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Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin Stopja Michailow ist ein Glückskind und als mehrfacher Bankengründer ein gemachter Mann. Sein enormer Erfolg in Spekulationsdingen speist sich aber nicht etwa aus der gründlichen Kenntnis ökonomischer Vorgänge. Stopja ist vielmehr ein Meister der Zahlenmystik, er hat zudem ein sicheres Händchen in der Auswahl seiner tschetschenischen Leibwächter, und: Er hört auf den Rat seines Gurus, der ebenso bewandert ist in den neuesten buddhistischen Strömungen wie in den Vertriebsstrategien von Manga-Pornos. Die 34 ist Stopja als…mehr

Produktbeschreibung
Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin
Stopja Michailow ist ein Glückskind und als mehrfacher Bankengründer ein gemachter Mann. Sein enormer Erfolg in Spekulationsdingen speist sich aber nicht etwa aus der gründlichen Kenntnis ökonomischer Vorgänge. Stopja ist vielmehr ein Meister der Zahlenmystik, er hat zudem ein sicheres Händchen in der Auswahl seiner tschetschenischen Leibwächter, und: Er hört auf den Rat seines Gurus, der ebenso bewandert ist in den neuesten buddhistischen Strömungen wie in den Vertriebsstrategien von Manga-Pornos. Die 34 ist Stopja als Glückszahl verheißen, mit 43 aber soll ihn das Unglück ereilen, und das kommt prompt in Gestalt des plötzlichen Konkurrenten Srakandajew. Doch weil ein echter Kapitalist so schnell nicht aufgibt, steuert alles auf den großen Showdown zu. Mit überraschendem Ausgang ... Pelewin ist der Chronist der russischen Gegenwart - und so, wie er in Generation P der Breschnew-Zeit ein »böse glänzendes Stück Literatur« (NZZ) abgewann, bekommt in seinem neuen Roman die Ära Putin die ihr gemäße Form: Aus dem Chaos der russischen Variante des Kapitalismus, aus der Behäbigkeit mafioser Strukturen, aus den Perversionen der Macht braut Pelewin ein wahnwitziges Schauermärchen - die abgründige Phantasmagorie einer Übergangsperiode, die sich weigert aufzuhören.
Autorenporträt
Viktor Pelewin, geboren 1962, ist der meistgelesene Autor Russlands und hat vor allem bei jungen Lesern längst "Kultstatus". Seit Erscheinen der Romane "Omon hinterm Mond" (1992, dt. 1994), "Das Leben der Insekten" (1993, dt. 1997) und "Buddhas kleiner Finger" (1996, dt. 1999) gilt er auch international als einer der interessantesten Autoren seiner Generation. The New Yorker nahm ihn 1999 in die Liste der "besten europäischen Erzähler unter 35" auf. Viktor Pelewin lebt in Moskau.
Rezensionen
"Viktor Pelewin ist ein brillanter Autor. Die sprachliche und gedankliche Virtuosität macht diesen Roman zu einer schaurigen Chronik seiner Zeit, in Form einer horrend komischen Parodie auf die 'Bananenrepublik des Bösen', das neue zerbröckelnde Russland. ... ein böse glänzendes Stück Literatur".
(Neue Zürcher Zeitung zu "Generation P")

"Sein Schreiben speist sich aus einer großen, nicht-realistischen russischen Tradition - der grotesk-phantastischen Literatur. ... Mit Generation P löst sich Pelewin aus dem Schatten Bulgakows."
(Literaturen zu "Generation P")

"Eine grandiose Mischung aus Pulp Fiction und Revolutionsoperette, Haiku-Poesie und höherem Nonsens."
(Tagesanzeiger zu "Generation P")

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.2004

Ganz unten
Heimschläfer auf Höllenfahrt: Die Belletristik in diesem Herbst

Kurz und Gut steht jeden Morgen an der Ecke und erzählt. Man nennt ihn Kurz und Gut, weil er, ständig hustend und lungenkrank, nicht mehr ausreichend Luft für eine ausführliche Erzählung hat. "Also kurz und gut, sagte er dann: Viele kurze Geschichten ergeben auch eine lange, ist vielleicht auch interessanter." So rezitiert er wörtlich den Beginn von Dostojewskis "Idiot" und erzählt dann, kurz und gut, dessen Quintessenz in einem einzigen Satz. Dieser Kurz und Gut ist nur eine der unvergeßlichen Figuren in Dieter Fortes neuem Roman "Auf der anderen Seite der Welt" (S. Fischer), eine Gestalt wie ein orientalischer Geschichtenerzähler, der sich ins Nachkriegs-Düsseldorf verirrt hat. Wie alle diese Figuren ist er ein Führer in die Unterwelt. Zu Beginn des Romans reist der Erzähler, das Kind aus Fortes autobiographischer Trilogie "Das Haus auf meinen Schultern", ans Meer, in ein Lungensanatorium, eine Hadesfahrt ohne Wiederkehr. Fortes Buch ist eines der düstersten dieses Herbstes und zugleich eines der reichsten, eine postapokalyptische Version des "Zauberbergs", die die "Stunde Null" nicht als Tor zu hellen Wirtschaftswundertagen versteht, sondern als schwarzes Loch, das Vergangenheit wie Zukunft in seinen Sog reißt.

Höllenwanderungen, Schattenreiche, Grubenfahrten in die Stollen der Erinnerung - in diesem Herbst, in dem die Deutschen im Kino mit dem Führerbunker das dunkelste Verlies ihrer Geschichte betreten, ist auch die Belletristik voller Abstiege ins Inferno, allerorten Erkundungen dunkler Geschichtsflecken. Es ist kein Zufall, daß eine der interessantesten literaturwissenschaftlichen Neuerscheinungen, "Höllenfahrten" von Isabel Platthaus (Wilhelm Fink), die "Unterwelten der Moderne" von Joyce bis Pynchon ausmißt. Der Abstieg in die Unterwelt ist stets auch ein Blick in die Tiefe der eigenen Seele und die Untiefen der Vergangenheit.

"Da geht's gleich richtig in den Schacht", nennt das Lutz Schaper, eine der Hauptfiguren in Antje Rávic Strubels Roman "Tupolew 134", der auf einem authentischen Fall beruht: 1978 entführten zwei DDR-Bürger eine polnische Linienmaschine auf dem Rückflug nach Schönefeld und zwangen sie zur Landung in Tegel. Wie Strubel die bleierne Atmosphäre jener Jahre sinnlich heraufbeschwört und zugleich die Unmöglichkeit einer authentischen Rekonstruktion der Vergangenheit demonstriert, ist virtuos. Der "Schacht" wird dabei zur zentralen Metapher der Erinnerung, immer wieder geht es nach "ganz unten", wo die Grenzen der Dinge und alle Gewißheiten verschwimmen.

Nicht nur für DDR-Bürger war West-Berlin ein Sehnsuchtsort. Auch mancher bundesrepublikanischer Wehrpflichtiger entzog sich so der Einberufung. Der zweite Roman von Sven Regener "Neue Vahr Süd" (Eichborn) liefert die Vorgeschichte seines Herrn Lehmann nach, der in den frühen Achtzigern nahe bei Bremen zum Bund muß. "Die ihr antretet, laßt alle Hoffnung fahren" könnte hier über dem Kasernentor stehen. Regener liefert die burleske Variante der Höllenfahrt, die immer pünktlich am Wochenende unterbrochen wird. Doch als Heimschläfer kann er nicht sicher sein, ob seine versifftes WG-Zimmer nicht in Wahrheit der allerunterste Kreis der Hölle ist.

Das gleiche gilt für jenen diabolischen Sexclub namens "Klapsmühle", den Abel Nema in Terézia Moras erstem Roman "Alle Tage" (Luchterhand) betritt und nur nackt und zerschunden wieder verläßt. Schlagender als durch Moras grandioses Panorama unserer Epoche der Fluchten und Vertreibungen mit seiner Vielzahl faszinierender Figuren und Geschichten läßt sich das Motto von Kurz und Gut nicht beweisen. Eine ähnliche Stoffülle bietet Thomas Brussig in "Wie es leuchtet" (S. Fischer) auf. Doch der vermeintlich ultimative Wenderoman demonstriert, daß allein die Addition von Episoden noch lange kein Zeitpanorama macht.

Die "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss ging ja aus dem Plan hervor, Dantes "Commedia" für das zwanzigste Jahrhundert zu schreiben. Der dunkelste Schreckensort war hier Plötzensee, die Schlachtstätte der Hitler-Attentäter. F. C. Delius erinnert in "Mein Jahr als Mörder" (Rowohlt Berlin) an das Schicksal des Widerständlers Georg Groscurth, der im Mai 1944 mit dem Fallbeil hingerichtet wurde und dessen Sohn ein Kindheitsfreund des Autors war. Als 1968 der NS-Richter freigesprochen wird, faßt der Erzähler den Entschluß zur Selbstjustiz. An '68 arbeiten sich gleich mehrere Generationen ab: Gerhard Seyfried, Jahrgang 1948, stellt sich noch einmal unter den "Schwarzen Stern der Tupamaros" (Eichborn), Sophie Dannenberg, geboren 1971, klagt im Namen der unter Spätfolgen leidenden Kinder "Das bleiche Herz der Revolution" an (DVA), und Peter Rühmkorf (1929) veröffentlicht seine Tagebücher 1971/72 (Rowohlt).

Wer hierzulande familiengeschichtliche Grabungen anstellt, stößt irgendwann immer auf eine Kammer des Schreckens. Martin Pollack forscht seinem Vater nach, einem später wohl von Partisanen 1947 ermordeten SS-Offizier und Kriegsverbrecher ("Der Tote im Bunker", Zsolnay). Jakob Hein dagegen erinnert sich anrührend an seine verstorbene Mutter und erkundet dabei die jüdischen Wurzeln der Familie im Dritten Reich ("Vielleicht ist es sogar schön", Piper). Auch einige der wichtigsten Übersetzungen sind Familienromane, doch wer hier angesichts der Titel Erbaulicheres erwartet, täuscht sich: Über der "Liebe" in Toni Morissons gleichnamigem Roman (Rowohlt) scheint ein Fluch zu liegen; in Amoz Oz' gewaltiger "Geschichte von Liebe und Finsternis" (Suhrkamp) droht den knapp den europäischen Schrecken entronnenen Juden in Palästina erneut die Vernichtung. Daß der Amerikaner Denis Johnson nicht allzu optimistisch in die Welt blickt, ist aus seiner Novelle "Train Dreams" (Mare) in aller Konzentration abermals zu erfahren. Endlich übersetzt wurde "Der Besen im System", der hintersinnig-irrsinnige Debütroman des genialischen David Foster Wallace (Kiepenheuer & Witsch). Im Osten Europas taugt der Fortschritt schon lange nur noch als Groteskenstoff. Der Tscheche Péter Zilahy blickt in seinem verspielten "Revolutions-Alphabet" "Die letzte Fenstergiraffe" (Eichborn) mit Kinderblick auf das ehemalige Jugoslawien. Viktor Pelewin stellt in "Die Dialektik der Übergangsepoche von Nirgendwoher nach Nirgendwohin" (Luchterhand) den ganzen postkommunistischen Aberwitz Rußlands bloß. "Das jetzige System nannte sich Fortschritt, drehte sich aber Schritt für Schritt nur im Kreis, was natürlich keiner bemerkte, es ging ja immer so schön geradeaus", so heißt es bei Forte.

