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Meditation und Reichsflaggen – wie passt das zusammen? Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen und die Debatte um die Impfpflicht machen wieder sichtbar, was die Geschichtsschreibung lange ignorierte: Die Bedeutung spirituell-rationalitätskritischer Bewegungen jenseits von rechts und links. Vor 100 Jahren gab es die ersten Querdenker. Heute haben sie wieder Konjunktur. Dieses Buch ist eine erhellende Reise zu den Epizentren von damals und heute. Im Berliner Scheunenviertel, wo mit den »Hygienedemos« im April 2020 die Bewegung der Corona-Leugner:innen begann, gründete 1918 Filareto Kavernido…mehr

Produktbeschreibung
Meditation und Reichsflaggen – wie passt das zusammen? Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen und die Debatte um die Impfpflicht machen wieder sichtbar, was die Geschichtsschreibung lange ignorierte: Die Bedeutung spirituell-rationalitätskritischer Bewegungen jenseits von rechts und links. Vor 100 Jahren gab es die ersten Querdenker. Heute haben sie wieder Konjunktur. Dieses Buch ist eine erhellende Reise zu den Epizentren von damals und heute. Im Berliner Scheunenviertel, wo mit den »Hygienedemos« im April 2020 die Bewegung der Corona-Leugner:innen begann, gründete 1918 Filareto Kavernido seine Kommune. In Stuttgart, wo Querdenken den größten Zulauf findet, vereinigte Gusto Gräser vor hundert Jahren gegenkulturelles Hippietum und Impf-Feindschaft. Und in der rechten Hochburg Hildburghausen ließ der Maler und völkische »Christrevolutionär« Max Schulze-Sölde seinerzeit die Grenzen von Links und Rechts verwischen. Sie alle sind der Ursprung einer spirituellen Querfront, die heute auf den Straßen und in der gesellschaftlichen Debatte präsent ist. Wie schnell kann Harmlosigkeit in Totalitarismus kippen? Was bleibt von den alten Utopien, nachdem sie von rechts vereinnahmt wurden? Mit großer Sensibilität gelingt Steffen Greiner die Dokumentation einer deutschen Unterströmung, deren Einfluss auf das Freiheitsverständnis vieler Menschen zu lange unterschätzt wurde.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.02.2022

Sonnendoktoren unter Verdacht

Steffen Greiner erkennt in der Lebensreform-Bewegung und den Inflationsheiligen vor hundert Jahren die ersten Querdenker.

Das Komikpotential dieses Milieus und seiner Gestalten ist natürlich auch dem Autor ganz gut bewusst. Da zieht zum Beispiel eine Gruppe Naturmenschen auf der Suche nach Ursprünglichkeit und dem wahren Leben raus aufs Land, zurück zur Scholle, wie man damals sagte, aber im Berliner Umland ist schon vor hundert Jahren der Grund knapp, und die Anarcho-Aussteiger finden für ihre Kommune bloß noch eine Müllkippe an einem Bahndamm, für die sie auch noch Pacht zahlen müssen. "Wie will man das erzählen?", fragt Steffen Greiner an einer Stelle seiner "Zeitreise zu den ersten Querdenkern" selbst. "Als Telenovela? Alle sind da, alle haben was mit allen, stopfen sich trotz Rohkost heimlich die Schnitzel in der Taverna rein und haben immer Koks um die wundgeschnupften Nasen." Gemeint sind die Nackttänzer, Vegetarierinnen und Sonnendoktoren vom Monte Verità im Tessin, der bekanntesten Kolonie der Lebensreform-Bewegung.

Greiner hat sich für eine seriösere Darstellung des Stoffs entschieden, bei der von Anfang an klar wird, auf welcher Seite der Kulturwissenschaftler und Journalist steht. Als Gegendemonstrant sieht Greiner im Sommer 2020 auf der anderen Seite der Polizeigitter Menschen unter Regenbogen- und Deutschlandfahnen gegen die sogenannte Corona-Diktatur demonstrieren. In ihrem "esoterischen Aufschreien" hört er das Echo früherer Natürlichkeitsgurus und ihrer ökologisch-völkischen Ideologien, mit denen sie sich vor gut hundert Jahren gegen die industrielle Moderne und deren Begleiterscheinungen wandten, explizit auch gegen Impfungen und die - angeblich jüdische - Schulmedizin. Von Eso-Promis der Jahrhundertwende wie dem Monte-Verità-Gründer und Hermann-Hesse-Lehrer Gusto Gräser zieht Greiner eine Linie zu den Protagonisten des Corona-Protests wie dem "Veganismuspropheten Attila Hildmann".

