Produktdetails
- btb Bd.72035
- Verlag: btb
- 1996.
- Deutsch
- Abmessung: 190mm
- Gewicht: 528g
- ISBN-13: 9783442720354
- ISBN-10: 3442720354
- Artikelnr.: 06279040
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.1996Vom Kosmos plaudern
Die Neue Populärwissenschaft als "dritte Kultur"
Von seiner "Kurzen Geschichte der Zeit" verkaufte Stephen Hawking über eine Million Exemplare. Lizenzen für Bücher wie Stephen Jay Goulds "Bravo Brontosaurus" oder Frank Tiplers "Die Physik der Unsterblichkeit" wurden zu sechsstelligen Dollarsummen gehandelt. "Popscience" nennt sich die neue Sparte populärer naturwissenschaftlicher Bücher. Während die Naturwissenschaften auf dem Vormarsch sind, scheint es eine neue Generation klassisch geschulter Intellektueller nicht zu geben, die das Erbe von Enzensberger oder Habermas eines Tages antreten könnten. Es vollzieht sich ein Wechsel in der Kultur. Die Menschen, die uns die Welt erklären, sind nicht mehr die von Philosophie und Literatur geprägten Geister, sondern in Laboratorien und mit Formeln geschulte Naturwissenschaftler.
John Brockman, ein erfolgreicher Literaturagent in New York, hat ein vielbeachtetes Buch herausgebracht, das er in Anspielung auf C. P. Snows berühmten Essay "Die zwei Kulturen" von 1959 "Die dritte Kultur" nennt. Der britische Romancier und Physiker Snow hatte vor vierzig Jahren behauptet, die geistige Kultur der westlichen Welt sei in zwei Lager gespalten, in Natur- und Geisteswissenschaften, die nicht miteinander kommunizierten. Das heute wachsende Interesse an populärer Naturwissenschaft und das Verschwinden der klassischen intellektuellen Literatur sind für Brockman Anzeichen dafür, daß die Situation sich grundlegend gewandelt hat. Die neue "dritte Kultur" besteht für Brockman "aus Naturwissenschaftlern und Denkern aus diesem Umkreis, die mit ihrem Werk und ihren Aufsätzen den Platz des klassischen Intellektuellen einnehmen, indem sie die tiefere Bedeutung unseres Lebens sichtbar machen und auf diese Weise neu definieren, wer und was wir sind".
Damit vollendet sich für Brockman eine Entwicklung, die vor über vierhundert Jahren ihren Anfang nahm. Seit Beginn der Neuzeit haben die Naturwissenschaften die Welt Stück für Stück in Besitz genommen. Erst unterwarfen sich Astronomen und Physiker den Kosmos und die Erde, später erwies sich die Mechanik als ein größerer Segen als die Metaphysik. Und heute wollen Genetik und Neurobiologie erklären, was es mit Bewußtsein und menschlicher Individualität auf sich hat. Für Brockman scheint deshalb die Schlußfolgerung unausweichlich, in den Naturwissenschaften liege der Schlüssel zu den Antworten auf die wichtigen Fragen der Menschheit: Was bin ich? Woher kommen wir, wohin gehen wir? Wie funktioniert die Gesellschaft?
Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften haben Philosophie, Religion oder Sozialwissenschaften, so die These von Brockman, schon lange nichts wesentlich Neues mehr hervorgebracht. In seinem Buch "Die dritte Kultur" stellt er deshalb in Interviews führende Naturwissenschaftler vor, die zugleich bekannte Autoren populärwissenschaftlicher Bücher sind: den Zoologen und Evolutionstheoretiker Stephen Jay Gould, der Darwins Evolutionstheorie weiterentwickelt hat, den Propheten künstlicher Intelligenz Marvin Minsky oder den Physiker Paul Davis, der die Entstehung des Universums erläutert. Insgesamt sind es dreiundzwanzig prominente Wissenschaftler, die in spannendem, gut lesbarem Plauderton vom Urknall über die Zelle und den Menschen bis hin zum Computer den uns bekannten Kosmos ausleuchten.
Ein gutes Beispiel für die Erweiterung unseres Verständnisses durch die Naturwissenschaften ist die in den siebziger Jahren in der Biologie entwickelte Systemtheorie. Für sie sind die Biologen Francisco Varela, den Brockman ebenfalls interviewte, und Humberto Maturana bekannt. Der von ihnen entfaltete Grundgedanke besteht darin, daß alle Lebewesen sich selbst organisieren und reproduzieren - Einzeller, Mensch oder soziale Gemeinschaften. Niklas Luhmann hat dieses Modell übernommen und in den letzten Jahren auf verschiedene Bereiche der Gesellschaft übertragen, auf die Wirtschaft, das Rechtssystem und zuletzt auch auf den Kunstbetrieb. Es ist ein universales Modell, das eine Brücke über den Graben zwischen Geist und Natur schlägt.
An den Universitäten ist dennoch keine neue Kultur entstanden, die allein von den Naturwissenschaften dominiert wäre. Was ein Gedicht Rainer Maria Rilkes sagt, läßt sich nicht durch Magnetresonanzbilder der Hirntätigkeit ersetzen, die Geschichte des Bosnienkriegs wird nicht in der Fakultät für Maschinenbau geschrieben, und ein Physiker wird keine Geld dafür erhalten, daß er einen Essay über ethische Probleme der Todesstrafe verfaßt. Es gibt Unterschiede, die einebnen zu wollen unsinnig wäre. Aber die Grenzen zwischen den beiden Kulturen sind durchlässiger geworden. Forscher und Denker beider Seiten beeinflussen sich gegenseitig. Ein Biologe wie Francisco Varela setzt sich auch mit dem Buddhismus auseinander, für den das "Ich" eine Illusion ist. Auch in Varelas Modell sich selbst organisierender Systeme gibt es keinen Mittelpunkt.
In der Forschung gibt es also keine "dritte Kultur". Brockman spricht ja auch nur von einer "dritten Kultur" in den Medien. Wissenschaftler wie der Psychologe Oliver Sacks oder der Neurobiologe William Calvin sollen in der Öffentlichkeit den Platz der klassischen Intellektuellen einnehmen. Daß sie es tun, dafür gibt es einige Anhaltspunkte. Die öffentliche Diskussionskultur hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten stark gewandelt. Eine junge Generation von Intellektuellen, die vor dreißig Jahren vielleicht noch von Büchern, Essays und Rezensionen hätte leben müssen, hat heute ihren natürlichen Lebensraum im komfortablen Areal der Universität gefunden.
Dort haben sie ein gesichertes Einkommen und lange Urlaubszeiten. Die verbeamteten Wissenschaftler sind kaum mehr darauf angewiesen, allgemeines Interesse auf sich zu ziehen oder in der Öffentlichkeit Wirkung zu erlangen. In Deutschland bedeutet dies auch, daß sie nicht mehr klar und verständlich zu schreiben brauchen. Eine ganze neue Generation von Intellektuellen betritt die Bühne der Öffentlichkeit gar nicht erst.
In den Naturwissenschaften hat es eine genau entgegengesetzte Entwicklung gegeben. An Universitäten und in Forschungsinstituten sind in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Wissenschaftsjournalisten ausgebildet worden. Auch die Anzahl der Forscher, die selbst über ihre Arbeiten schreiben, ist größer geworden. Sie berichten von Dingen, die das Leben der Menschen direkt betreffen - im Bereich der Gentechnik, der Medizin oder der Medien. Diese Publizität ist aber auch wichtig für die Wissenschaft. Industrie und Forschung sind darauf angewiesen, daß ihre Arbeit allgemein unterstützt wird. Gegen öffentlichen Widerstand ist es sehr schwer, Forschungsgelder zu bekommen.
Demgegenüber haben sich die Geisteswissenschaften schon lange keine Gedanken mehr über ihre Publizität gemacht. Warum auch? Denn was Germanisten zwischen zwei Buchdeckel bringen, läßt die Welt außerhalb der Universität meist ungerührt. Aber wird deshalb das neueste Buch von Stephen Jay Gould mit solcher Spannung erwartet wie noch in den späten sechziger Jahren beispielsweise ein Buch von Adorno? Publikationen der Frankfurter Schule waren politische Ereignisse. Aber heute erwartet niemand von den Geisteswissenschaften an Universität ein Zeichen zum Aufbruch oder eine Vision.
Die heutigen Leser suchen ideologiefreie, leicht verdauliche Orientierung. Populärwissenschaftliche Bücher aus den Naturwissenschaften bieten ihnen offenbar die gewünschte Wegweisung. Aber das gelingt auch psychologischen Selbsthilfebüchern, einem launigen Philosophieverschnitt wie Jostein Gaarders "Sofies Welt", politischen Reportagebänden, esoterischer Erbauungsliteratur, den intermedialen Visionen Bill Gates oder, in den Vereinigten Staaten, Harold Blooms Manifest "Der literarische Kanon des Westens". John Brockmans "dritte Kultur" ist also nur eine Offerte von vielen. Die Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler haben sich in der Zwischenzeit weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Ihr einstiger Außenposten, der nichtakademische Intellektuelle, scheint eine vom Aussterben bedrohte Spezies zu sein. HUBERTUS BREUER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Neue Populärwissenschaft als "dritte Kultur"
Von seiner "Kurzen Geschichte der Zeit" verkaufte Stephen Hawking über eine Million Exemplare. Lizenzen für Bücher wie Stephen Jay Goulds "Bravo Brontosaurus" oder Frank Tiplers "Die Physik der Unsterblichkeit" wurden zu sechsstelligen Dollarsummen gehandelt. "Popscience" nennt sich die neue Sparte populärer naturwissenschaftlicher Bücher. Während die Naturwissenschaften auf dem Vormarsch sind, scheint es eine neue Generation klassisch geschulter Intellektueller nicht zu geben, die das Erbe von Enzensberger oder Habermas eines Tages antreten könnten. Es vollzieht sich ein Wechsel in der Kultur. Die Menschen, die uns die Welt erklären, sind nicht mehr die von Philosophie und Literatur geprägten Geister, sondern in Laboratorien und mit Formeln geschulte Naturwissenschaftler.
John Brockman, ein erfolgreicher Literaturagent in New York, hat ein vielbeachtetes Buch herausgebracht, das er in Anspielung auf C. P. Snows berühmten Essay "Die zwei Kulturen" von 1959 "Die dritte Kultur" nennt. Der britische Romancier und Physiker Snow hatte vor vierzig Jahren behauptet, die geistige Kultur der westlichen Welt sei in zwei Lager gespalten, in Natur- und Geisteswissenschaften, die nicht miteinander kommunizierten. Das heute wachsende Interesse an populärer Naturwissenschaft und das Verschwinden der klassischen intellektuellen Literatur sind für Brockman Anzeichen dafür, daß die Situation sich grundlegend gewandelt hat. Die neue "dritte Kultur" besteht für Brockman "aus Naturwissenschaftlern und Denkern aus diesem Umkreis, die mit ihrem Werk und ihren Aufsätzen den Platz des klassischen Intellektuellen einnehmen, indem sie die tiefere Bedeutung unseres Lebens sichtbar machen und auf diese Weise neu definieren, wer und was wir sind".
Damit vollendet sich für Brockman eine Entwicklung, die vor über vierhundert Jahren ihren Anfang nahm. Seit Beginn der Neuzeit haben die Naturwissenschaften die Welt Stück für Stück in Besitz genommen. Erst unterwarfen sich Astronomen und Physiker den Kosmos und die Erde, später erwies sich die Mechanik als ein größerer Segen als die Metaphysik. Und heute wollen Genetik und Neurobiologie erklären, was es mit Bewußtsein und menschlicher Individualität auf sich hat. Für Brockman scheint deshalb die Schlußfolgerung unausweichlich, in den Naturwissenschaften liege der Schlüssel zu den Antworten auf die wichtigen Fragen der Menschheit: Was bin ich? Woher kommen wir, wohin gehen wir? Wie funktioniert die Gesellschaft?
Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften haben Philosophie, Religion oder Sozialwissenschaften, so die These von Brockman, schon lange nichts wesentlich Neues mehr hervorgebracht. In seinem Buch "Die dritte Kultur" stellt er deshalb in Interviews führende Naturwissenschaftler vor, die zugleich bekannte Autoren populärwissenschaftlicher Bücher sind: den Zoologen und Evolutionstheoretiker Stephen Jay Gould, der Darwins Evolutionstheorie weiterentwickelt hat, den Propheten künstlicher Intelligenz Marvin Minsky oder den Physiker Paul Davis, der die Entstehung des Universums erläutert. Insgesamt sind es dreiundzwanzig prominente Wissenschaftler, die in spannendem, gut lesbarem Plauderton vom Urknall über die Zelle und den Menschen bis hin zum Computer den uns bekannten Kosmos ausleuchten.
Ein gutes Beispiel für die Erweiterung unseres Verständnisses durch die Naturwissenschaften ist die in den siebziger Jahren in der Biologie entwickelte Systemtheorie. Für sie sind die Biologen Francisco Varela, den Brockman ebenfalls interviewte, und Humberto Maturana bekannt. Der von ihnen entfaltete Grundgedanke besteht darin, daß alle Lebewesen sich selbst organisieren und reproduzieren - Einzeller, Mensch oder soziale Gemeinschaften. Niklas Luhmann hat dieses Modell übernommen und in den letzten Jahren auf verschiedene Bereiche der Gesellschaft übertragen, auf die Wirtschaft, das Rechtssystem und zuletzt auch auf den Kunstbetrieb. Es ist ein universales Modell, das eine Brücke über den Graben zwischen Geist und Natur schlägt.
An den Universitäten ist dennoch keine neue Kultur entstanden, die allein von den Naturwissenschaften dominiert wäre. Was ein Gedicht Rainer Maria Rilkes sagt, läßt sich nicht durch Magnetresonanzbilder der Hirntätigkeit ersetzen, die Geschichte des Bosnienkriegs wird nicht in der Fakultät für Maschinenbau geschrieben, und ein Physiker wird keine Geld dafür erhalten, daß er einen Essay über ethische Probleme der Todesstrafe verfaßt. Es gibt Unterschiede, die einebnen zu wollen unsinnig wäre. Aber die Grenzen zwischen den beiden Kulturen sind durchlässiger geworden. Forscher und Denker beider Seiten beeinflussen sich gegenseitig. Ein Biologe wie Francisco Varela setzt sich auch mit dem Buddhismus auseinander, für den das "Ich" eine Illusion ist. Auch in Varelas Modell sich selbst organisierender Systeme gibt es keinen Mittelpunkt.
In der Forschung gibt es also keine "dritte Kultur". Brockman spricht ja auch nur von einer "dritten Kultur" in den Medien. Wissenschaftler wie der Psychologe Oliver Sacks oder der Neurobiologe William Calvin sollen in der Öffentlichkeit den Platz der klassischen Intellektuellen einnehmen. Daß sie es tun, dafür gibt es einige Anhaltspunkte. Die öffentliche Diskussionskultur hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten stark gewandelt. Eine junge Generation von Intellektuellen, die vor dreißig Jahren vielleicht noch von Büchern, Essays und Rezensionen hätte leben müssen, hat heute ihren natürlichen Lebensraum im komfortablen Areal der Universität gefunden.
Dort haben sie ein gesichertes Einkommen und lange Urlaubszeiten. Die verbeamteten Wissenschaftler sind kaum mehr darauf angewiesen, allgemeines Interesse auf sich zu ziehen oder in der Öffentlichkeit Wirkung zu erlangen. In Deutschland bedeutet dies auch, daß sie nicht mehr klar und verständlich zu schreiben brauchen. Eine ganze neue Generation von Intellektuellen betritt die Bühne der Öffentlichkeit gar nicht erst.
In den Naturwissenschaften hat es eine genau entgegengesetzte Entwicklung gegeben. An Universitäten und in Forschungsinstituten sind in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Wissenschaftsjournalisten ausgebildet worden. Auch die Anzahl der Forscher, die selbst über ihre Arbeiten schreiben, ist größer geworden. Sie berichten von Dingen, die das Leben der Menschen direkt betreffen - im Bereich der Gentechnik, der Medizin oder der Medien. Diese Publizität ist aber auch wichtig für die Wissenschaft. Industrie und Forschung sind darauf angewiesen, daß ihre Arbeit allgemein unterstützt wird. Gegen öffentlichen Widerstand ist es sehr schwer, Forschungsgelder zu bekommen.
Demgegenüber haben sich die Geisteswissenschaften schon lange keine Gedanken mehr über ihre Publizität gemacht. Warum auch? Denn was Germanisten zwischen zwei Buchdeckel bringen, läßt die Welt außerhalb der Universität meist ungerührt. Aber wird deshalb das neueste Buch von Stephen Jay Gould mit solcher Spannung erwartet wie noch in den späten sechziger Jahren beispielsweise ein Buch von Adorno? Publikationen der Frankfurter Schule waren politische Ereignisse. Aber heute erwartet niemand von den Geisteswissenschaften an Universität ein Zeichen zum Aufbruch oder eine Vision.
Die heutigen Leser suchen ideologiefreie, leicht verdauliche Orientierung. Populärwissenschaftliche Bücher aus den Naturwissenschaften bieten ihnen offenbar die gewünschte Wegweisung. Aber das gelingt auch psychologischen Selbsthilfebüchern, einem launigen Philosophieverschnitt wie Jostein Gaarders "Sofies Welt", politischen Reportagebänden, esoterischer Erbauungsliteratur, den intermedialen Visionen Bill Gates oder, in den Vereinigten Staaten, Harold Blooms Manifest "Der literarische Kanon des Westens". John Brockmans "dritte Kultur" ist also nur eine Offerte von vielen. Die Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler haben sich in der Zwischenzeit weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Ihr einstiger Außenposten, der nichtakademische Intellektuelle, scheint eine vom Aussterben bedrohte Spezies zu sein. HUBERTUS BREUER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main