Der immer wieder vergessene, immer wieder zu entdeckende walisische Schriftsteller Arthur Machen (sprich: "Mecken") hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, das Texte von großer Originalität und starkem Reiz umfasst. Sie werden meist in die Kategorie "Horror" eingeordnet - nicht zu Unrecht, und doch gehören sie in einen größeren Kontext. An Machens Werk lässt sich die ästhetische Seite der Mystik studieren. Als Leser wird man nur schwer die überwältigenden Visionen vergessen können, die Landschaft und Literatur Machens Protagonisten zuteil werden lassen, an deren Innerstes sie rühren. Die von Joachim Kalka auf der Grundlage seiner 1992 bis 1995 erschienenen Übersetzung erstellte neue Werkausgabe versammelt die bedeutendsten Erzähltexte Machens. Sie fügt der alten Edition einige neue Texte hinzu; so erscheint in diesem Band die Erzählung "The Lost Club" (1934) zum ersten Male auf Deutsch, in dem die Figuren des unheimlichen Episodenromans "Die drei Häscher" ("The Three Impostors",1895) wieder auftreten.Subskribenten der sechsbändigen Werkausgabe wird ein Preisnachlass gewährt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.01.2020Durch den Spalt erscheint die Silhouette eines Ungeheuers
Das Geheimnis erhaschen: Die ersten beiden Bände einer neuen Werkausgabe des britischen Horror-Spezialisten Arthur Machen
Im September 1914 veröffentlicht der Waliser Arthur Machen eine Erzählung über kosmische Bogenschützen, die den Engländern in der Schlacht von Mons beistehen, die einige Wochen zuvor stattgefunden hatte. Plötzlich wollten viele Soldaten solche Engel gesehen haben, es häuften sich Wunderberichte. Je mehr der Autor darauf pochte, dass es sich um eine reine Fiktion handele, die sich auch auf eine ähnliche Schlacht im Hundertjährigen Krieg beziehe, desto extravaganter wurden die Visionen, die gesehen worden sein sollten. Auch Machens Vorwort zu einer Neuauflage, in dem er die Täuschung aufdeckte, nützte nichts: Es wurde alles nur noch schlimmer. Da begann es ihm zu dämmern: "Wenn ich in der Kunst der Literatur auch gescheitert sein sollte, so hatte ich doch unfreiwillig Erfolg in der Kunst der Täuschung." Bis heute schwirren diese Engel in den verschiedensten populären Medien weiter, von Agatha Christie bis zu den esoterischen Rauchmeldern, verbinden sich mit den Elfen von Cottingley oder plumperen Scherzen, obwohl nicht einmal die geistgläubige Society for Psychical Research Belege für die Erscheinung von Mons finden konnte.
Der Autor hatte - und das mag man übernatürlich nennen - eine besondere Begabung, eine Fiktion, die durch Krieg, Leiden, Angst und Tod gefördert wird, an einen Punkt zu führen, der den Phantomleib der öffentlichen Phantasie selbst erschaudern lässt. Mit seinen anderen Geschichten ist ihm das eher nicht gelungen, jedenfalls erreichte er nie die Popularität eines Poe oder Stephen King oder seines Schülers Lovecraft, der ihn zu den vier großen Meistern des Horrors zählte. Immerhin soll er in seiner Geschichte "The Terror" Hitchcocks "Vögel" vorweggenommen haben. Das Missverhältnis zwischen Bekanntheit und Wirkung kann jedoch kaum größer sein als bei diesem Autor.
Wer im deutschen Sprachgebiet Arthur Machen (1863 bis 1947) liest, kommt um den Namen Joachim Kalka nicht herum. Die Versuche der letzten Jahrzehnte, Machen wiederzubeleben, ob bei Piper oder jetzt bei Elfenbein, gehen immer wieder auf diesen fleißigen Übersetzer und findigen Essayisten zurück, der mit seinen Vor- und Nachworten Machen einen kultur- und literargeschichtlichen Ort gegeben hat. Nun auch mit einer auf sechs Bände geplanten Werkausgabe, von denen die ersten beiden Teile vorliegen. "Die drei Häscher", 1895 erstmals erschienen, steht noch ganz im Zeichen von Boheme und Dekadenz, der Machen nahestand - unter anderem publizierte er in einer Zeitschrift im Umfeld von Oscar Wilde und Lord Alfred Douglas. London ist hier, wie bei dem von Machen bewunderten Robert Louis Stevenson, das moderne Reich arabischer Wundertüten aus 1001 Nacht. Die Metropole, vor allem die nächtliche, verzaubert Schicksale, bringt wundersame Zufälle hervor und ist vor allem ein Hort von Albträumen. Manchmal ist man an die okkulten Grotesken eines Gustav Meyrink oder Sheridan Le Fanu erinnert, dann wieder an den "Klub der bizarren Berufe" von G. K. Chesterton, der auf seine komisch-absurde Weise der Großstadt Tribut zollen sollte.
Die Schicksale verweben sich wie die Erzählungen, die grausame Verwandlungen hervorbringen oder Menschen geisterhaft werden lassen. Objekte und Schriften, Codes und Chiffrierversuche durchziehen die verschachtelten Geschichten. Scheherazade will hier ihren Kopf retten, indem sie den Leser in Abgründe zieht. Eine Münze, die an Borges' "Aleph" erinnert, in der sich die Geheimnisse des Universums spiegeln; ein Stein mit sechzig mysteriösen Zeichen; ein Forscher, der sich mit Atlantis beschäftigt und dafür eines jämmerlichen Todes stirbt; ein schwachsinniger Junge, der in einer unbekannten Sprache spricht; ein verlorengeglaubter Bruder, der in Begleitung eines Toten gesichtet wird, oder die Geschichte einer brutalen Ritual-Folterung - das Einzige, was in diesen Fiktionen sicher ist, ist, dass sich die Netze zusammenziehen.
All dies weist Machen aus als legitimen Erben von Poe, aber auch als Esoteriker, der Mitglied im arkanen Order of the Golden Dawn war, selbst wenn er dort wenig aktiv gewesen zu sein scheint. Vielleicht gleichermaßen als Zeitgenossen von Kafka. Es gibt bei Machen grässliche Verwandlungen. Ein Arzt besucht den Bruder einer Dame, der sich merkwürdig verändert hat und nicht mehr sein Zimmer verlässt. "Er rief durch die Tür - mit einer Stimme, die ich kaum erkannte -, dass er sehr beschäftigt sei und dass man ihm seine Mahlzeiten an die Tür bringen und dort abstellen sollte." Später sieht der Arzt durch einen Spalt in der Jalousie einen "verrottenden Umriss, eine unbeholfene Bewegung wie von der Tatze eines Tieres", und es geht noch weiter. Erinnerungen an "In der Strafkolonie" wollen sich einfinden in den detailliert beschriebenen Folterphantasien.
Zahllose Gänge durch das nächtliche London machen den Flaneur zu einer Fledermaus. Machen selbst, dem es finanziell oft sehr schlecht ging, war bekannt für seine langen Gänge durch die Stadt. Hier werden Straßen evoziert, die sich ebenfalls nächtlich verwandeln und den Dämonen eine Bleibe bieten, so wie sie ein halbes Jahrhundert zuvor Charles Dickens bei seinen nächtlichen Wanderungen durch London erlebt hatte.
Ebenso wie die Großstadt eine Aura erhält und damit eine Weihung, die sakral wie blasphemisch sein kann, ist die Natur, wie sie in der Landschaft erlebt wird, animistisch aufgeladen. Nicht zu Unrecht hat man daher Machens Prosabilder in den Zusammenhang der sogenannten psychogeography eingeordnet. Wie nur wenige Autoren versteht er es, psychische Phänomene als Teil von Naturprozessen zu markieren und die seelischen Komponenten von Landschaften, ob menschlich gemacht oder nicht, herauszuarbeiten. Dahinter verbirgt sich ein antimodernes und doch dadurch erst recht modernes Heidentum. Das wird in dem Roman "Der geheime Glanz" (The Secret Glory, 1922), der von manchen Kritikern als sein bestes Werk angesehen wird, deutlich. Was an der Oberfläche wie der Konflikt eines Schülers mit seinem Internat und einem Lehrer aussieht, ist in Wirklichkeit eine Reise in das Unbewusste eines Menschen und einer Kultur.