Nicht nur die deutsche Literatur also hat jeden Glauben an Fortschritt und Vervollkommnung längst aufgegeben. Das bevorstehende Schiller-Jahr dürfte spannend werden: Zwar ist Schiller ja selbst vor allem in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung" der schärfste Fortschrittskritiker gewesen, hatte aber doch mit allem Pathos die Kunst als Remedium inthronisiert. Vielleicht ist ja der "ästhetische Zustand", als Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft, gar nicht so weit weg von Pelewins buddhistischer Weltentrücktheit. Neben neuen Werkausgaben erscheinen zwei Biographien: Während Sigrid Damm (Insel) eher das Private erkundet, nimmt Rüdiger Safranski (Hanser) eine ambitionierte Rekonstruktion des Schillerschen Idealismus vor.

Und wo versteckt sich in der Gegenwart das Positive? Natürlich in der literarischen Form - und in der Liebe, die ja auch nur eine Funktion der Sprache ist. Marion Poschmanns Buch "Grund zu Schafen" (Frankfurter Verlagsanstalt) ist einer der wichtigsten Gedichtbände der letzten Zeit und markiert die Rückkehr einer Naturlyrik auf höchstem Sprach- und Reflexionsniveau. Diese in wunderbaren, manchmal zunächst dunklen, dann blitzartig klaren Sprachbildern eingefangene Natur erobert sich auch hier die resignierende industrielle Zivilisation zurück. Und wo die Biologie kein Rätsel mehr offenläßt, muß die Sprache die Welt ins Wundersame und Märchenhafte überführen.

Ein Programm, das auch die große Naturerzählerin Brigitte Kronauer unterschreiben würde. Sie hat mit "Verlangen nach Musik und Gebirge" (Klett-Cotta) einen ausgelassenen, entrückten Liebesverwirrungsroman geschrieben. Wie bei Forte beginnt das Buch mit einer seltsamen Reise ans Meer, nach Oostende. Und wenn man diese beiden Zugfahrten nacheinander liest, dann hat man fast schon das ganze Spektrum dieses Herbstes aufgefächert.

RICHARD KÄMMERLINGS

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Viktor Pelewin setzt auf sein bewährtes Rezept: die groteske Wirklichkeit Russlands wird in nicht weniger groteske Sätze gebracht, die mal lakonisch, mal geschwätzig, oft zynisch den "Homo sapiens postsovieticus" in seinen moralischen oder vielmehr amoralischen Verstrickungen vorführen, erläutert Rezensent Uwe Stolzmann. Geld und die Regeln des neurussischen Marktes spielen dabei natürlich eine Hauptrolle, weshalb die Hauptfigur von Pelewins neuem Roman gleich eine Bank gründet, was ihm ein kompliziertes Leben zwischen Geheimdienst, Mafia und dem brutalen Kapitalismus stalinistischer Prägung beschert, soweit Stolzmanns Zusammenfassung des Romangeschehens. Der Rezensent kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass Pelewin sich selbst kopiere: Er schreibe eigentlich nur an einer Neuauflage seines erfolgreichen Buchs "Generation P", wobei auch "Die Dialektik der Übergangsperiode," gesteht Stolzmann, gelegentlich zu Hochform aufläuft und "skurrile Metaphern von hoher Treffsicherheit" produziert. Vermutlich ist die Selbstkopie Pelewins auch nur ein Trick, witzelt Stolzmann, denn was bedeuteten schon Urheberrechte in Moskau? Vielleicht sei "Die Dialektik der Übergangsphase" eine einzige große Metapher auf das neue Russland - in Stolzmanns Augen allerdings "etwas blass" geraten.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.11.2004

Hart. Nüchtern. Obszön.
Aber zu spät: Pelewins „Dialektik der Übergangsperiode”
Barbie verschwindet sanft wie ein Nebelhauch, leise schmatzend aufgesaugt von einer Art silbernem Urinal. Desdemona verwandelt sich in eine Knute, knallt einmal kräftig und ist hinüber. Mutter Heimat wird zur Stichflamme, Montigomo zu regenbogenschillernden Dampffontänen. Der Musterschüler versucht noch, sich die Brille vom Gesicht zu reißen, bevor er abtritt, und entdeckt auf dem silbernen Apparat ein Logo: „Globo - Schöner sterben”. Aber da ist es schon zu spät. Eine Steinwüste tut sich auf, vom Himmel leuchten Funkengarben wie aus einer Wunde. Und über das wüste Land zieht ein menschlicher Klagelaut wie ein Beben. Man muss diese personalintensive Endzeit-Kleinkunst nicht bis ins Detail verstehen, man muss sie eigentlich gar nicht verstehen, um zu begreifen, dass der russische Schriftsteller Viktor Pelewin in seinem Buch „Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin” wieder da angekommen ist, wo er sich am wohlsten fühlt: Dazwischen.
Gib mir eine Zahl
„Focus-Group” heißt die Geschichte, in der ein Silberurinal die Figuren in ein konsumistisches Nirwana befördert, „zum Ursprung jenes Glücks”, von dem sie „beim Verbrauch eines jeden Produktes einen schwachen Abglanz empfunden” haben: Viele Wege führen ins Shopping-Paradies, und Pelewin, Russlands Reiseführer für metaphysische Road Movies, kennt sie alle. Vor ein paar Jahren trug ihm dieses Talent den Ruf eines postkommunistischen Gurus ein. In seinem Roman „Generation P” hatte Pelewin die spätjelzinistischen Wirren am Beispiel der Höllenfahrt des Poeten und Werbetexters Babilen Tatarski erklärt, und Russland las seinen Text wie eine Offenbarung. Dass er für die nächsten paar Jahre verstummte und nur gelegentlich e-mails aus der Inneren Mongolei sandte, begriffen nur wenige als Schaffenskrise. Bei den meisten steigerte es die Verehrung zur Verzückung. Überhaupt gehört es zu den Ironien der Literaturgeschichte, dass Russland gerade dem hellsichtigsten Analytiker des Postkommunismus eine universelle Deutungsmacht zusprach, wie man sie aus der Ära des sowjetischen Literaturbetriebes und der überlebensgroßen Dissidentengestalten kennt.
Insofern mag es eine Rolle gespielt haben, dass die fruchtbare Verwirrung inzwischen abgeebbt ist wie ein menschlicher Klagelaut und den Blick freigegeben hat auf eine erstarrende großrussische Steinwüste. Jedenfalls wurde Pelewins neues Werk verhalten aufgenommen, ja, enttäuscht. Nicht allein, weil der Untertitel „Roman” eine sehr großzügige Umschreibung für diese Sammlung sehr heterogener Stücke ist, darunter das Gedicht „Elegie 2”, das Protokoll eines Verkaufsgesprächs auf einer japanischen Pornowebseite sowie eine Horrorgeschichte, in der ein neurussischer Psychopath seine Opfer mit französischem Poststrukturalismus in fast Poe’scher Detailfreude foltert. Sie alle aber sind nur Dekoration für den 260 Seiten langen Quasi-Roman „Die Zahlen”, die Geschichte des bleichen, dicken Aufsteigers Stepan. Dieser ist Gründer und Besitzer einer Bank und liefert Pelewin damit vor allem einen Vorwand, um nicht nur die Protagonisten früherer Romane, sondern auch das obligatorische Defilee zeitgenössischer Freaks abzuschreiten: Oligarchen und kremltreue Jugendliche tauchen auf, ein windiger Spindoctor, exzentrische Schauspieler, allmächtige Geheimdienstler sowie Issa und Mussa von der Tschetschenen-Mafia. Gerade die beiden bis zu Karikatur mordlüsternen Finsterlinge aber beweisen, dass Pelewin längst der Zeit hinterher schreibt. Dass er der Tschetschenen-Mafia 1999 in „Generation P” eine Verbindung zu Osama bin Laden andichtete, wirkt im Rückblick gespenstisch prophetisch. In seinem jüngsten Werk aber funktioniert die Anspielung nicht mal mehr als Selbstzitat. „Schriftsteller sind Boten der Ewigkeit, Geiseln der Zeit”, zitiert Pelewin Pasternak. Und in Russland litten sie am Stockholm-Syndrom: Sie verlieben sich in ihren Entführer. Pelewin aber, so die Diagnose, ist derzeit unglücklich verliebt.
Manchmal blitzt noch das Gespür für die beiläufigen Ungeheuerlichkeiten des russischen Alltags auf, in der Parodie einer Fernsehdebatte oder in der Beschreibung des postmodernen Literaturbetriebes: „Fündig wurde Stepan zuletzt in einer Zeitschrift mit dem Titel Hart. Nüchtern. Obszön, kurz: HNO. Laut Editorial war dies das Organ der sogenannten Lingualnudisten, welche das heuchlerische Feigenblatt vor dem herrlich-animalischen Sprachleib des Russischen nicht duldeten”, was Andreas Tretner wie immer mit viel Sinn fürs Durchgeknallte übersetzt. Aber das sind Ausnahmen.
Pelewin muss geahnt haben, dass ihn seine seherischen Kräfte verlassen, denn er stattet seinen Helden mit einem Spleen aus, der dem Werk geben soll, was die besten seiner Bücher nie brauchten: Eine innere Logik, einen Motor. Stepan ist ein Zahlenmystiker, und seine Ziffer ist die 34. Sie entscheidet über Liebe, Business und Tod, sie treibt ihn an, sie ist seine Religion. Selbstversunken wie ein Kind spielt Pelewin dieses Motiv durch, stellt Stepan einen T-34-Panzer vor die Villa, schenkt ihm eine nicht nur Pokemon-, sondern auch zahlenfixierte Freundin, mit der Stepan sich im Liebesspiel zu einer stilisierten 34 verbiegt. Seinen Konkurrenten, den Bankier Firkin, beseitigt Stepan, weil dieser eine todbringende Zahl verkörpert, und weil er nie sicher sein kann, ob Gabeln als glücksverheißende 34 (drei Zwischenräume, vier Zinken) oder als verhängnisvolle 43 (vier Zinken, drei Zwischenräume) zu deuten sind, isst er nur noch mit Stäbchen.
Im Vakuum gescheitert
Dass dieses Kinderspiel wie jedes andere bald schmerzhaft öde wird, ist aber nur ein Makel. Ausgerechnet der Zyniker Pelewin versinkt so wohlig in Esoterikkitsch wie ein Stadtteilkurs beim Fern-Reiki, und spätestens wenn Stepan eine „Kraft” fühlt, „die ihn für einen Augenblick aus dem Meer des Bösen auftauchen ließ, um das Licht der Wahrheit zu sehen”, wird einem schwarz vor Augen.
Pelewin ist also gescheitert, aber deshalb ist die Lektüre noch lange nicht umsonst. Es ist nämlich höchst aufschlussreich, dass hier ein prominenter russicher Literat erneut ein Welterklärungsmodell versucht, eine schlüssige Deutung des Woher und Wohin. Wladimir Sorokin ordnete in seiner „Eis”-Trilogie, deren zweiter Band soeben auf Russisch erschienen ist, den Lauf der Zeiten nach dem Dogma einer elitären Sekte. Pelewin bemüht die Zahlen. Noch scheint das hermeneutische Vakuum nach dem Ende des Kommunismus nicht gefüllt. Das lässt hoffen.
SONJA ZEKRI
VIKTOR PELEWIN: Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Luchterhand Verlag, München 2004. 352 Seiten, 22,50 Euro.
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