Bei all der Jubiläumsfolklore zu den Goldenen Zwanzigern kann man ja leicht vergessen, dass die meisten Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg nicht in einem Babylon Berlin lebten. In den Abgasen von ein paar Automobilen holperten eine Menge Eselskarren übers Land. Und es qualmten nicht bloß immer mehr Schlote über den Fabriken. In ihrem Schatten entstanden zur gleichen Zeit Reformhäuser und erste Waldorfschulen. Romantische Bildungsbürger gründeten außerhalb der Städte Selbstversorger-Kommunen - eine elende Masse hatte nichts zu essen, die Inflation explodierte. Wanderprediger zogen über die Dörfer und verkündeten ihre Lehren von einer Hinwendung zur Natur und nach innen und gaben den Verunsicherten neue Gewissheiten.

Von diesen Selbstversorgerinnen und "Kohlrabi-Aposteln" erzählt Greiner. Von so unterschiedlichen Männern wie dem Waldorf-Gründer Rudolf Steiner und dem "völkischen Antimodernisten" Friedrich Muck-Lamberty, der mit einer Kinderschar tanzend herumzog. Von christlichen Revolutionären und nationalistischen Bolschewisten, von Exzentrikern, die in ihrem Leben alles einmal waren - oder alles auf einmal wie der selbst ernannte "Hakenkreuzlerkommunist" Louis Haeusser. Ein Künstlerprophet, der mit Jesuszotteln herumvagabundierte und bloß ein Dach über dem Kopf hatte, wenn ihn die Polizei mal wieder wegen Nacktheit verhaftete.

Auf 250 Seiten versammelt Greiner eine Menge wilder Lebensgeschichten, sie geben einen ganz guten Eindruck von den Inflationsjahren und den sogenannten Inflationsheiligen, die als Verkünder der Wahrheit von der Unsicherheit lebten. Es macht Spaß, diesem Haufen am Rand zum Wahnsinn stehender Wandervögel zu folgen, wie sie mit höchsten Idealen am Alltag scheitern - so wie Gusto Gräser, der mit seiner Familie durch Württemberg juckelt, sie mit dem Verkauf seiner Gedichte ernährt und ständig Ärger mit der Polizei kriegt, weil er keinen Gewerbeschein vorzeigen kann.

Bald fragt man sich jedoch, ob Greiner die Abstammungslinien nicht zu reflexhaft zieht. Die extrem heterogene Lebensreform hält er insgesamt für die "Stiefschwester des Nationalsozialismus". Und es gibt wirklich Parallelen: Die autarke Kommune kann als Vorbild dienen für eine auf nichts Äußeres angewiesene Nation. Die Fixierung vieler Lebensreformer auf Körper und Gesundheit, das Reinhalten vor "schädlichen Elementen" der Moderne (verarbeitete Lebensmittel, Impfstoffe), findet sich ganz ähnlich in der Rhetorik der Nazis, in ihren Schädlings-Metaphern und ihrer "Rassenhygiene" wieder. Und schließlich sei ja auch der Straßenmaler, Vegetarier und Wutredner Adolf Hitler in dieser Zeit durchs Land getourt und habe wenige Jahre später, wie Greiner bemerkt, seine Reichsautobahnen nach Maßgaben des Umweltschutzes erbauen und im KZ Dachau eine "anthroposophisch inspirierte Heilpflanzenplantage" anlegen lassen.

Im Corona-Protestmilieu wachse nun zusammen, was immer zusammengehört habe, behauptet Greiner, das Völkische und das Ökologische. Doch die Gleichung von Lebensreform, Nationalsozialismus und Querdenken geht bei ihm zu vollständig auf, um erhellend zu sein; bloß, weil zum Beispiel ein paar biographische Daten übereinstimmen, wird auch nicht jeder Querdenker zum Urenkel eines Inflationsheiligen. Ja, Querdenken entstand - wie Rudolf Steiners erste Waldorfschule - in Stuttgart; ja, der Gründer der Protestbewegung, Michael Ballweg, wollte der Legende nach nicht gegen die Corona-Beschränkungen protestieren, sondern bloß ausreisen dürfen und ein Sabbatical machen mit Yoga-Retreat. Trotzdem, wenn Ballweg und andere Querdenken-Promis etwas nicht sind, dann asketische, antimoderne Wanderprediger. Öfter als zum Demonstrieren riefen sie in ihren mittlerweile größtenteils gelöschten Telegram-Kanälen zum Spenden auf an ihre eigenen Ich-AGs.

Greiners klischeehafte Verallgemeinerungen häufen sich. "Die Feststellung, die Bewegung der Coronaleugner sei von gekränkter Männlichkeit getrieben, wirkt präzise", bestätigt er seine eigene Feststellung. Gut möglich, dass Männer immer und ewig gekränkt sind. Aber das erklärt überhaupt nicht, weshalb zwei Drittel der Querdenken-Protestierenden in Baden-Württemberg Frauen sind, so das Ergebnis einer Befragung des Soziologen Oliver Nachtwey. Einen "Sturmlauf der Provinz auf die Metropole" nennt Greiner die Querdenken-Proteste in Berlin, aber auch das stimmt bloß, wenn man schon Stuttgart für die Provinz hält.

Es bleibt enttäuschend, dass Greiner keine dieser faszinierend-kruden Bewegungen richtig scharf in den Blick kriegt, weder die Lebensreform noch Querdenken. Das liegt sicher an ihrer Heterogenität. Und es liegt auch an Greiners Sprache: "The Center Won't Hold" heißt so eine typische Zwischenüberschrift, und das klingt nicht bloß ein wenig beschwörend. Wie das ganze Gerede von den neuen Zwanzigerjahren verrät auch Greiners Ton einen lustvollen Grusel. Vielleicht ist es nicht mal so sehr das Kokettieren mit dem Wissen, was nach den Zwanzigerjahren folgte. Aber mindestens ist da ein Erschaudern über die Gewissheit, selbst in einer historisch bedeutsamen Zeit zu leben.

FLORENTIN SCHUMACHER

Steffen Greiner: "Die Diktatur der Wahrheit. Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern". Tropen, 272 Seiten, 20 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der hier rezensierende Historiker Alexander Gallus ist "irritiert" vom Umgang mit Geschichte in Steffen Greiners Buch. Zwar sei die Abhandlung über sämtliche Vertreter des Querdenkertums zu Anfang des 20. Jahrhunderts, darunter Gusto Gräser, Louis Haeusser und Max Schulze-Sölde, "schwungvoll" und unterhaltsam zu lesen - vor allem die dabei zu beobachtenden "Querfronten" zwischen linken und rechten, anarchistischen und autoritären Ansichten findet der Kritiker dabei interessant. Allerdings, und das stört Gallus, werde dabei zu wenig historisch differenziert, wirke die Darstellung dabei wie zu "einem Drama zusammengeschoben". Auch wenn die "Drohkulisse" der Zunahme rechter Ansichten die damaligen und die heutigen Querdenker verbinde, müsse man die verschiedenen Generationen doch sauberer ins Verhältnis setzen, als Greiner das tut, moniert Gallus - zum Beispiel hätte er gerne gewusst, ob die heutigen Querdenker überhaupt um ihr Erbe wissen. Zu viel "andeutungsvolles Raunen" und zu wenig stichhaltige Argumentation, meint der Kritiker.

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»[E]in lesenswerter Versuch, dem offensichtlich urdeutschen Phänomen spiritueller Querfronten näherzukommen.« Angela Gutzeit, Deutschlandfunk, 21. Februar 2022 Angela Gutzeit Deutschlandfunk 20220221