Der irisch-amerikanische Autor Fitz-James O’Brien ist hierzulande fast unbekannt, obwohl er in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinen Erzählungen in den USA großen Erfolg hatte. Auch die drei Geschichten in der Steidl Nocturnes Reihe sind meines Wissens nach bisher nicht auf Deutsch erschienen,
gehören aber zum Einflussreichsten, was O’Brien geschrieben hat. Stilistisch gehört er zur…mehrDer irisch-amerikanische Autor Fitz-James O’Brien ist hierzulande fast unbekannt, obwohl er in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinen Erzählungen in den USA großen Erfolg hatte. Auch die drei Geschichten in der Steidl Nocturnes Reihe sind meines Wissens nach bisher nicht auf Deutsch erschienen, gehören aber zum Einflussreichsten, was O’Brien geschrieben hat. Stilistisch gehört er zur phantastischen Literatur, mit Anklängen an den englischen Gothic Horror und frühen Elementen des Science-Fiction-Genres. Er wurde gerne mit Edgar Alan Poe verglichen, aber dessen Bedeutung erreicht er dann doch nicht ganz, war Poe doch ein Meister der kurzen Schlusspointe, die bei O’Brien generell etwas zu lang gerät.
Der Band enthält „Die Diamantlinse“, „Von Hand zu Mund“ und „Das entschwundene Zimmer“, drei Geschichten mit völlig unterschiedlichen Erzählweisen und vielen phantasievollen Einfällen, die oft an Motive von deutlich später entstandenen Erfolgsromanen erinnern. So ließ die kreative, surreale Umgebung in „Von Hand zu Mund“ mich sofort an das Jahre später erschienene „Alice im Wunderland“ denken, wo bedrohliche Situationen ebenfalls durch verspielte Ideen und entwaffnende Selbstironie gebrochen werden. Überhaupt ist O’Brien ein Meister der Selbstironie, was der Leser besonders bemerkt, wenn er die kurze Biografie am Ende gelesen hat. Man sollte sie aus dem Grund vielleicht an den Anfang stellen. O’Brien betrachtet Teile seines eigenen Lebens durch einen Zerrspiegel, der die Realität zum phantastischen Kosmos erweitert, mit teilweise märchenhaften Zügen, aber einer durch und durch erwachsenen Sicht. Ein bisschen wie E. T. A. Hoffmann unter milden Drogen. H. P. Lovecraft, der wohl kreativste Autor phantastischer Horrorgeschichten, schätzte O’Brien sehr und es gibt tatsächlich viele stilistische und inhaltliche Ähnlichkeiten (bis hin zum schwelgerischen Gebrauch von Adjektiven), nur mit dem Unterschied, dass zwischen den beiden Autoren ein halbes Jahrhundert liegt. Es ist nicht übertrieben, wenn man O’Brien in vielen Aspekten als visionär bezeichnet.
Andreas Nohl, der schon in seiner neuen Übersetzung des „Dracula“ den Tonfall des 19. Jahrhunderts sehr stilsicher getroffen hat, ohne die gute Lesbarkeit zu beeinträchtigen, gelingt das Kunststück auch in diesem Sammelband wieder hervorragend. Fitz-James O’Brien ist es jedenfalls wert, als kreativer und innovativer Wegbereiter der phantastischen Literatur neu entdeckt zu werden.
(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)