Hier ist er wieder, der Meyrick, der nicht nur den ähnlichen Namen mit dem Prager Autor teilt, sondern auch mit einer göttlichen Speise, die unsterblich macht, denn er heißt mit Vornamen Ambrose. Machen soll mit acht Jahren ein Buch über Alchemie gelesen haben, und das habe ihm die Tore zum Übersinnlichen eröffnet. Alchemistische Symbolik vermengt sich hier mit der Gralssuche. Der Schüler/Student hat Visionen einer pantheistisch erleuchteten Wirklichkeit, als deren ultimatives Symbol der Gral gilt. In seinem Kampf mit Schulautoritäten flüchtet er immer wieder in Tiefenschichten des Bewusstseins.
Für Machen waren diese analog dem keltischen Mythos, der Britannien die mystische Grundlage gibt. Ein Gedanke, mit dem er nicht allein stand. David Jones etwa hat diese Schichtung in Anathemata poetisch reflektiert, wie schon T. S. Eliot in "The Waste Land", das im selben Jahr wie Machens Roman erschien. Der Inkling Charles Williams machte den Gral zu einem zentralen Symbol in seinem metaphysischen Thriller "War in Heaven" (1930), und zwei Jahre später kulminierte der heilige Kelch in der mystischen Vision von John Cowper Powys' monumentalem Roman "A Glastonbury Romance". Dem Puritanismus und Rationalismus setzen diese Autoren eine keltisch-heidnisch oder keltisch-christlich durchwirkte Anschauung entgegen, die auf Sinnlichkeit und Emotion setzt. Kein Zufall deshalb, dass sowohl Machen wie Powys große Verehrer von Rabelais waren. Der französische Autor liebte die sprachlich-sinnliche Entgrenzung wie diese beiden Keltomanen. Machen lässt den Schüler einen rabelaisisch gehaltenen Rachebrief an die abtötende Schule schreiben. In einem Traktat des Ambrose Meyrick finden sich auch kulturkritische Bemerkungen über den Fortschritt ("Soll die Lust an der Lebensmittelfälschung das letzte Ziel im Leben sein?"). Die Grundlage der Kultur, so sein Fazit, ist der Rausch, der Exzess.
Damit ist Machen ganz in der Nähe des Collège de Sociologie (1937-39), dessen Gründer wie Caillois oder Bataille auf den Rausch als einen Schlüssel zur Kultur setzten. Lange hat man nichts mehr gehört von jenem Königreich der großen Trinker, das Rabelais beschwor, doch hier kehrt es wieder im Traktat eines keltophilen Jugendlichen, dem das Leben größeren Glanz und Schätze verspricht, wenn er sich aus den Gefängnissen des materialistischen Denkens befreit. Das große Fest, das dann käme, wenn alle Bethäuser, Fabrikerrichter und Giftproduzenten weggefegt wären! Ein Roman, der auch als verzweifelter Aufschrei gelesen werden kann und soll, als Erinnerung daran, dass wir immer in der Nähe des Grals sind, wenn wir es nur wollen.
Doch Machen bleibt zugleich bodenständig, dadurch ist seine Lesbarkeit garantiert. Horror und Humor verschränken sich gelegentlich. Wie kann das auch anders sein bei einem Autor, der sich auf Pastiche, Persiflage und Selbstironie verstand, der eines Tages die Verrisse seiner Bücher als Buch publizierte oder sich der "Anatomie des Tabaks" verschrieb? Die Welt ist für Machen schön und erschreckend, weil sie überraschend ist. Der Autor Machen, schreibt Jorge Luis Borges, habe seine unglaublichen Märchen geschrieben, nicht weil er die Leser in Erstaunen versetzen wolle, sondern weil er sich als Bewohner einer fremden Welt verstand.
ELMAR SCHENKEL
Arthur Machen: "Die drei Häscher". Roman.
Aus dem Englischen und mit Nachwort sowie Einführung zur Werkausgabe von Joachim Kalka. Elfenbein Verlag, Berlin 2019. 231 S., geb., 22,- [Euro].
Arthur Machen: "Der geheime Glanz". Roman.
Aus dem Englischen und mit Nachwort von Joachim Kalka. Elfenbein Verlag, Berlin 2019. 245 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Geheimnis erhaschen: Die ersten beiden Bände einer neuen Werkausgabe des britischen Horror-Spezialisten Arthur Machen
Im September 1914 veröffentlicht der Waliser Arthur Machen eine Erzählung über kosmische Bogenschützen, die den Engländern in der Schlacht von Mons beistehen, die einige Wochen zuvor stattgefunden hatte. Plötzlich wollten viele Soldaten solche Engel gesehen haben, es häuften sich Wunderberichte. Je mehr der Autor darauf pochte, dass es sich um eine reine Fiktion handele, die sich auch auf eine ähnliche Schlacht im Hundertjährigen Krieg beziehe, desto extravaganter wurden die Visionen, die gesehen worden sein sollten. Auch Machens Vorwort zu einer Neuauflage, in dem er die Täuschung aufdeckte, nützte nichts: Es wurde alles nur noch schlimmer. Da begann es ihm zu dämmern: "Wenn ich in der Kunst der Literatur auch gescheitert sein sollte, so hatte ich doch unfreiwillig Erfolg in der Kunst der Täuschung." Bis heute schwirren diese Engel in den verschiedensten populären Medien weiter, von Agatha Christie bis zu den esoterischen Rauchmeldern, verbinden sich mit den Elfen von Cottingley oder plumperen Scherzen, obwohl nicht einmal die geistgläubige Society for Psychical Research Belege für die Erscheinung von Mons finden konnte.
Der Autor hatte - und das mag man übernatürlich nennen - eine besondere Begabung, eine Fiktion, die durch Krieg, Leiden, Angst und Tod gefördert wird, an einen Punkt zu führen, der den Phantomleib der öffentlichen Phantasie selbst erschaudern lässt. Mit seinen anderen Geschichten ist ihm das eher nicht gelungen, jedenfalls erreichte er nie die Popularität eines Poe oder Stephen King oder seines Schülers Lovecraft, der ihn zu den vier großen Meistern des Horrors zählte. Immerhin soll er in seiner Geschichte "The Terror" Hitchcocks "Vögel" vorweggenommen haben. Das Missverhältnis zwischen Bekanntheit und Wirkung kann jedoch kaum größer sein als bei diesem Autor.
Wer im deutschen Sprachgebiet Arthur Machen (1863 bis 1947) liest, kommt um den Namen Joachim Kalka nicht herum. Die Versuche der letzten Jahrzehnte, Machen wiederzubeleben, ob bei Piper oder jetzt bei Elfenbein, gehen immer wieder auf diesen fleißigen Übersetzer und findigen Essayisten zurück, der mit seinen Vor- und Nachworten Machen einen kultur- und literargeschichtlichen Ort gegeben hat. Nun auch mit einer auf sechs Bände geplanten Werkausgabe, von denen die ersten beiden Teile vorliegen. "Die drei Häscher", 1895 erstmals erschienen, steht noch ganz im Zeichen von Boheme und Dekadenz, der Machen nahestand - unter anderem publizierte er in einer Zeitschrift im Umfeld von Oscar Wilde und Lord Alfred Douglas. London ist hier, wie bei dem von Machen bewunderten Robert Louis Stevenson, das moderne Reich arabischer Wundertüten aus 1001 Nacht. Die Metropole, vor allem die nächtliche, verzaubert Schicksale, bringt wundersame Zufälle hervor und ist vor allem ein Hort von Albträumen. Manchmal ist man an die okkulten Grotesken eines Gustav Meyrink oder Sheridan Le Fanu erinnert, dann wieder an den "Klub der bizarren Berufe" von G. K. Chesterton, der auf seine komisch-absurde Weise der Großstadt Tribut zollen sollte.
Die Schicksale verweben sich wie die Erzählungen, die grausame Verwandlungen hervorbringen oder Menschen geisterhaft werden lassen. Objekte und Schriften, Codes und Chiffrierversuche durchziehen die verschachtelten Geschichten. Scheherazade will hier ihren Kopf retten, indem sie den Leser in Abgründe zieht. Eine Münze, die an Borges' "Aleph" erinnert, in der sich die Geheimnisse des Universums spiegeln; ein Stein mit sechzig mysteriösen Zeichen; ein Forscher, der sich mit Atlantis beschäftigt und dafür eines jämmerlichen Todes stirbt; ein schwachsinniger Junge, der in einer unbekannten Sprache spricht; ein verlorengeglaubter Bruder, der in Begleitung eines Toten gesichtet wird, oder die Geschichte einer brutalen Ritual-Folterung - das Einzige, was in diesen Fiktionen sicher ist, ist, dass sich die Netze zusammenziehen.
All dies weist Machen aus als legitimen Erben von Poe, aber auch als Esoteriker, der Mitglied im arkanen Order of the Golden Dawn war, selbst wenn er dort wenig aktiv gewesen zu sein scheint. Vielleicht gleichermaßen als Zeitgenossen von Kafka. Es gibt bei Machen grässliche Verwandlungen. Ein Arzt besucht den Bruder einer Dame, der sich merkwürdig verändert hat und nicht mehr sein Zimmer verlässt. "Er rief durch die Tür - mit einer Stimme, die ich kaum erkannte -, dass er sehr beschäftigt sei und dass man ihm seine Mahlzeiten an die Tür bringen und dort abstellen sollte." Später sieht der Arzt durch einen Spalt in der Jalousie einen "verrottenden Umriss, eine unbeholfene Bewegung wie von der Tatze eines Tieres", und es geht noch weiter. Erinnerungen an "In der Strafkolonie" wollen sich einfinden in den detailliert beschriebenen Folterphantasien.
Zahllose Gänge durch das nächtliche London machen den Flaneur zu einer Fledermaus. Machen selbst, dem es finanziell oft sehr schlecht ging, war bekannt für seine langen Gänge durch die Stadt. Hier werden Straßen evoziert, die sich ebenfalls nächtlich verwandeln und den Dämonen eine Bleibe bieten, so wie sie ein halbes Jahrhundert zuvor Charles Dickens bei seinen nächtlichen Wanderungen durch London erlebt hatte.
Ebenso wie die Großstadt eine Aura erhält und damit eine Weihung, die sakral wie blasphemisch sein kann, ist die Natur, wie sie in der Landschaft erlebt wird, animistisch aufgeladen. Nicht zu Unrecht hat man daher Machens Prosabilder in den Zusammenhang der sogenannten psychogeography eingeordnet. Wie nur wenige Autoren versteht er es, psychische Phänomene als Teil von Naturprozessen zu markieren und die seelischen Komponenten von Landschaften, ob menschlich gemacht oder nicht, herauszuarbeiten. Dahinter verbirgt sich ein antimodernes und doch dadurch erst recht modernes Heidentum. Das wird in dem Roman "Der geheime Glanz" (The Secret Glory, 1922), der von manchen Kritikern als sein bestes Werk angesehen wird, deutlich. Was an der Oberfläche wie der Konflikt eines Schülers mit seinem Internat und einem Lehrer aussieht, ist in Wirklichkeit eine Reise in das Unbewusste eines Menschen und einer Kultur.
Hier ist er wieder, der Meyrick, der nicht nur den ähnlichen Namen mit dem Prager Autor teilt, sondern auch mit einer göttlichen Speise, die unsterblich macht, denn er heißt mit Vornamen Ambrose. Machen soll mit acht Jahren ein Buch über Alchemie gelesen haben, und das habe ihm die Tore zum Übersinnlichen eröffnet. Alchemistische Symbolik vermengt sich hier mit der Gralssuche. Der Schüler/Student hat Visionen einer pantheistisch erleuchteten Wirklichkeit, als deren ultimatives Symbol der Gral gilt. In seinem Kampf mit Schulautoritäten flüchtet er immer wieder in Tiefenschichten des Bewusstseins.
Für Machen waren diese analog dem keltischen Mythos, der Britannien die mystische Grundlage gibt. Ein Gedanke, mit dem er nicht allein stand. David Jones etwa hat diese Schichtung in Anathemata poetisch reflektiert, wie schon T. S. Eliot in "The Waste Land", das im selben Jahr wie Machens Roman erschien. Der Inkling Charles Williams machte den Gral zu einem zentralen Symbol in seinem metaphysischen Thriller "War in Heaven" (1930), und zwei Jahre später kulminierte der heilige Kelch in der mystischen Vision von John Cowper Powys' monumentalem Roman "A Glastonbury Romance". Dem Puritanismus und Rationalismus setzen diese Autoren eine keltisch-heidnisch oder keltisch-christlich durchwirkte Anschauung entgegen, die auf Sinnlichkeit und Emotion setzt. Kein Zufall deshalb, dass sowohl Machen wie Powys große Verehrer von Rabelais waren. Der französische Autor liebte die sprachlich-sinnliche Entgrenzung wie diese beiden Keltomanen. Machen lässt den Schüler einen rabelaisisch gehaltenen Rachebrief an die abtötende Schule schreiben. In einem Traktat des Ambrose Meyrick finden sich auch kulturkritische Bemerkungen über den Fortschritt ("Soll die Lust an der Lebensmittelfälschung das letzte Ziel im Leben sein?"). Die Grundlage der Kultur, so sein Fazit, ist der Rausch, der Exzess.
Damit ist Machen ganz in der Nähe des Collège de Sociologie (1937-39), dessen Gründer wie Caillois oder Bataille auf den Rausch als einen Schlüssel zur Kultur setzten. Lange hat man nichts mehr gehört von jenem Königreich der großen Trinker, das Rabelais beschwor, doch hier kehrt es wieder im Traktat eines keltophilen Jugendlichen, dem das Leben größeren Glanz und Schätze verspricht, wenn er sich aus den Gefängnissen des materialistischen Denkens befreit. Das große Fest, das dann käme, wenn alle Bethäuser, Fabrikerrichter und Giftproduzenten weggefegt wären! Ein Roman, der auch als verzweifelter Aufschrei gelesen werden kann und soll, als Erinnerung daran, dass wir immer in der Nähe des Grals sind, wenn wir es nur wollen.
Doch Machen bleibt zugleich bodenständig, dadurch ist seine Lesbarkeit garantiert. Horror und Humor verschränken sich gelegentlich. Wie kann das auch anders sein bei einem Autor, der sich auf Pastiche, Persiflage und Selbstironie verstand, der eines Tages die Verrisse seiner Bücher als Buch publizierte oder sich der "Anatomie des Tabaks" verschrieb? Die Welt ist für Machen schön und erschreckend, weil sie überraschend ist. Der Autor Machen, schreibt Jorge Luis Borges, habe seine unglaublichen Märchen geschrieben, nicht weil er die Leser in Erstaunen versetzen wolle, sondern weil er sich als Bewohner einer fremden Welt verstand.
ELMAR SCHENKEL
Arthur Machen: "Die drei Häscher". Roman.
Aus dem Englischen und mit Nachwort sowie Einführung zur Werkausgabe von Joachim Kalka. Elfenbein Verlag, Berlin 2019. 231 S., geb., 22,- [Euro].
Arthur Machen: "Der geheime Glanz". Roman.
Aus dem Englischen und mit Nachwort von Joachim Kalka. Elfenbein Verlag, Berlin 2019. 245 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Tim Caspar Boehme entdeckt den walisischen Schriftsteller Arthur Machen in der Übersetzung von Joachim Kalka. Der Roman um zwei Flaneure auf den Spuren von auf den Straßen Londons kursierenden Schauergeschichten überzeugt Boehme durch Plastizität, einen kühlen Ton und Beschreibungen der walisischen Landschaft. Machens Beschäftigung mit Mystik ist für Boehme im Text erkennbar. Mit seinem Drift ins Fantastische scheint ihm der Autor den britischen Exzentrikern zugehörig.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH