Dieses Buch betrachtet die vielgestaltige Welt der Berge und ihre Entwicklung während der letzten 500 Jahre. Es unternimmt damit erstmals den Versuch, die Dreidimensionalität der Erde auch aus historisch-humanwissenschaftlicher Sicht zu untersuchen. Ausgangspunkt ist die UNO-Umweltkonferenz in Rio de Janeiro von 1992, bei der die Berge offiziell zu einem Thema der Weltgemeinschaft gemacht wurden. Wichtige Voraussetzungen dafür bildeten sich schon in der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert, als die europäischen Gesellschaften hergebrachte Grenzen überschritten. Der Autor beginnt mit der Untersuchung dieser langfristigen Prozesse in Wissenschaft, Kultur und Politik, die unsere Einstellung zu Gebirgsregionen verändert haben. Dann greift er historische Probleme auf, die in der jüngsten Forschung debattiert werden, und stellt sie in einen komparativen Rahmen. Die untersuchten Themen sind: 1. Globalisierung der Wahrnehmung; 2. Bevölkerung und Urbanisierung; 3. Landwirtschaft, Familie, Mobilität; 4. Kulturelle Vielfalt und Modernität.
Die Berggebiete der Welt erstrecken sich über mehr als ein Fünftel der Erdoberfläche und bilden ein "Gross-Ökosystem" eigener Art. Lucien Febvre bemerkte 1922 in seiner klassischen Abhandlung über Geographie und Geschichte, dass man nicht von einer einheitlichen Gebirgsgesellschaft sprechen könne. Die Umwelt mache nur Angebote, die von den Menschen auf je besondere Weise wahrgenommen würden. Falls die europäischen Gebirgsstudien durch solche aus weiteren Kontinenten ergänzt würden, wäre es jedoch vielleicht möglich, eine bestimmte Anzahl von Formen der Anpassung der menschlichen Gesellschaften an die Möglichkeiten verschiedener Gebirgsarten zu ermitteln. Heute liegen die gewünschten Studien aus aller Welt vor. Was können wir auf ihrer Basis zur Bemerkung von Febvre sagen? Welche Verlaufsformen kannte die dreidimensionale Geschichte der Bergbevölkerung?
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Die Berggebiete der Welt erstrecken sich über mehr als ein Fünftel der Erdoberfläche und bilden ein "Gross-Ökosystem" eigener Art. Lucien Febvre bemerkte 1922 in seiner klassischen Abhandlung über Geographie und Geschichte, dass man nicht von einer einheitlichen Gebirgsgesellschaft sprechen könne. Die Umwelt mache nur Angebote, die von den Menschen auf je besondere Weise wahrgenommen würden. Falls die europäischen Gebirgsstudien durch solche aus weiteren Kontinenten ergänzt würden, wäre es jedoch vielleicht möglich, eine bestimmte Anzahl von Formen der Anpassung der menschlichen Gesellschaften an die Möglichkeiten verschiedener Gebirgsarten zu ermitteln. Heute liegen die gewünschten Studien aus aller Welt vor. Was können wir auf ihrer Basis zur Bemerkung von Febvre sagen? Welche Verlaufsformen kannte die dreidimensionale Geschichte der Bergbevölkerung?
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.06.2011Von heiligen Gipfeln und pfadabhängigen Menschen
An Alpenbüchern herrscht kein Mangel. Doch nun versucht sich der Historiker Jon Mathieu erstmals an einer globalen Geschichte der Berge – mit Erfolg
Im Europa des 18. Jahrhunderts galten sie noch als gefährliche Orte, die man besser mied, als hässliche Gebilde, die den „natürlichen Gleichmut der Seele“ störten – und schon gar nicht als Objekte, die man religiös verehrte: Berge. So heißt es etwa im „Deutschen Universal-Lexikon“ von 1752, dass die Heiden pflegten, „manche Berge als Gottheiten anzusehen“ und dass es ähnliche Haltungen bei „orientalischen Völckern“ gebe.
Heute hat sich das Bild radikal gewandelt: Personen im Rentenalter lassen sich in Liften auf Viertausender hieven; Jüngere zieht es in Hightech-Ausrüstungen zu waghalsigen Touren in die Gebirge rund um den Globus – und auch für viele Alpinisten aus der westlichen Welt sind Berge heilig, etwa für den Amerikaner Edwin Bernbaum. Der schrieb 1980 das Buch „Sacred Mountains of the World“ und versuchte gar in amerikanischen Nationalparks mit einem Bergprogramm Stadtbewohnern zu einer spirituellen Umweltbeziehung zu verhelfen. Ihn inspirierten dazu jene Völker, auf die jenes Lexikon aus dem 18. Jahrhundert verweist: Chinesen und Inder sehen Berge von jeher als heilig an.
Doch wie haben die Menschen die Berge in der Neuzeit besiedelt, bewirtschaftet, bezwungen; wie haben sie sie wahrgenommen, und wie hat sich dies verändert? Dieser Frage geht unter anderem der Luzerner Historiker Jon Mathieu nach, Gründungsdirektor des „Instituto di Storia delle Alpi“ in Mendrisio/Tessin – in seinem Buch „Die dritte Dimension“. Mathieu erweist sich damit als Pionier. Zwar gibt es unzählige Berg-Bücher; doch erstmals geschieht hier die Untersuchung nicht nur am Beispiel der Alpen oder anderer Gebirgsregionen der Welt, sondern in globaler historischer Perspektive, analysierend, vergleichend. Mathieu bewahrt dennoch einen europäischen Blick und beginnt seinen intellektuellen Gebirgsgang mit den Reisen des Kolumbus: Denn Räume in Besitz zu nehmen, das haben im neuzeitlichen Europa zuerst die Seefahrer getan; derselbe Drang, der die Europäer im 15. und 16. Jahrhundert die Meere erobern ließ, trieb sie 300 Jahre später auf die Berge.
So erfährt der Leser, dass bereits im 15. Jahrhundert das mexikanische Hochland gut gebaute Straßen durchzogen und auch in Südamerika Bergkulte existierten, bei denen Indios aus verschiedensten Gründen opferten: damit das Glück einem hold ist, der Mais gedeiht und die Lamas dick werden. Bis ins 18. Jahrhundert hinein straften Missionare solche Götzendienerei mit Peitsche und Scheiterhaufen – der christliche Glaube trennt strikt Natur und Mensch. Doch nur wenig später erfuhren die Berge in Europa ihre eigene Sakralisierung. Während der Napoleonischen Kriege erschienen in den österreichischen Alpen die ersten christlichen Gipfelkreuze, um die Bergbauern moralisch gegen vorrückende Franzosen zu stärken. Diese galten seit der Revolution von 1789 zwar als antiklerikal, doch errichteten sie ihrerseits Erdhaufen auf Plätzen und in Kirchen, um sie dem „höchsten Wesen“ zu widmen.
Den christlichen Kreuzen und atheistischen Hügeln lag die romantische Idee des Erhabenen zugrunde, jenes reizvollen Grauens, das sich dann ergibt, wenn man in tiefe Schluchten und reißende Wildbäche blickt. Stadtmüde Touristen, denen die Alpen im 18. Jahrhundert erstmals als epochaler Sehnsuchtsort erschienen, haben diesen delightful horror in Scharen gesucht. So begann auch im Westen der Mensch Natur religiös zu erfahren. Die „Wilderness“-Bewegung verbindet das heute mit Ökologie – dem kann sich mittlerweile auch die Kirche nicht entziehen.
Doch ist diese gut geschriebene, bebilderte Studie genauso bei profanen Berggeschichten erhellend: Auch wer die Pfade in den Bergen nicht verlässt, begibt sich in Gefahr – so etwa ließen sich Mathieus Reflexionen zum montanen Städtebau resümieren. Beispielsweise setzten die Einwohner von La Paz fort, was Mendoza 1548 begann, als er Boliviens Hauptstadt in den Bergen gründete; sie wanderten weiter auf seinem Pfad, blieben abhängig von ihm, wie es Wissenschaftler sagen, wenn sie an Möglichkeiten und deren Determinanten denken. Heute ist La Paz zwar die größte Gebirgsmetropole, doch ihr einstiges Zentrum liegt in einem Talkessel, die Stadt dehnte sich auf 4000 Meter nach oben aus: in einer „Eroberung der Wände“ – drei Viertel von ihr, meinen Experten heute dazu, bilden inzwischen eine „Risikozone“.
Auch Shimla, im indischen Unionsstaat Himal Pradesh gelegen, würde heute keinen Städte-TÜV bekommen, wenn es ihn denn gäbe. Als sich dort 1822 ein englischer Kolonialoffizier eine Sommerfrische baute, stand noch nichts an diesem Ort in 2000 Meter Höhe. Doch später erholten sich auch andere Engländer in Shimla, und der indische Vizekönig kam mit seinem Hofstaat. Die Stadt umfasste bald 100 000 Einwohner und expandierte in „unglaublich steile Abhänge“ – die nach Einschätzung des Autors ebenfalls als „problematisch“ anzusehen sind.
