang zum Opfer - auch Bundesbürger wurden erschossen oder erlitten tödliche Stromschläge an Grenzzäunen.Parallel zur Auswertung des deutschen Archivgutes und zur Befragung von Zeitzeugen sichteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Mittel- und Osteuropa in dortigen Archiven die Überlieferungen der Geheimdienste, Außenministerien und Grenztruppen zu den tödlichen Grenzzwischenfällen. Dadurch konnten die Schicksale von vielen bislang wenig beachteten Opfern des Eisernen Vorhangs in einer länderübergreifenden Darstellung rekonstruiert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Einen wichtigen "Beitrag zum Teilungsgedächtnis" leistet dieses von Jochen Staadt herausgegebene Buch zu den deutschen Todesopfern des Eisernen Vorhangs, hält Rezensent Marcus Heumann fest, ein ähnliches gibt es bereits zu den Mauertoten. Die Toten werden im Rückgriff auf Quellen beispielsweise aus Tschechien oder Ungarn einzeln porträtiert, auch über die entwürdigende Bürokratie, die auf einen Tod durch Ertrinken in der Donau oder durch Strom am Grenzzaun der CSSR folgt, kann Heumann einiges lernen. So wurde kaum eine Leiche rücküberführt, sondern stattdessen "im Grenzgebiet sofort verscharrt", erfahren wir. Eine wichtige Würdigung, schließt der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.06.2024Opfer, die es nicht geben durfte
Enzyklopädien halten den Wissensstand zum Zeitpunkt ihres Erscheinens fest - Wissen aber ist auf Zuwachs angelegt, so ist das biographische Handbuch der Todesopfer des Eisernen Vorhangs sinnvollerweise auch online abzurufen. Auf der Website des umfangreichen Projekts, das ein internationales Forscherteam erarbeitet hat, sind zusätzliche Informationen zu einzelnen Opfern und ergänzende Zeitzeugeninterviews zu finden.
Die staatlich geförderte Untersuchung besteht aus mehreren Teilen - darunter der von dem Historiker Jochen Staadt verantwortete Band, in dem die Schicksale von rund 100 Menschen versammelt sind, die den Eisernen Vorhang überwinden oder anderen zur Flucht verhelfen wollten und an den Grenzen fern der DDR getötet wurden, zufällig oder aus Leichtsinn in Grenznähe zu Tode kamen, fahnenflüchtig oder vermisst waren. Es werden Fluchtgeschichten nacherzählt, Todesfälle rekonstruiert oder auch falsifiziert und neu bewertet.
Die Lebensgeschichten erzählen - wenig überraschend - überwiegend von jungen Menschen, die den SED-Staat über die sozialistischen Staaten gen Westen verlassen wollten, wenige Frauen und Kinder darunter, vielfach gut ausgebildete DDR-Bürger. Viele von ihnen waren sich des Risikos der Flucht über unwegsames Gelände in Jugoslawien oder Bulgarien durchaus bewusst. Ein Paar aus Holzweißig starb im bulgarisch-griechischen Grenzgebiet, weil die Grenzpatrouille sie für Flüchtlinge hielt und das Feuer eröffnete. Insgesamt 140 Schüsse seien auf das Motorrad der beiden abgegeben worden - "etliche Kilometer von der eigentlichen Grenze entfernt". Die getötete junge Frau hätte ein Kind in der DDR zurückgelassen - ein als Zeitzeuge befragter Freund bezweifelt, dass sie wirklich über die Grenze nach Griechenland fliehen wollte.
Die besondere Perfidie der Machtapparate wird am Umgang mit den Hinterbliebenen deutlich: Sie kämpften oft monatelang nicht nur darum, vollständige Informationen über die Umstände des gewaltsamen Todes ihrer Familienangehörigen zu erhalten, sondern auch um die Herausgabe der sterblichen Überreste der Ermordeten und um das Recht, diese bestatten zu dürfen. Die staatlichen Instanzen spielten ihre Macht aus: Diese Toten durfte es offiziell nicht geben, folglich sollten sie und die Todesursachen verschwiegen werden. Auskünfte wurden verschleppt, Details unterschlagen und auf Eingaben zermürbend langsam reagiert. Die Familie der getöteten Heike Bischof erhielt nicht einmal die persönlichen Gegenstände ihrer an der tschechisch-bayerischen Grenze im Schneetreiben erfrorenen Tochter. Die Hinterlassenschaften der 22 Jahre alten Krankenschwester seien in der Gerichtsmedizin in Pilsen vernichtet worden, nachdem es nicht gelungen war, diese "annähernd in den ursprünglichen Zustand zu versetzen", wie aus dem Briefwechsel der Generalstaatsanwaltschaften der DDR und der CSSR hervorgeht. Die Mutter von Heike Bischof bezichtigte die Staatsorgane, einen "Kalten Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu führen". Aber auch Familien oder Freunde, die weniger impulsiv nachhakten, wurden schikaniert. In der Logik der Parteidiktatur sollten Fluchtversuche, wenn sie schon nicht verschwiegen werden konnten, eine abschreckende Wirkung entfalten und Nachahmer vor der strafbewehrten "Republikflucht" warnen.
In dem Band erhalten auch die staatlichen Instanzen ein Gesicht: So stehen neben den Lebens- und Fluchtgeschichten Kurzbiographien von "Verantwortungsträgern" aus dem Ministerium für Staatssicherheit und dem diplomatischen Dienst der DDR, die mit den Todesfällen befasst waren, allen voran Oberstleutnant Peter Pfütze und die Mitarbeiterin des DDR-Außenministeriums Ursula Gott. Auch ihre Geschichten illustrieren die Machtmechanismen im Kalten Krieg - so wie in den Band eingeflossene Quellenfunde aus den Außenministerien, den Staatssicherheitsbehörden, Staatsanwaltschaften und Standesämtern. Ebenso erschütternd wie die Umstände, unter denen Menschen in Ungarn, der Tschechoslowakei oder Jugoslawien ertranken, erschossen wurden oder sich das Leben nahmen, weil sie die Haftstrafen nicht länger ertragen konnten, sind die Verwaltungsvorgänge, die diese für die DDR heiklen Todesfälle auslösten. Die Autoren der Einzelbeiträge beschreiben, wie amtlicherseits verfahren wurde, um offizielle Stellen in der DDR zu informieren, die ihrerseits den Hinterbliebenen die Todesnachrichten zu überbringen hatten und dabei Morde der Grenztruppen zu vertuschen versuchten. Nicht alle Opfer hatten so prominente Fürsprecher wie Johann Dick, der 1986 auf der bayerischen Seite der Grenze erschossen worden war, weil tschechoslowakische Wachposten den westdeutschen Wanderer für einen polnischen Flüchtling gehalten hatten. Kein Geringerer als Hans-Dietrich Genscher forderte von seinem Prager Amtskollegen nicht nur Aufklärung, sondern ein Verbot des Schusswaffengebrauchs entlang der Grenze.
Das Handbuch ergänzt vorhandene Studien zu den Toten der deutsch-deutschen Grenze. Diese hatten in den vergangenen Jahren zum Teil unwürdige Kontroversen ausgelöst. Sie drehten sich um die Frage, wen der Begriff "Maueropfer" umfasst. Nicht alle an der Berliner Mauer, der innerdeutschen Grenze oder eben den Außengrenzen des sowjetischen Machtbereichs ums Leben gekommenen Menschen waren auf der Flucht vor Willkür und Unterdrückung - wie wird also gezählt? Sollen Angehörige des DDR-Grenzregimes, die im Dienst ihr Leben verloren haben, in eine Kategorie fallen mit jenen, die sie auf der Flucht erschossen haben? Was ist mit westdeutschen Fluchthelfern oder mit Opfern, die sich strafrechtlicher Verfolgung entziehen wollten, was mit Deserteuren? Zählen Suizide von Menschen, die gefasst wurden und sich im Gefängnis vor Verzweiflung das Leben nahmen, genauso zu den "Mauertoten" wie jene, die hinterrücks erschossen wurden oder auf den Grenzstreifen verbluteten, weil von westlicher Seite keine Hilfe geleistet wurde?
Insgesamt haben Jochen Staadt und seine Kollegen mit diesem Band mehr als ein Nachschlagewerk vorgelegt. Es ist auch ein Totenbuch, das Opfer des Kalten Krieges vor dem Vergessenwerden bewahrt und Menschen ehrt, die ihrer Würde beraubt wurden. JACQUELINE BOYSEN
Jochen Staadt (Hrsg.) unter Mitarbeit von Jan Kostka und Hannes Puchta: Die deutschen Todesopfer des Eisernen Vorhangs 1948-1989.
Mitteldeutscher Verlag, Halle a. d. Saale 2024. 504 S., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Enzyklopädien halten den Wissensstand zum Zeitpunkt ihres Erscheinens fest - Wissen aber ist auf Zuwachs angelegt, so ist das biographische Handbuch der Todesopfer des Eisernen Vorhangs sinnvollerweise auch online abzurufen. Auf der Website des umfangreichen Projekts, das ein internationales Forscherteam erarbeitet hat, sind zusätzliche Informationen zu einzelnen Opfern und ergänzende Zeitzeugeninterviews zu finden.
Die staatlich geförderte Untersuchung besteht aus mehreren Teilen - darunter der von dem Historiker Jochen Staadt verantwortete Band, in dem die Schicksale von rund 100 Menschen versammelt sind, die den Eisernen Vorhang überwinden oder anderen zur Flucht verhelfen wollten und an den Grenzen fern der DDR getötet wurden, zufällig oder aus Leichtsinn in Grenznähe zu Tode kamen, fahnenflüchtig oder vermisst waren. Es werden Fluchtgeschichten nacherzählt, Todesfälle rekonstruiert oder auch falsifiziert und neu bewertet.
Die Lebensgeschichten erzählen - wenig überraschend - überwiegend von jungen Menschen, die den SED-Staat über die sozialistischen Staaten gen Westen verlassen wollten, wenige Frauen und Kinder darunter, vielfach gut ausgebildete DDR-Bürger. Viele von ihnen waren sich des Risikos der Flucht über unwegsames Gelände in Jugoslawien oder Bulgarien durchaus bewusst. Ein Paar aus Holzweißig starb im bulgarisch-griechischen Grenzgebiet, weil die Grenzpatrouille sie für Flüchtlinge hielt und das Feuer eröffnete. Insgesamt 140 Schüsse seien auf das Motorrad der beiden abgegeben worden - "etliche Kilometer von der eigentlichen Grenze entfernt". Die getötete junge Frau hätte ein Kind in der DDR zurückgelassen - ein als Zeitzeuge befragter Freund bezweifelt, dass sie wirklich über die Grenze nach Griechenland fliehen wollte.
Die besondere Perfidie der Machtapparate wird am Umgang mit den Hinterbliebenen deutlich: Sie kämpften oft monatelang nicht nur darum, vollständige Informationen über die Umstände des gewaltsamen Todes ihrer Familienangehörigen zu erhalten, sondern auch um die Herausgabe der sterblichen Überreste der Ermordeten und um das Recht, diese bestatten zu dürfen. Die staatlichen Instanzen spielten ihre Macht aus: Diese Toten durfte es offiziell nicht geben, folglich sollten sie und die Todesursachen verschwiegen werden. Auskünfte wurden verschleppt, Details unterschlagen und auf Eingaben zermürbend langsam reagiert. Die Familie der getöteten Heike Bischof erhielt nicht einmal die persönlichen Gegenstände ihrer an der tschechisch-bayerischen Grenze im Schneetreiben erfrorenen Tochter. Die Hinterlassenschaften der 22 Jahre alten Krankenschwester seien in der Gerichtsmedizin in Pilsen vernichtet worden, nachdem es nicht gelungen war, diese "annähernd in den ursprünglichen Zustand zu versetzen", wie aus dem Briefwechsel der Generalstaatsanwaltschaften der DDR und der CSSR hervorgeht. Die Mutter von Heike Bischof bezichtigte die Staatsorgane, einen "Kalten Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu führen". Aber auch Familien oder Freunde, die weniger impulsiv nachhakten, wurden schikaniert. In der Logik der Parteidiktatur sollten Fluchtversuche, wenn sie schon nicht verschwiegen werden konnten, eine abschreckende Wirkung entfalten und Nachahmer vor der strafbewehrten "Republikflucht" warnen.
In dem Band erhalten auch die staatlichen Instanzen ein Gesicht: So stehen neben den Lebens- und Fluchtgeschichten Kurzbiographien von "Verantwortungsträgern" aus dem Ministerium für Staatssicherheit und dem diplomatischen Dienst der DDR, die mit den Todesfällen befasst waren, allen voran Oberstleutnant Peter Pfütze und die Mitarbeiterin des DDR-Außenministeriums Ursula Gott. Auch ihre Geschichten illustrieren die Machtmechanismen im Kalten Krieg - so wie in den Band eingeflossene Quellenfunde aus den Außenministerien, den Staatssicherheitsbehörden, Staatsanwaltschaften und Standesämtern. Ebenso erschütternd wie die Umstände, unter denen Menschen in Ungarn, der Tschechoslowakei oder Jugoslawien ertranken, erschossen wurden oder sich das Leben nahmen, weil sie die Haftstrafen nicht länger ertragen konnten, sind die Verwaltungsvorgänge, die diese für die DDR heiklen Todesfälle auslösten. Die Autoren der Einzelbeiträge beschreiben, wie amtlicherseits verfahren wurde, um offizielle Stellen in der DDR zu informieren, die ihrerseits den Hinterbliebenen die Todesnachrichten zu überbringen hatten und dabei Morde der Grenztruppen zu vertuschen versuchten. Nicht alle Opfer hatten so prominente Fürsprecher wie Johann Dick, der 1986 auf der bayerischen Seite der Grenze erschossen worden war, weil tschechoslowakische Wachposten den westdeutschen Wanderer für einen polnischen Flüchtling gehalten hatten. Kein Geringerer als Hans-Dietrich Genscher forderte von seinem Prager Amtskollegen nicht nur Aufklärung, sondern ein Verbot des Schusswaffengebrauchs entlang der Grenze.
Das Handbuch ergänzt vorhandene Studien zu den Toten der deutsch-deutschen Grenze. Diese hatten in den vergangenen Jahren zum Teil unwürdige Kontroversen ausgelöst. Sie drehten sich um die Frage, wen der Begriff "Maueropfer" umfasst. Nicht alle an der Berliner Mauer, der innerdeutschen Grenze oder eben den Außengrenzen des sowjetischen Machtbereichs ums Leben gekommenen Menschen waren auf der Flucht vor Willkür und Unterdrückung - wie wird also gezählt? Sollen Angehörige des DDR-Grenzregimes, die im Dienst ihr Leben verloren haben, in eine Kategorie fallen mit jenen, die sie auf der Flucht erschossen haben? Was ist mit westdeutschen Fluchthelfern oder mit Opfern, die sich strafrechtlicher Verfolgung entziehen wollten, was mit Deserteuren? Zählen Suizide von Menschen, die gefasst wurden und sich im Gefängnis vor Verzweiflung das Leben nahmen, genauso zu den "Mauertoten" wie jene, die hinterrücks erschossen wurden oder auf den Grenzstreifen verbluteten, weil von westlicher Seite keine Hilfe geleistet wurde?
Insgesamt haben Jochen Staadt und seine Kollegen mit diesem Band mehr als ein Nachschlagewerk vorgelegt. Es ist auch ein Totenbuch, das Opfer des Kalten Krieges vor dem Vergessenwerden bewahrt und Menschen ehrt, die ihrer Würde beraubt wurden. JACQUELINE BOYSEN
Jochen Staadt (Hrsg.) unter Mitarbeit von Jan Kostka und Hannes Puchta: Die deutschen Todesopfer des Eisernen Vorhangs 1948-1989.
Mitteldeutscher Verlag, Halle a. d. Saale 2024. 504 S., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.