Die Einstellung in der ostdeutschen und der westdeutschen Bevölkerung gegenüber der sowjetischen Führung war Ende der 1980er Jahre nicht mehr von Abneigung und Skepsis, sondern von Zuneigung und Wohlwollen geprägt; das traditionell enge Verhältnis zwischen Ost-Berlin und Moskau war zerrüttet, und die westdeutsch-sowjetischen Beziehungen florierten wie nie zuvor in der Geschichte. Dieser Wandlungsprozess steht im Mittelpunkt dieser Untersuchung, die aus der deutschen Perspektive erfolgt. Es handelt sich um eine doppelte, miteinander verflochtene Perzeptions- und Beziehungsgeschichte. Denn bei allen Unterschieden spielten die Verbindungen zwischen beiden Staaten und Gesellschaften in diesem Fall eine zentrale Rolle.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Jacqueline Boysen liest Hermann Wentkers Studie mit Gewinn, auch wenn der Band sie ob seiner Materialfülle und etwas spröden Aufmachung ohne Illustrationen zunächst etwas abschreckt. Nicht nur für Akademiker findet sie Wentkers multiperspektivischen Ansatz interessant, der offenbart, wie Gorbatschow im geteilten Deutschland von Politikern und in den Medien wahrgenommen wurde. Dass der Autor keine "steile These" formuliert, sondern akribisch Archive durchforstet und schlüssig strukturiert darstellt, um die Ansichten von Kohl, Krenz und anderen zu vermitteln, gefällt Boysen gut schon wegen der Revisionen, die der Autor damit anstößt. Zu lernen ist laut Boysen einiges über Prägungen in Ost und West, die Medien im Kalten Krieg und natürlich über Gorbis Tun und Lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2021Ideale Projektionsfläche
Wie die Deutschen in Ost und West zum sowjetischen Reformer Michail Gorbatschow standen
Michail Gorbatschow, Initiator von Glasnost und Perestrojka, wird in Deutschland als Held verehrt. Die Gorbimanie grassierte bereits vor dem Mauerfall - und danach waren ihm erst recht viele Menschen dankbar: Zwar blieb der sowjetische Partei- und Staatschef in eigener Sache glücklos, aber dass die Revolution in der DDR friedlich in die Vereinigung beider deutscher Staaten münden konnte - dafür gebührt ihm Dank.
Der mit 54 Jahren bei Amtsantritt jüngste Generalsekretär der KPdSU machte möglich, was in den 1980er Jahren den meisten undenkbar schien: die Überwindung der Teilung der Welt. Gorbatschow und sein Projekt des gemeinsamen Hauses Europa sind erforscht - nicht aber, wie der "Mann mit den vielen Gesichtern", als den Hermann Wentker ihn sieht, im geteilten Deutschland wahrgenommen wurde und welche Wirkung das oszillierende Bild entfaltete: "Gorbi" wurde zum Faktor in der Politik der DDR und der Bundesrepublik.
Die SED reagierte nicht nur verschreckt und ablehnend auf die Reformfreude des Generalsekretärs im großen Bruderland, sie verbreitete hilflos die Kunde, die von ihm angekündigten Neuerungen seien im Sozialismus der DDR längst verwirklicht. Das ZK, allen voran der "stalinistische" Erich Honecker, fürchtete angesichts der Annäherung der nicht mehr verlässlichen Schutzmacht an den Westen eine weitere Destabilisierung der DDR. Dazu hatte die SED allen Grund, zumal die DDR-Opposition Hoffnung schöpfte und sich ihrerseits offen auf den charismatischen Modernisierer aus der Sowjetunion berief.
Im Westen verwirrte der Nachfolger von Andropow und Tschernenko die meisten Kreml-Beobachter zunächst - schon dadurch, dass er ein "Neues Denken" und einseitige Abrüstung versprach. Willy Brandt erhoffte sich eine zweite Phase der Neuen Ostpolitik, die Grünen teilten die Erwartungen der Menschenrechtler im Osten, Hans-Dietrich Genscher fasste schneller als andere Vertrauen, das er allerdings vorsichtig in die Formel "Gorbatschow beim Wort nehmen" kleidete. Kontroverse Debatten kreisten um den sowjetischen Reformer, der Marion Gräfin Dönhoff bereits im Juni 1989 als der "erste wirkliche Staatsmann" seit Churchill erschien. Nicht nur in dieser Zeit herrschte die naive Hoffnung, dass Perestrojka und Glasnost der DDR eine Liberalisierung bescheren würden. Wentker subtil: "Andere Zeitungen lieferten präzisere Beobachtungen."
Eine zeittypische Form der politischen Analyse war die Kreml-Astrologie. Die Intensität, mit der Medien, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Diplomatie um valide Deutungen gerungen haben, lässt heutige Beobachtungen fast plump erscheinen. Selbst minimale Pendelausschläge zwischen Verschärfung und Lockerung der Machtinstrumente wurden damals genau vermessen - und führten auch innerhalb der politischen Lager zu Kontroversen. Kein Wunder, schließlich konnten zu Zeiten der Systemkonkurrenz und der atomaren Hochrüstung Fehlinterpretationen fatale Folgen nach sich ziehen.
Bevor Gorbatschow im Dezember 1989 beim Gipfeltreffen mit George H. W. Bush auf der Maxim Gorki den Kalten Krieg für beendet erklärte, saß die Welt auf einem Pulverfass. Michael Stürmer zeichnete in der F.A.Z. im Juni 1989 zwei Möglichkeiten auf: Wenn Gorbatschow reüssiere, werde die Sowjetunion mächtiger dastehen als je zuvor. Andernfalls könnten "Implosionen und Explosionen folgen, und dann wird es noch kälter". Obwohl die ideologische Spaltung das politische Klima bestimmte - in die Chiffre Gorbatschow konnte jeder hineinprojizieren, was gerade passte. Letztlich half das dem Friedensnobelpreisträger auf der Weltbühne, aber nicht in seinem eigenen auseinanderbrechenden Staat.
Hermann Wentker, der die Berliner Forschungsabteilung des Instituts für Zeitgeschichte leitet, erliegt nicht der Versuchung, eine steile These zu illustrieren. Vielmehr trägt er Material aus Memoiren, Archiven und der Forschung zusammen und untersucht es mit der originären Neugier des Wissenschaftlers. Er offenbart Ambivalenzen - etwa in der Haltung Helmut Kohls, der bekanntlich bis zur Strickjackendiplomatie einen langen Weg zurücklegte. Sein fataler Vergleich zwischen Gorbatschow und Goebbels, die Gleichsetzung des Gipfels von Reykjavik mit der Münchner Konferenz von 1938 lösten unbeabsichtigt eine Welle der Sympathie für Gorbatschow aus, der fortan einer breiten Öffentlichkeit als Friedensstifter vertraut war. Kohl habe so Gorbatschows Image nicht verdunkelt, sondern aufgehellt, konstatiert Wentker.
Seiner Darstellung fehlt es nicht an korrigierenden Hinweisen auf nachträgliche Selbststilisierungen - etwa im Fall von Egon Krenz. Der kurzzeitige Hoffnungsträger der SED beteuert in seinen Erinnerungen, dass er sich mit dem Neuen Denken Gorbatschows solidarisiert habe und Honeckers "eisige Ablehnung abzutauen" gedachte - ein infames nachträgliches Konstrukt. Wie die meisten Spitzengenossen verweigerte sich der Honecker-Nachfolger dem überfälligen Tapetenwechsel, etwa mit dem Versuch, die propagandistische Losung "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen" als "nicht mehr zeitgemäß" abzuqualifizieren.
Wentkers Untersuchung lehrt viel über unterschiedliche Prägungen in Ost und West, aber auch über die Rolle der Medien im Kalten Krieg. Die vielen zitierten Zeitungsartikel zeigen, wie tief die in der DDR akkreditierten West-Korrespondenten schürften. Sie berichteten für Medien in der Bundesrepublik - ihre Artikel aber schwappten in die DDR zurück. Wie die Radio- und Fernsehberichte der öffentlich-rechtlichen West-Sender bildeten sie dort ein vertrauenswürdiges Gegengewicht zu den Lügenmärchen der agitatorischen Parteipresse.
Die ordnende Hand des Autors macht die aufgetürmte Materialfülle auf elegante Weise zugänglich. Wentker strukturiert schlüssig, indem er Michail Gorbatschows Handeln als Auftakt nimmt, dann in einen Spagat geht und die Reaktionen in beiden deutschen Staaten in Presse, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik - der Parteien, der Regierenden und im Fall der DDR auch des MfS - gesondert beschreibt und abschließend eine Art Pirouette um seine Analysen dreht. Es braucht den theoretischen Begriff der Verflechtungsgeschichte nicht, um den Mehrwert dieser multiperspektivischen Darstellung der Perzeption Gorbatschows zu würdigen.
Auch wenn die stolzen 660 Seiten ohne Bebilderung oder Zeitleiste erst einmal erschrecken - jedes einzelne Kapitel, aber vor allem die Gesamtschau ist nicht nur für akademische oder russophile, sondern für alle an der deutsch-deutschen Geschichte interessierten Leser ein echter Gewinn. Aus einer so fundierten Parallelbetrachtung der Ost- und Westsicht kann ein gesamtdeutsches Geschichtsbewusstsein erwachsen. Wentkers Studie deckt jedenfalls implizit auch auf, warum wir davon noch so weit entfernt sind.
JACQUELINE BOYSEN
Hermann Wentker: Die Deutschen und Gorbatschow. Der Gorbatschow-Diskurs im doppelten Deutschland 1985-1991.
Metropol Verlag, Berlin 2020. 670 S., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie die Deutschen in Ost und West zum sowjetischen Reformer Michail Gorbatschow standen
Michail Gorbatschow, Initiator von Glasnost und Perestrojka, wird in Deutschland als Held verehrt. Die Gorbimanie grassierte bereits vor dem Mauerfall - und danach waren ihm erst recht viele Menschen dankbar: Zwar blieb der sowjetische Partei- und Staatschef in eigener Sache glücklos, aber dass die Revolution in der DDR friedlich in die Vereinigung beider deutscher Staaten münden konnte - dafür gebührt ihm Dank.
Der mit 54 Jahren bei Amtsantritt jüngste Generalsekretär der KPdSU machte möglich, was in den 1980er Jahren den meisten undenkbar schien: die Überwindung der Teilung der Welt. Gorbatschow und sein Projekt des gemeinsamen Hauses Europa sind erforscht - nicht aber, wie der "Mann mit den vielen Gesichtern", als den Hermann Wentker ihn sieht, im geteilten Deutschland wahrgenommen wurde und welche Wirkung das oszillierende Bild entfaltete: "Gorbi" wurde zum Faktor in der Politik der DDR und der Bundesrepublik.
Die SED reagierte nicht nur verschreckt und ablehnend auf die Reformfreude des Generalsekretärs im großen Bruderland, sie verbreitete hilflos die Kunde, die von ihm angekündigten Neuerungen seien im Sozialismus der DDR längst verwirklicht. Das ZK, allen voran der "stalinistische" Erich Honecker, fürchtete angesichts der Annäherung der nicht mehr verlässlichen Schutzmacht an den Westen eine weitere Destabilisierung der DDR. Dazu hatte die SED allen Grund, zumal die DDR-Opposition Hoffnung schöpfte und sich ihrerseits offen auf den charismatischen Modernisierer aus der Sowjetunion berief.
Im Westen verwirrte der Nachfolger von Andropow und Tschernenko die meisten Kreml-Beobachter zunächst - schon dadurch, dass er ein "Neues Denken" und einseitige Abrüstung versprach. Willy Brandt erhoffte sich eine zweite Phase der Neuen Ostpolitik, die Grünen teilten die Erwartungen der Menschenrechtler im Osten, Hans-Dietrich Genscher fasste schneller als andere Vertrauen, das er allerdings vorsichtig in die Formel "Gorbatschow beim Wort nehmen" kleidete. Kontroverse Debatten kreisten um den sowjetischen Reformer, der Marion Gräfin Dönhoff bereits im Juni 1989 als der "erste wirkliche Staatsmann" seit Churchill erschien. Nicht nur in dieser Zeit herrschte die naive Hoffnung, dass Perestrojka und Glasnost der DDR eine Liberalisierung bescheren würden. Wentker subtil: "Andere Zeitungen lieferten präzisere Beobachtungen."
Eine zeittypische Form der politischen Analyse war die Kreml-Astrologie. Die Intensität, mit der Medien, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Diplomatie um valide Deutungen gerungen haben, lässt heutige Beobachtungen fast plump erscheinen. Selbst minimale Pendelausschläge zwischen Verschärfung und Lockerung der Machtinstrumente wurden damals genau vermessen - und führten auch innerhalb der politischen Lager zu Kontroversen. Kein Wunder, schließlich konnten zu Zeiten der Systemkonkurrenz und der atomaren Hochrüstung Fehlinterpretationen fatale Folgen nach sich ziehen.
Bevor Gorbatschow im Dezember 1989 beim Gipfeltreffen mit George H. W. Bush auf der Maxim Gorki den Kalten Krieg für beendet erklärte, saß die Welt auf einem Pulverfass. Michael Stürmer zeichnete in der F.A.Z. im Juni 1989 zwei Möglichkeiten auf: Wenn Gorbatschow reüssiere, werde die Sowjetunion mächtiger dastehen als je zuvor. Andernfalls könnten "Implosionen und Explosionen folgen, und dann wird es noch kälter". Obwohl die ideologische Spaltung das politische Klima bestimmte - in die Chiffre Gorbatschow konnte jeder hineinprojizieren, was gerade passte. Letztlich half das dem Friedensnobelpreisträger auf der Weltbühne, aber nicht in seinem eigenen auseinanderbrechenden Staat.
Hermann Wentker, der die Berliner Forschungsabteilung des Instituts für Zeitgeschichte leitet, erliegt nicht der Versuchung, eine steile These zu illustrieren. Vielmehr trägt er Material aus Memoiren, Archiven und der Forschung zusammen und untersucht es mit der originären Neugier des Wissenschaftlers. Er offenbart Ambivalenzen - etwa in der Haltung Helmut Kohls, der bekanntlich bis zur Strickjackendiplomatie einen langen Weg zurücklegte. Sein fataler Vergleich zwischen Gorbatschow und Goebbels, die Gleichsetzung des Gipfels von Reykjavik mit der Münchner Konferenz von 1938 lösten unbeabsichtigt eine Welle der Sympathie für Gorbatschow aus, der fortan einer breiten Öffentlichkeit als Friedensstifter vertraut war. Kohl habe so Gorbatschows Image nicht verdunkelt, sondern aufgehellt, konstatiert Wentker.
Seiner Darstellung fehlt es nicht an korrigierenden Hinweisen auf nachträgliche Selbststilisierungen - etwa im Fall von Egon Krenz. Der kurzzeitige Hoffnungsträger der SED beteuert in seinen Erinnerungen, dass er sich mit dem Neuen Denken Gorbatschows solidarisiert habe und Honeckers "eisige Ablehnung abzutauen" gedachte - ein infames nachträgliches Konstrukt. Wie die meisten Spitzengenossen verweigerte sich der Honecker-Nachfolger dem überfälligen Tapetenwechsel, etwa mit dem Versuch, die propagandistische Losung "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen" als "nicht mehr zeitgemäß" abzuqualifizieren.
Wentkers Untersuchung lehrt viel über unterschiedliche Prägungen in Ost und West, aber auch über die Rolle der Medien im Kalten Krieg. Die vielen zitierten Zeitungsartikel zeigen, wie tief die in der DDR akkreditierten West-Korrespondenten schürften. Sie berichteten für Medien in der Bundesrepublik - ihre Artikel aber schwappten in die DDR zurück. Wie die Radio- und Fernsehberichte der öffentlich-rechtlichen West-Sender bildeten sie dort ein vertrauenswürdiges Gegengewicht zu den Lügenmärchen der agitatorischen Parteipresse.
Die ordnende Hand des Autors macht die aufgetürmte Materialfülle auf elegante Weise zugänglich. Wentker strukturiert schlüssig, indem er Michail Gorbatschows Handeln als Auftakt nimmt, dann in einen Spagat geht und die Reaktionen in beiden deutschen Staaten in Presse, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik - der Parteien, der Regierenden und im Fall der DDR auch des MfS - gesondert beschreibt und abschließend eine Art Pirouette um seine Analysen dreht. Es braucht den theoretischen Begriff der Verflechtungsgeschichte nicht, um den Mehrwert dieser multiperspektivischen Darstellung der Perzeption Gorbatschows zu würdigen.
Auch wenn die stolzen 660 Seiten ohne Bebilderung oder Zeitleiste erst einmal erschrecken - jedes einzelne Kapitel, aber vor allem die Gesamtschau ist nicht nur für akademische oder russophile, sondern für alle an der deutsch-deutschen Geschichte interessierten Leser ein echter Gewinn. Aus einer so fundierten Parallelbetrachtung der Ost- und Westsicht kann ein gesamtdeutsches Geschichtsbewusstsein erwachsen. Wentkers Studie deckt jedenfalls implizit auch auf, warum wir davon noch so weit entfernt sind.
JACQUELINE BOYSEN
Hermann Wentker: Die Deutschen und Gorbatschow. Der Gorbatschow-Diskurs im doppelten Deutschland 1985-1991.
Metropol Verlag, Berlin 2020. 670 S., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main