Gewiss, einige der Überlegungen in Mathieus Buch erscheinen nicht neu: Etwa, dass die durchschnittlich größere Armut der Bergbevölkerung nicht naturgegeben sei, sondern aus der kulturellen Entwicklung der vergangenen Jahrhunderte resultiere. Natürlich verloren höher gelegene Regionen wirtschaftlich, seit in den Ebenen die industrielle Revolution begann – Straßen, auf denen Güter transportiert werden, Siedlungen, in denen Arbeiter wohnen, gibt es dort bekanntlich eher. Doch liegt mit diesem Band von Jon Mathieu nunmehr ein lesenswerter Versuch einer Globalgeschichte der Berge vor und – es wäre zu begrüßen, wenn dieser Ansatz künftig vertieft würde. MICHAEL BÖHM
JON MATHIEU: Die dritte Dimension. Eine vergleichende Geschichte der Berge in der Neuzeit. Schwabe Verlag, Basel 2011. 242 Seiten, 40,60 Euro.
Angebetete Höhen – was man einst
wilden Heidenvölkern zuschrieb,
praktiziert heute der Westen selbst
„Risikozone“: Spektakulär bis gefährlich nahe rückt La Paz in Bolivien den Abhängen des Hochgebirges. Foto: AFP
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
An Alpenbüchern herrscht kein Mangel. Doch nun versucht sich der Historiker Jon Mathieu erstmals an einer globalen Geschichte der Berge – mit Erfolg
Im Europa des 18. Jahrhunderts galten sie noch als gefährliche Orte, die man besser mied, als hässliche Gebilde, die den „natürlichen Gleichmut der Seele“ störten – und schon gar nicht als Objekte, die man religiös verehrte: Berge. So heißt es etwa im „Deutschen Universal-Lexikon“ von 1752, dass die Heiden pflegten, „manche Berge als Gottheiten anzusehen“ und dass es ähnliche Haltungen bei „orientalischen Völckern“ gebe.
Heute hat sich das Bild radikal gewandelt: Personen im Rentenalter lassen sich in Liften auf Viertausender hieven; Jüngere zieht es in Hightech-Ausrüstungen zu waghalsigen Touren in die Gebirge rund um den Globus – und auch für viele Alpinisten aus der westlichen Welt sind Berge heilig, etwa für den Amerikaner Edwin Bernbaum. Der schrieb 1980 das Buch „Sacred Mountains of the World“ und versuchte gar in amerikanischen Nationalparks mit einem Bergprogramm Stadtbewohnern zu einer spirituellen Umweltbeziehung zu verhelfen. Ihn inspirierten dazu jene Völker, auf die jenes Lexikon aus dem 18. Jahrhundert verweist: Chinesen und Inder sehen Berge von jeher als heilig an.
Doch wie haben die Menschen die Berge in der Neuzeit besiedelt, bewirtschaftet, bezwungen; wie haben sie sie wahrgenommen, und wie hat sich dies verändert? Dieser Frage geht unter anderem der Luzerner Historiker Jon Mathieu nach, Gründungsdirektor des „Instituto di Storia delle Alpi“ in Mendrisio/Tessin – in seinem Buch „Die dritte Dimension“. Mathieu erweist sich damit als Pionier. Zwar gibt es unzählige Berg-Bücher; doch erstmals geschieht hier die Untersuchung nicht nur am Beispiel der Alpen oder anderer Gebirgsregionen der Welt, sondern in globaler historischer Perspektive, analysierend, vergleichend. Mathieu bewahrt dennoch einen europäischen Blick und beginnt seinen intellektuellen Gebirgsgang mit den Reisen des Kolumbus: Denn Räume in Besitz zu nehmen, das haben im neuzeitlichen Europa zuerst die Seefahrer getan; derselbe Drang, der die Europäer im 15. und 16. Jahrhundert die Meere erobern ließ, trieb sie 300 Jahre später auf die Berge.
So erfährt der Leser, dass bereits im 15. Jahrhundert das mexikanische Hochland gut gebaute Straßen durchzogen und auch in Südamerika Bergkulte existierten, bei denen Indios aus verschiedensten Gründen opferten: damit das Glück einem hold ist, der Mais gedeiht und die Lamas dick werden. Bis ins 18. Jahrhundert hinein straften Missionare solche Götzendienerei mit Peitsche und Scheiterhaufen – der christliche Glaube trennt strikt Natur und Mensch. Doch nur wenig später erfuhren die Berge in Europa ihre eigene Sakralisierung. Während der Napoleonischen Kriege erschienen in den österreichischen Alpen die ersten christlichen Gipfelkreuze, um die Bergbauern moralisch gegen vorrückende Franzosen zu stärken. Diese galten seit der Revolution von 1789 zwar als antiklerikal, doch errichteten sie ihrerseits Erdhaufen auf Plätzen und in Kirchen, um sie dem „höchsten Wesen“ zu widmen.
Den christlichen Kreuzen und atheistischen Hügeln lag die romantische Idee des Erhabenen zugrunde, jenes reizvollen Grauens, das sich dann ergibt, wenn man in tiefe Schluchten und reißende Wildbäche blickt. Stadtmüde Touristen, denen die Alpen im 18. Jahrhundert erstmals als epochaler Sehnsuchtsort erschienen, haben diesen delightful horror in Scharen gesucht. So begann auch im Westen der Mensch Natur religiös zu erfahren. Die „Wilderness“-Bewegung verbindet das heute mit Ökologie – dem kann sich mittlerweile auch die Kirche nicht entziehen.
Doch ist diese gut geschriebene, bebilderte Studie genauso bei profanen Berggeschichten erhellend: Auch wer die Pfade in den Bergen nicht verlässt, begibt sich in Gefahr – so etwa ließen sich Mathieus Reflexionen zum montanen Städtebau resümieren. Beispielsweise setzten die Einwohner von La Paz fort, was Mendoza 1548 begann, als er Boliviens Hauptstadt in den Bergen gründete; sie wanderten weiter auf seinem Pfad, blieben abhängig von ihm, wie es Wissenschaftler sagen, wenn sie an Möglichkeiten und deren Determinanten denken. Heute ist La Paz zwar die größte Gebirgsmetropole, doch ihr einstiges Zentrum liegt in einem Talkessel, die Stadt dehnte sich auf 4000 Meter nach oben aus: in einer „Eroberung der Wände“ – drei Viertel von ihr, meinen Experten heute dazu, bilden inzwischen eine „Risikozone“.
Auch Shimla, im indischen Unionsstaat Himal Pradesh gelegen, würde heute keinen Städte-TÜV bekommen, wenn es ihn denn gäbe. Als sich dort 1822 ein englischer Kolonialoffizier eine Sommerfrische baute, stand noch nichts an diesem Ort in 2000 Meter Höhe. Doch später erholten sich auch andere Engländer in Shimla, und der indische Vizekönig kam mit seinem Hofstaat. Die Stadt umfasste bald 100 000 Einwohner und expandierte in „unglaublich steile Abhänge“ – die nach Einschätzung des Autors ebenfalls als „problematisch“ anzusehen sind.
Gewiss, einige der Überlegungen in Mathieus Buch erscheinen nicht neu: Etwa, dass die durchschnittlich größere Armut der Bergbevölkerung nicht naturgegeben sei, sondern aus der kulturellen Entwicklung der vergangenen Jahrhunderte resultiere. Natürlich verloren höher gelegene Regionen wirtschaftlich, seit in den Ebenen die industrielle Revolution begann – Straßen, auf denen Güter transportiert werden, Siedlungen, in denen Arbeiter wohnen, gibt es dort bekanntlich eher. Doch liegt mit diesem Band von Jon Mathieu nunmehr ein lesenswerter Versuch einer Globalgeschichte der Berge vor und – es wäre zu begrüßen, wenn dieser Ansatz künftig vertieft würde. MICHAEL BÖHM
JON MATHIEU: Die dritte Dimension. Eine vergleichende Geschichte der Berge in der Neuzeit. Schwabe Verlag, Basel 2011. 242 Seiten, 40,60 Euro.
Angebetete Höhen – was man einst
wilden Heidenvölkern zuschrieb,
praktiziert heute der Westen selbst
„Risikozone“: Spektakulär bis gefährlich nahe rückt La Paz in Bolivien den Abhängen des Hochgebirges. Foto: AFP
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Die Berge, sie bewegen sich. Genauer gesagt und wie Caroline Schnyder mit diesem Buch des (Alpen-)Historikers Jon Mathieu erkennt: Unsere Sicht auf sie verändert sich. Wie die Berge zum weltweiten Phänomen und zum Politikum wurden, lernt Schnyder hier Kapitel für Kapitel und zum Glück ohne Alpen-Pathos. Was unterscheidet die Bergregionen vom flachen Land - abgesehen von der Höhe? Solche, aber auch weniger naheliegende Fragen, etwa zur Urbanisierung der Bergwelt, findet die Rezensentin aus historischer Perspektive und differenziert beantwortet und bebildert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH