ERASMUS, LUTHER, DÜRER - WIE DIE PRINTING NATIVES DIE WELT VERÄNDERTEN
Der Buchdruck veränderte die Welt, doch es bedurfte einer zweiten Generation von «Printing Natives», die mit Ablassbriefen, Thesen, Diffamierungen und Sensationsmeldungen als Massenware einen tiefgreifenden Kulturwandel entfesselte. Der renommierte Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann zeigt in seinem anschaulichen, Augen öffnen den Buch, warum wir die «Generation Luther» besser verstehen, wenn wir die heutigen «Digital Natives» betrachten - und umgekehrt.
Die ersten Autos waren motorisierte Kutschen, der Computer diente als Schreibmaschine, und gedruckte Bücher setzten die handgeschriebenen fort: Innovationen werden zunächst in den gewohnten Bahnen genutzt, bevor eine zweite Generation die neuen Möglichkeiten ausschöpft. Thomas Kaufmann beschreibt, wie um 1500 eine junge Generation die Drucktechnik nutzte, um gegen die «Türkengefahr» zu mobilisieren, Ablassbriefe zu vertreiben und für eine «Reformation» der Kirche zu kämpfen. Drucker wie Aldus Manutius, Graphiker wie Albrecht Dürer, Humanisten wie Erasmus von Rotterdam und Johannes Reuchlin oder Theologen wie Martin Luther und Ulrich Zwingli vermarkteten sich auf Flugschriften und in Traktaten selbst und machten Druck: Gegner wurden in wachsenden Echoräumen diffamiert, Ereignisse zu Sensationen gemacht, um eine sich zerstreuende Aufmerksamkeit zu fesseln. Die Reformation war, wie Thomas Kaufmann zeigt, nur ein Teil dieses viel breiteren kulturellen Umbruchs. Schließlich veränderte die neue Technik die Art des Forschens und mit Enzyklopädien oder druckgraphischen Werken die Weise, wie Menschen die Welt wahrnehmen.
Echoräume, Filterblasen, Fake News: Was wir von der ersten Medienrevolution über die digitalen Medien lernen können - und umgekehrt Ein frischer Blick auf die Welt an der Wende zur Neuzeit Spannend und souverän dargestellt von einem der besten Kenner der Reformationszeit
Der Buchdruck veränderte die Welt, doch es bedurfte einer zweiten Generation von «Printing Natives», die mit Ablassbriefen, Thesen, Diffamierungen und Sensationsmeldungen als Massenware einen tiefgreifenden Kulturwandel entfesselte. Der renommierte Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann zeigt in seinem anschaulichen, Augen öffnen den Buch, warum wir die «Generation Luther» besser verstehen, wenn wir die heutigen «Digital Natives» betrachten - und umgekehrt.
Die ersten Autos waren motorisierte Kutschen, der Computer diente als Schreibmaschine, und gedruckte Bücher setzten die handgeschriebenen fort: Innovationen werden zunächst in den gewohnten Bahnen genutzt, bevor eine zweite Generation die neuen Möglichkeiten ausschöpft. Thomas Kaufmann beschreibt, wie um 1500 eine junge Generation die Drucktechnik nutzte, um gegen die «Türkengefahr» zu mobilisieren, Ablassbriefe zu vertreiben und für eine «Reformation» der Kirche zu kämpfen. Drucker wie Aldus Manutius, Graphiker wie Albrecht Dürer, Humanisten wie Erasmus von Rotterdam und Johannes Reuchlin oder Theologen wie Martin Luther und Ulrich Zwingli vermarkteten sich auf Flugschriften und in Traktaten selbst und machten Druck: Gegner wurden in wachsenden Echoräumen diffamiert, Ereignisse zu Sensationen gemacht, um eine sich zerstreuende Aufmerksamkeit zu fesseln. Die Reformation war, wie Thomas Kaufmann zeigt, nur ein Teil dieses viel breiteren kulturellen Umbruchs. Schließlich veränderte die neue Technik die Art des Forschens und mit Enzyklopädien oder druckgraphischen Werken die Weise, wie Menschen die Welt wahrnehmen.
Echoräume, Filterblasen, Fake News: Was wir von der ersten Medienrevolution über die digitalen Medien lernen können - und umgekehrt Ein frischer Blick auf die Welt an der Wende zur Neuzeit Spannend und souverän dargestellt von einem der besten Kenner der Reformationszeit
"Kaufmann zoomt äußerst präzise... . Gestochen scharfe Beschreibungen dieser Zeit, ihrer noch ganz anders tickenden Bewohnerschaft und der in vielen Zitaten wiedergegebenen Sprache sind es, die das Buch lebendig zu lesen machen... wie eine Zeitmaschine" Falter, Andreas Kremla
"Thomas Kaufmann, Kirchenhistoriker in Göttingen, zieht zwischen beiden Medienrevolutionen interessante Vergleiche. Relevant!" National Geographic History, Ausgabe 2 2022
"Thomas Kaufmann, Kirchenhistoriker in Göttingen, zieht zwischen beiden Medienrevolutionen interessante Vergleiche. Relevant!" National Geographic History, Ausgabe 2 2022
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Florian Keisinger bekommt einen Überblick über die Medienrevolution der Frühen Neuzeit in Thomas Kaufmanns "Die Druckmacher". Der Göttinger Kirchenhistoriker notiert darin nicht nur die technischen Voraussetzungen des revolutionären Buchdrucks, sondern zeigt auch die damit verbundenen und großen sozialen und gesellschaftlichen Wandlungen auf. Der Fokus liegt hier vor allem auf der Reformation, die ohne diese Medienrevolution deutlich weniger Relevanz besäße, lernt Keisinger. Auch, wenn dies alles sehr informativ und erleuchtend ist, so fehlen dem Rezensenten jedoch weitergehende Reflexionen Kaufmanns zu den Analogien des Medienwandels damals und heute. Dass das Buch jedoch gerade dafür beworben wird, ist allerdings nicht die Schuld des Autors, sondern des Verlags, merkt er an. Alles in allem spricht ja auch nichts dagegen, dass sich die LeserInnen selbst Gedanken zu dem Thema zu machen, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.04.2022War Luther eine durch und durch typographische Existenz?
Vor der Buchdruckerpresse sind alle gleich: Thomas Kaufmann erzählt die Frühphase der Reformation als Mediengeschichte
"Ohne Buchdruck keine Reformation", dieses Axiom ist seit Langem unumstritten. In jüngerer Zeit ist es noch insofern erweitert worden, als immer klarer wird, dass nicht die Technik des Buchdrucks allein den qualitativen Unterschied (etwa zur hussitischen Reformbewegung einhundert Jahre früher) ausgemacht hat. Mindestens von gleicher Bedeutung war die Ausbildung eines buchhändlerischen Distributionssystems, das die Verteilung der im Druck hergestellten Schriften gewährleistete. Die Reformation basierte auf einem in gut sechs Jahrzehnten auf- und ausgebauten, höchst effizienten, kapitalistisch organisierten Produktions- und Vertriebssystem, auf das sie ihrerseits wie ein Brandbeschleuniger wirkte.
In seinem neuen Buch unternimmt der ausgewiesene Reformationshistoriker und Luther-Biograph Thomas Kaufmann den Versuch, die Geschichte der frühen Reformation - zwischen Wittenberger Thesenanschlag 1517 und den Bauernkriegen 1525/26 - anhand wichtiger Druckschriften Luthers und einiger anderer Autoren als Mediengeschichte zu erzählen. In gewisser Weise handelt es sich um die kondensierte Fassung seiner grundgelehrten, aber schwer lesbaren dreibändigen Reformationsgeschichte.
Davon ist im neuen Buch nichts zu spüren. Der Autor schreibt flüssig und dient sich gern dem Zeitgeist an, wenn er von "printing natives" als Analogon zu modernen "digital natives" spricht, an die Stelle schlichter Gerüchte und Falschmeldungen "fake news" setzt und von "Events" statt von Ereignissen schreibt. Mit seinem Untertitel "Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte" legt Kaufmann die Messlatte sehr hoch. Die Erwartungshaltung wird noch gesteigert durch seine Einleitung, in der er die Studie unter die Leitfragen stellt, ob die Erfahrungen eines heutigen Medienwandels das Verständnis historischer Prozesse erleichtern und ob umgekehrt die Kenntnis der Vergangenheit "Orientierungshilfen in unserer Gegenwart" geben könnten.
Man kann es den Geschichtsphilosophen überlassen, darüber nachzudenken, ob diese Fragestellungen heuristischen Wert haben. Kaufmann jedenfalls kümmert sich überhaupt nicht darum. Er gibt nicht einmal genauer an, was seine Hauptfigur, den "printing native", eigentlich ausgemacht habe, außer dass seine Lektüre aus gedruckten (statt geschriebenen) Büchern bestand und dass er, wenn er für die Veröffentlichung schrieb, seine (von Hand geschriebenen) Bücher im Druck vervielfältigen ließ. Aber las der "printing native" anders, dachte er anders, schrieb er anders, verhielt er sich anders als frühere "hand writing natives"? Zweifel sind angebracht, denn zumindest der "digital native" erweist sich als Worthülse, wenn betagte Klavierlehrerinnen in Pandemiezeiten per Smartphone und Video-Call unterrichten. Menschen lernen sehr schnell, sich neuer Techniken und Verfahren zu bedienen - ändern sie deswegen ihr Wesen?
Der Versuch, "Generationen" zu konstruieren, hat sich allzu oft als wenig aussagekräftig erwiesen. Aber eine "Generation Luther" aufs Titelblatt zu setzen und dann nicht einmal den Versuch zu unternehmen herauszufinden, ob damit etwas anzufangen sei, also zu suggerieren, dies sei ein von der Forschung allgemein anerkannter Begriff, ist unbefriedigend. Dabei könnte es sich lohnen, diesem Gedankengang zu folgen und zu fragen, wer eigentlich wann angefangen hat, Originaltexte im Druck zu vervielfältigen, also nicht mehr nur vorhandene Buchhandschriften (Bibel, Missale, theologische Kommentare, Gesetzessammlungen, mittelalterliche und antike Klassiker und so weiter) typographisch "umzuschreiben". Man würde dann allerdings nicht auf eine "Generation Luther" stoßen, denn als dieser 1483 geboren wurde, war der Prozess längst im Gange. Kaufmann verweist selbst auf Johannes Reuchlin (Jahrgang 1450) und Erasmus von Rotterdam (geboren um 1466/69), und bei näherem Hinsehen stieße man auf viele andere, die heute vergessen sind. Luther zählte also allenfalls zur zweiten, wenn nicht gar erst zur dritten Generation.
Haben also Luther und Konsorten das vorhandene System wenigstens "entfesselt"? Es ist seit langer Zeit bekannt, dass die Buchproduktion im ersten Reformationsjahrzehnt signifikant anstieg, und zwar nicht nur gemessen an der Zahl der Titel, sondern vor allem an der Höhe der Auflagen. Nie zuvor war so viel und so schnell publiziert worden, nie zuvor hatten Druckschriften so viele Leser - und auf dem Wege des Vorlesens auch Hörer - gefunden. Nie zuvor hatte eine Reformbewegung in so kurzer Zeit so tiefgreifende Änderungen im alltäglichen Leben zahlloser Menschen bewirkt. Insofern könnte man die Frage nach der "Entfesselung" zum wiederholten Male bejahen, und Kaufmann tut dies natürlich auch, wenn er die frühe Reformationsgeschichte samt einigen Vor- und Nachläufern anhand wichtiger Texte in Verbindung mit ihrer Druckgeschichte erzählt.
Indem Luther die religiöse Bildung von Laien förderte und die Befähigung zum theologischen Urteil forderte, so Kaufmann, habe sich das "Priestertum aller Glaubenden" auf kongeniale Weise mit dem Wesen des Buchdrucks verbunden, der Öffentlichkeit erzeugt. Die dem typographischen Kommunikationssystem eingeschriebene Funktion der Herstellung von Öffentlichkeit konvergierte, so die zentrale These, mit dem für Luther entscheidenden Begriff eines "Priestertums aller Glaubenden". Wer schon aus individuellen Gründen Öffentlichkeit suchte und brauchte - in der gefährlichen Lage der Jahre 1520/22 habe Luther mit systematischen Publikationen gezielt seine Überlebenschancen zu vergrößern gesucht, meint Kaufmann -, konnte sich des typographischen Mediensystems viel leichter und effektiver bedienen als seine Gegner, die Öffentlichkeit verabscheuten und fürchteten.
Kaufmann geht noch einen Schritt weiter. Auch die "kirchen- und theologiepolitischen Dissoziationsprozesse", die schon bald zur Spaltung der reformatorischen Bewegung führten, seien "durch das Agieren der notorisch in die Öffentlichkeit des gedruckten Wortes drängenden Printing Natives erzeugt worden". Anders gesagt: Das typographische System schafft eine Öffentlichkeit mit tendenziell unendlich vielen Meinungen, es ist seinem Wesen nach demokratisch orientiert. Differenzierungen sind unvermeidlich, weil vor der Buchdruckerpresse alle gleich sind, jeder sie für seine Zwecke verwenden kann. Für Kaufmann ist Luther selbst Kronzeuge, den er aus einem Streitgespräch im "Schwarzen Bären" in Jena im Jahre 1524 mit den an Karlstadt gerichteten Worten zitiert: "Schreybt wyder mich offentlich und nicht heimlich." Nicht ohne eine gewisse Begeisterung resümiert Kaufmann: "Ohne den Buchdruck wäre Luther, der Printing Native schlechthin, im Leben, im Sterben und auch in seinem vielfältigen Nachleben bedeutungslos, undenkbar, nicht er selbst, nicht 'Luther' gewesen. Luther war eine durch und durch typographische Existenz." Luther als Funktion des typographischen Systems zu betrachten, das sich in der Art des "Weltgeistes" seiner bedient hat, geht aber doch zu weit - und greift ebenso zu kurz, wenn man an Luther den Redner, Prediger und Gesprächspartner, den Brief- und Manuskriptschreiber, den Liederdichter und (mithilfe Cranachs) Bildschöpfer denkt. Seine Fähigkeit, alle verfügbaren Medien der Zeit selbst oder durch Vertraute seinen Zielen dienstbar zu machen, unterscheidet ihn von allen Zeitgenossen. Der Buchdruck war auch für Luther nur Teil einer komplexen Medienwelt.
Hat die "Generation Luther" eine Medienrevolution "entfesselt"? Die Frage lässt sich nur beantworten, wenn man den Blick weitet und wenigstens von der Erfindung des Buchdrucks um 1450 bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts schaut. Dann entsteht ein etwas anderes Bild. Für die Buchproduktion als Ganzes ergibt sich ein exponentielles Wachstums, das um 1470 einsetzt, fünfzig Jahre später seinen Höhepunkt erreicht, dann aber mit einem Rückgang um etwa 35 Prozent deutlich einbricht, um sich nach einer Phase der Stagnation erst Ende des sechzehnten Jahrhunderts zu neuen Höhen aufzuschwingen. Statt von einer "Entfesselung" könnte man also auch von einer "Überhitzung" samt anschließender Erholung sprechen - das Bild von der Reformation als "Brandbeschleuniger" gewinnt so eine tiefere Bedeutung. MARK LEHMSTEDT
Thomas Kaufmann: "Die Druckmacher". Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 350 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vor der Buchdruckerpresse sind alle gleich: Thomas Kaufmann erzählt die Frühphase der Reformation als Mediengeschichte
"Ohne Buchdruck keine Reformation", dieses Axiom ist seit Langem unumstritten. In jüngerer Zeit ist es noch insofern erweitert worden, als immer klarer wird, dass nicht die Technik des Buchdrucks allein den qualitativen Unterschied (etwa zur hussitischen Reformbewegung einhundert Jahre früher) ausgemacht hat. Mindestens von gleicher Bedeutung war die Ausbildung eines buchhändlerischen Distributionssystems, das die Verteilung der im Druck hergestellten Schriften gewährleistete. Die Reformation basierte auf einem in gut sechs Jahrzehnten auf- und ausgebauten, höchst effizienten, kapitalistisch organisierten Produktions- und Vertriebssystem, auf das sie ihrerseits wie ein Brandbeschleuniger wirkte.
In seinem neuen Buch unternimmt der ausgewiesene Reformationshistoriker und Luther-Biograph Thomas Kaufmann den Versuch, die Geschichte der frühen Reformation - zwischen Wittenberger Thesenanschlag 1517 und den Bauernkriegen 1525/26 - anhand wichtiger Druckschriften Luthers und einiger anderer Autoren als Mediengeschichte zu erzählen. In gewisser Weise handelt es sich um die kondensierte Fassung seiner grundgelehrten, aber schwer lesbaren dreibändigen Reformationsgeschichte.
Davon ist im neuen Buch nichts zu spüren. Der Autor schreibt flüssig und dient sich gern dem Zeitgeist an, wenn er von "printing natives" als Analogon zu modernen "digital natives" spricht, an die Stelle schlichter Gerüchte und Falschmeldungen "fake news" setzt und von "Events" statt von Ereignissen schreibt. Mit seinem Untertitel "Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte" legt Kaufmann die Messlatte sehr hoch. Die Erwartungshaltung wird noch gesteigert durch seine Einleitung, in der er die Studie unter die Leitfragen stellt, ob die Erfahrungen eines heutigen Medienwandels das Verständnis historischer Prozesse erleichtern und ob umgekehrt die Kenntnis der Vergangenheit "Orientierungshilfen in unserer Gegenwart" geben könnten.
Man kann es den Geschichtsphilosophen überlassen, darüber nachzudenken, ob diese Fragestellungen heuristischen Wert haben. Kaufmann jedenfalls kümmert sich überhaupt nicht darum. Er gibt nicht einmal genauer an, was seine Hauptfigur, den "printing native", eigentlich ausgemacht habe, außer dass seine Lektüre aus gedruckten (statt geschriebenen) Büchern bestand und dass er, wenn er für die Veröffentlichung schrieb, seine (von Hand geschriebenen) Bücher im Druck vervielfältigen ließ. Aber las der "printing native" anders, dachte er anders, schrieb er anders, verhielt er sich anders als frühere "hand writing natives"? Zweifel sind angebracht, denn zumindest der "digital native" erweist sich als Worthülse, wenn betagte Klavierlehrerinnen in Pandemiezeiten per Smartphone und Video-Call unterrichten. Menschen lernen sehr schnell, sich neuer Techniken und Verfahren zu bedienen - ändern sie deswegen ihr Wesen?
Der Versuch, "Generationen" zu konstruieren, hat sich allzu oft als wenig aussagekräftig erwiesen. Aber eine "Generation Luther" aufs Titelblatt zu setzen und dann nicht einmal den Versuch zu unternehmen herauszufinden, ob damit etwas anzufangen sei, also zu suggerieren, dies sei ein von der Forschung allgemein anerkannter Begriff, ist unbefriedigend. Dabei könnte es sich lohnen, diesem Gedankengang zu folgen und zu fragen, wer eigentlich wann angefangen hat, Originaltexte im Druck zu vervielfältigen, also nicht mehr nur vorhandene Buchhandschriften (Bibel, Missale, theologische Kommentare, Gesetzessammlungen, mittelalterliche und antike Klassiker und so weiter) typographisch "umzuschreiben". Man würde dann allerdings nicht auf eine "Generation Luther" stoßen, denn als dieser 1483 geboren wurde, war der Prozess längst im Gange. Kaufmann verweist selbst auf Johannes Reuchlin (Jahrgang 1450) und Erasmus von Rotterdam (geboren um 1466/69), und bei näherem Hinsehen stieße man auf viele andere, die heute vergessen sind. Luther zählte also allenfalls zur zweiten, wenn nicht gar erst zur dritten Generation.
Haben also Luther und Konsorten das vorhandene System wenigstens "entfesselt"? Es ist seit langer Zeit bekannt, dass die Buchproduktion im ersten Reformationsjahrzehnt signifikant anstieg, und zwar nicht nur gemessen an der Zahl der Titel, sondern vor allem an der Höhe der Auflagen. Nie zuvor war so viel und so schnell publiziert worden, nie zuvor hatten Druckschriften so viele Leser - und auf dem Wege des Vorlesens auch Hörer - gefunden. Nie zuvor hatte eine Reformbewegung in so kurzer Zeit so tiefgreifende Änderungen im alltäglichen Leben zahlloser Menschen bewirkt. Insofern könnte man die Frage nach der "Entfesselung" zum wiederholten Male bejahen, und Kaufmann tut dies natürlich auch, wenn er die frühe Reformationsgeschichte samt einigen Vor- und Nachläufern anhand wichtiger Texte in Verbindung mit ihrer Druckgeschichte erzählt.
Indem Luther die religiöse Bildung von Laien förderte und die Befähigung zum theologischen Urteil forderte, so Kaufmann, habe sich das "Priestertum aller Glaubenden" auf kongeniale Weise mit dem Wesen des Buchdrucks verbunden, der Öffentlichkeit erzeugt. Die dem typographischen Kommunikationssystem eingeschriebene Funktion der Herstellung von Öffentlichkeit konvergierte, so die zentrale These, mit dem für Luther entscheidenden Begriff eines "Priestertums aller Glaubenden". Wer schon aus individuellen Gründen Öffentlichkeit suchte und brauchte - in der gefährlichen Lage der Jahre 1520/22 habe Luther mit systematischen Publikationen gezielt seine Überlebenschancen zu vergrößern gesucht, meint Kaufmann -, konnte sich des typographischen Mediensystems viel leichter und effektiver bedienen als seine Gegner, die Öffentlichkeit verabscheuten und fürchteten.
Kaufmann geht noch einen Schritt weiter. Auch die "kirchen- und theologiepolitischen Dissoziationsprozesse", die schon bald zur Spaltung der reformatorischen Bewegung führten, seien "durch das Agieren der notorisch in die Öffentlichkeit des gedruckten Wortes drängenden Printing Natives erzeugt worden". Anders gesagt: Das typographische System schafft eine Öffentlichkeit mit tendenziell unendlich vielen Meinungen, es ist seinem Wesen nach demokratisch orientiert. Differenzierungen sind unvermeidlich, weil vor der Buchdruckerpresse alle gleich sind, jeder sie für seine Zwecke verwenden kann. Für Kaufmann ist Luther selbst Kronzeuge, den er aus einem Streitgespräch im "Schwarzen Bären" in Jena im Jahre 1524 mit den an Karlstadt gerichteten Worten zitiert: "Schreybt wyder mich offentlich und nicht heimlich." Nicht ohne eine gewisse Begeisterung resümiert Kaufmann: "Ohne den Buchdruck wäre Luther, der Printing Native schlechthin, im Leben, im Sterben und auch in seinem vielfältigen Nachleben bedeutungslos, undenkbar, nicht er selbst, nicht 'Luther' gewesen. Luther war eine durch und durch typographische Existenz." Luther als Funktion des typographischen Systems zu betrachten, das sich in der Art des "Weltgeistes" seiner bedient hat, geht aber doch zu weit - und greift ebenso zu kurz, wenn man an Luther den Redner, Prediger und Gesprächspartner, den Brief- und Manuskriptschreiber, den Liederdichter und (mithilfe Cranachs) Bildschöpfer denkt. Seine Fähigkeit, alle verfügbaren Medien der Zeit selbst oder durch Vertraute seinen Zielen dienstbar zu machen, unterscheidet ihn von allen Zeitgenossen. Der Buchdruck war auch für Luther nur Teil einer komplexen Medienwelt.
Hat die "Generation Luther" eine Medienrevolution "entfesselt"? Die Frage lässt sich nur beantworten, wenn man den Blick weitet und wenigstens von der Erfindung des Buchdrucks um 1450 bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts schaut. Dann entsteht ein etwas anderes Bild. Für die Buchproduktion als Ganzes ergibt sich ein exponentielles Wachstums, das um 1470 einsetzt, fünfzig Jahre später seinen Höhepunkt erreicht, dann aber mit einem Rückgang um etwa 35 Prozent deutlich einbricht, um sich nach einer Phase der Stagnation erst Ende des sechzehnten Jahrhunderts zu neuen Höhen aufzuschwingen. Statt von einer "Entfesselung" könnte man also auch von einer "Überhitzung" samt anschließender Erholung sprechen - das Bild von der Reformation als "Brandbeschleuniger" gewinnt so eine tiefere Bedeutung. MARK LEHMSTEDT
Thomas Kaufmann: "Die Druckmacher". Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 350 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.06.2022Deutschlands erster
Humanist
Johannes Reuchlin, vor 500 Jahren gestorben,
sprach sich für die Rechte der Juden aus und
begründete das Studium des Hebräischen.
Auch deshalb hat er es in der Vergangenheit
nicht zum Nationalhelden gebracht
VON JOHAN SCHLOEMANN
Die Wahrheit wird von der Erde aufsteigen und die Finsternis verscheuchen.“ Das schrieb Johannes Reuchlin, Diplomat, Spitzenjurist, Verfasser von Komödien und einer der großen Gelehrten Europas, kurz vor seinem Tod in einem Brief. Vor 500 Jahren, am 30. Juni des Jahres 1522, erlag er dann in Stuttgart dem Gelbfieber, im Alter von 67 Jahren.
Reuchlins Grab in der dortigen Leonhardskirche ist in den drei Sprachen beschriftet, deren Pflege der Mann mit Leidenschaft angestoßen hat: Latein, Griechisch und Hebräisch. Bei den beiden letztgenannten Sprachen war das eine Pioniertat, denn selbst die gebildeten Theologen hatten ihre Bibel im Mittelalter nur in der lateinischen Übersetzung des Heiligen Hieronymus studiert, nicht in den beiden Originalsprachen. Johannes Reuchlin sagte, er verehre zwar den Hieronymus, aber die Wahrheit sei im textkritischen Zweifelsfall nun mal göttlicher. Und so lernte er das Hebräische von jüdischen Gelehrten, etwa von Jakob ben Jechiel Loans, dem Leibarzt des Kaisers Friedrich III. So wurde Reuchlin zum Begründer der christlichen Judaistik. Das mit dem Licht der Wahrheit war allerdings so eine Sache in der Ära der Renaissance und der Religionsdispute. Welche Wahrheit denn? Und mit dem Siegeszug von neuen Medien, in diesem Fall des Buchdrucks, wurde damals beides zugleich in die Welt getragen: der Humanismus und die Hassrede.
Zwei Jahre vor seinem Tod, 1520, hatte der Vatikan in Rom es Reuchlin endgültig attestiert: Sein Plädoyer für die Bewahrung jüdischer Schriften sei ein „Ärgernis erregendes, unerlaubt judenfreundliches und daher frommen Christen anstößiges Buch“. Der Verfasser müsse in der Sache für immer schweigen sowie die Prozesskosten tragen. Weil auch ein gewisser Martin Luther in Deutschland gerade Ärger machte, wollte Rom nun Exempel statuieren und Grenzen der Toleranz aufzeigen.
Vorangegangen waren Anfang des Jahrhunderts antisemitische Hetzschriften eines Kölner Konvertiten, der die Vernichtung jüdischer Bücher gefordert und auch schon organisiert hatte – man nahm also den ohnehin schon drangsalierten jüdischen Gemeinden ihre heiligen Bücher weg. Neben anderen Gelehrten und Fakultäten wurde Reuchlin im Jahr 1510 vom Kaiser um ein Gutachten gebeten: „ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll“. Er sprach sich als einziger gegen die Büchervernichtung aus.
Unter dem Titel „Augenspiegel“ – das Brillen-Symbol stand für Klarsicht – argumentierte Reuchlin dreifach. Erstens theologisch: Die jüdischen Auslegungsschriften seien Teil der Heilsgeschichte und somit auch zum Verständnis des Alten Testaments fürs Christentum wichtig. „Unser Apostel Paulus hat alle jüdische Weisheit erlernt und bei den Rabbinern studiert.“
Zweitens argumentierte Reuchlin rechtlich: Nach dem römischen Recht genössen die Juden Rechtsschutz als Bürger des Reiches, somit sei keine gewaltsame Mission erlaubt, es gelte für sie der Schutz des Eigentums und die Religionsfreiheit. Das dritte Argument war humanistisch: Im Sinne der „Wiederherstellung der Wissenschaften“ müssten Quellen bewahrt werden. Auch die heidnischen Schriften der Antike würde ja nicht vernichtet, auch wenn darin aus christlicher Sicht noch viel schlimmere Sachen stünden.
Das war eine mutige Position, eine Mindermeinung, die Reuchlin viel Ärger einbrachte. Man darf ihn deswegen zwar nicht zum engagierten Philosemiten machen: Als Christ sah er die Juden im Irrtum über den Messias, und er teilte zeittypische Vorurteile gegen sie. Das stellte auch der Zionist und Schriftsteller Max Brod, der Freund und Herausgeber Franz Kafkas, in seiner gründlichen Reuchlin-Biografie klar, die 1965 erschien und jetzt in der Brod-Werkausgabe neu herausgekommen ist. „Das Schicksal der Juden in Deutschland“, schreibt Brod, „stand damals auf des Messers Schneide.“ Und fügt sarkastisch hinzu: „Das stand es ja eigentlich fast immer.“
Aber Max Brod, dessen Bruder in Auschwitz ermordet wurde, erkennt auch an, Johannes Reuchlin habe anders als die meisten seiner Zeitgenossen „sehr viel dazugelernt“, was das Judentum angeht, und lobt „die besondere Milde und Rechtlichkeit des Reuchlinschen Charakters“. Ungewöhnlich war auch Reuchlins Neugier auf die jüdische Mystik: In seinem Trialog „De arte Cabbalistica“ (1517) spürte er der Verwandtschaft früher Geheimlehren nach – eine christliche Lesart der Kabbala, aber voller Respekt vor der Suche nach symbolisch versteckter göttlicher Offenbarung in allen Religionen. Ein Interesse, das Reuchlin mit dem Renaissancephilosophen Pico della Mirandola teilte, ihn hatte er in Florenz kennengelernt. Der deutsch-israelische Religionshistoriker Gershom Scholem würdigte diese Verdienste, als er 1969 in Deutschland den Reuchlin-Preis entgegennahm.
Dies waren nun aber Dinge, mit denen man in Deutschland kein Nationalheld werden konnte. „Er war eben in jeder Hinsicht ein Vermittler“, sagt Christoph Koch, der als Denkmalpfleger in Reuchlins Geburtsstadt Pforzheim das 2008 eröffnete Reuchlin-Museum aufgebaut hat und als „Reuchlinbeauftragter“ fungiert. Obwohl er die Bildungsrevolution, die den deutschen Protestantismus mit allen Folgen für die nationale Kultur groß machte, mit ermöglichte, ließ sich Reuchlin nicht recht in die heroische Luther-Story einfügen. Denn er schloss sich den Wittenberger Reformatoren nicht an, sondern blieb katholisch, obwohl er seinen Zögling und entfernten Verwandten Philipp Melanchthon, Luthers Mitstreiter, als ersten Gräzistikprofessor nach Wittenberg empfahl und ihm seinen griechischen Namen gab („Melanchthon“ für „Schwarzerdt“). Ein richtiger Märtyrer der Aufklärung wurde er in der Erinnerung aber auch nicht, weil er nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannte.
Zudem wurde Reuchlins Verteidigung der Juden, vorsichtig gesagt, in der nationalprotestantischen Rezeptionsgeschichte lange Zeit nicht besonders hervorgekehrt – ebenso sah man über Luthers antisemitische Spätschriften gerne hinweg, die zwanzig Jahre nach Reuchlins Tod erschienen. Reuchlins gelehrte Schriften und Hebräisch-Grammatiken wiederum blieben den meisten obskur, auch wenn er mit einer seiner ursprünglich lateinisch geschriebenen Komödien („Henno“) zeitweise Erfolge feierte.
Und heute? In Stuttgart gibt es im Gedenkjahr eine Reihe von Veranstaltungen, besonders aber hält Pforzheim das Erbe seines berühmtesten Sohnes lebendig. Phorcensis nannte sich Reuchlin, aus Pforzheim stammend. In der im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Stadt zwischen Stuttgart und Karlsruhe ist Reuchlins Geburtshaus nicht mehr genau lokalisierbar, aber als Anbau der Stiftskirche hat man an die Stelle der zerstörten Bibliothek geschickt das Reuchlin-Museum hineingebaut. Nebenan sind die Gräber der Markgrafen von Baden, deren Hof aber später nach Karlsruhe umzog. Zum 500. Todestag findet ein wissenschaftlicher Kongress statt; in einer Stadt mit hohem Migrationsanteil versucht man Reuchlin sonst eher weniger als Philologen, sondern als Anwalt von Mehrsprachigkeit, Neugier und Toleranz näher zu bringen. Im Schmuckmuseum – Pforzheim ist auf Feinmechanik spezialisiert – wird Reuchlins Faible für Redeschmuck gefeiert.
Und über allem schwebt ein Traum von der humanistischen Lebensform, die Johannes Reuchlin in einem Brief einmal so beschrieben hat: „dass alle göttlichen und menschlichen Dinge bei immer vollen Bechern bis in die späte Nacht hinein nach dem Vorbild des Aristoteles unparteiisch disputiert werden“.
Zum Märtyrer der Aufklärung
wurde er nie, weil er nicht auf
dem Scheiterhaufen landete
Johannes Reuchlin:
Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg. und übersetzt von Jan-Hendryk de Boer. Reclam, Ditzingen 2022. 173 S., 6,80 Euro.
Thomas Kaufmann:
Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte.
C.H. Beck, München 2022. 350 Seiten, 28 Euro.
Max Brod: Johannes Reuchlin und sein Kampf. Eine historische Monographie. Mit einem
Nachwort von Karl E. Grözinger. Wallstein, Göttingen 2022.
557 Seiten, 29,90 Euro.
Ein zeitgenössisches Porträt von Johannes Reuchlin (1455-1522) ist nicht erhalten, aber dieses Bildnis aus dem Lutherdenkmal in Worms wurde in seiner Geburtsstadt Pforzheim als Statue aufgestellt.
Foto: Klaus Kerth/Kulturamt Pforzheim
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Humanist
Johannes Reuchlin, vor 500 Jahren gestorben,
sprach sich für die Rechte der Juden aus und
begründete das Studium des Hebräischen.
Auch deshalb hat er es in der Vergangenheit
nicht zum Nationalhelden gebracht
VON JOHAN SCHLOEMANN
Die Wahrheit wird von der Erde aufsteigen und die Finsternis verscheuchen.“ Das schrieb Johannes Reuchlin, Diplomat, Spitzenjurist, Verfasser von Komödien und einer der großen Gelehrten Europas, kurz vor seinem Tod in einem Brief. Vor 500 Jahren, am 30. Juni des Jahres 1522, erlag er dann in Stuttgart dem Gelbfieber, im Alter von 67 Jahren.
Reuchlins Grab in der dortigen Leonhardskirche ist in den drei Sprachen beschriftet, deren Pflege der Mann mit Leidenschaft angestoßen hat: Latein, Griechisch und Hebräisch. Bei den beiden letztgenannten Sprachen war das eine Pioniertat, denn selbst die gebildeten Theologen hatten ihre Bibel im Mittelalter nur in der lateinischen Übersetzung des Heiligen Hieronymus studiert, nicht in den beiden Originalsprachen. Johannes Reuchlin sagte, er verehre zwar den Hieronymus, aber die Wahrheit sei im textkritischen Zweifelsfall nun mal göttlicher. Und so lernte er das Hebräische von jüdischen Gelehrten, etwa von Jakob ben Jechiel Loans, dem Leibarzt des Kaisers Friedrich III. So wurde Reuchlin zum Begründer der christlichen Judaistik. Das mit dem Licht der Wahrheit war allerdings so eine Sache in der Ära der Renaissance und der Religionsdispute. Welche Wahrheit denn? Und mit dem Siegeszug von neuen Medien, in diesem Fall des Buchdrucks, wurde damals beides zugleich in die Welt getragen: der Humanismus und die Hassrede.
Zwei Jahre vor seinem Tod, 1520, hatte der Vatikan in Rom es Reuchlin endgültig attestiert: Sein Plädoyer für die Bewahrung jüdischer Schriften sei ein „Ärgernis erregendes, unerlaubt judenfreundliches und daher frommen Christen anstößiges Buch“. Der Verfasser müsse in der Sache für immer schweigen sowie die Prozesskosten tragen. Weil auch ein gewisser Martin Luther in Deutschland gerade Ärger machte, wollte Rom nun Exempel statuieren und Grenzen der Toleranz aufzeigen.
Vorangegangen waren Anfang des Jahrhunderts antisemitische Hetzschriften eines Kölner Konvertiten, der die Vernichtung jüdischer Bücher gefordert und auch schon organisiert hatte – man nahm also den ohnehin schon drangsalierten jüdischen Gemeinden ihre heiligen Bücher weg. Neben anderen Gelehrten und Fakultäten wurde Reuchlin im Jahr 1510 vom Kaiser um ein Gutachten gebeten: „ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll“. Er sprach sich als einziger gegen die Büchervernichtung aus.
Unter dem Titel „Augenspiegel“ – das Brillen-Symbol stand für Klarsicht – argumentierte Reuchlin dreifach. Erstens theologisch: Die jüdischen Auslegungsschriften seien Teil der Heilsgeschichte und somit auch zum Verständnis des Alten Testaments fürs Christentum wichtig. „Unser Apostel Paulus hat alle jüdische Weisheit erlernt und bei den Rabbinern studiert.“
Zweitens argumentierte Reuchlin rechtlich: Nach dem römischen Recht genössen die Juden Rechtsschutz als Bürger des Reiches, somit sei keine gewaltsame Mission erlaubt, es gelte für sie der Schutz des Eigentums und die Religionsfreiheit. Das dritte Argument war humanistisch: Im Sinne der „Wiederherstellung der Wissenschaften“ müssten Quellen bewahrt werden. Auch die heidnischen Schriften der Antike würde ja nicht vernichtet, auch wenn darin aus christlicher Sicht noch viel schlimmere Sachen stünden.
Das war eine mutige Position, eine Mindermeinung, die Reuchlin viel Ärger einbrachte. Man darf ihn deswegen zwar nicht zum engagierten Philosemiten machen: Als Christ sah er die Juden im Irrtum über den Messias, und er teilte zeittypische Vorurteile gegen sie. Das stellte auch der Zionist und Schriftsteller Max Brod, der Freund und Herausgeber Franz Kafkas, in seiner gründlichen Reuchlin-Biografie klar, die 1965 erschien und jetzt in der Brod-Werkausgabe neu herausgekommen ist. „Das Schicksal der Juden in Deutschland“, schreibt Brod, „stand damals auf des Messers Schneide.“ Und fügt sarkastisch hinzu: „Das stand es ja eigentlich fast immer.“
Aber Max Brod, dessen Bruder in Auschwitz ermordet wurde, erkennt auch an, Johannes Reuchlin habe anders als die meisten seiner Zeitgenossen „sehr viel dazugelernt“, was das Judentum angeht, und lobt „die besondere Milde und Rechtlichkeit des Reuchlinschen Charakters“. Ungewöhnlich war auch Reuchlins Neugier auf die jüdische Mystik: In seinem Trialog „De arte Cabbalistica“ (1517) spürte er der Verwandtschaft früher Geheimlehren nach – eine christliche Lesart der Kabbala, aber voller Respekt vor der Suche nach symbolisch versteckter göttlicher Offenbarung in allen Religionen. Ein Interesse, das Reuchlin mit dem Renaissancephilosophen Pico della Mirandola teilte, ihn hatte er in Florenz kennengelernt. Der deutsch-israelische Religionshistoriker Gershom Scholem würdigte diese Verdienste, als er 1969 in Deutschland den Reuchlin-Preis entgegennahm.
Dies waren nun aber Dinge, mit denen man in Deutschland kein Nationalheld werden konnte. „Er war eben in jeder Hinsicht ein Vermittler“, sagt Christoph Koch, der als Denkmalpfleger in Reuchlins Geburtsstadt Pforzheim das 2008 eröffnete Reuchlin-Museum aufgebaut hat und als „Reuchlinbeauftragter“ fungiert. Obwohl er die Bildungsrevolution, die den deutschen Protestantismus mit allen Folgen für die nationale Kultur groß machte, mit ermöglichte, ließ sich Reuchlin nicht recht in die heroische Luther-Story einfügen. Denn er schloss sich den Wittenberger Reformatoren nicht an, sondern blieb katholisch, obwohl er seinen Zögling und entfernten Verwandten Philipp Melanchthon, Luthers Mitstreiter, als ersten Gräzistikprofessor nach Wittenberg empfahl und ihm seinen griechischen Namen gab („Melanchthon“ für „Schwarzerdt“). Ein richtiger Märtyrer der Aufklärung wurde er in der Erinnerung aber auch nicht, weil er nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannte.
Zudem wurde Reuchlins Verteidigung der Juden, vorsichtig gesagt, in der nationalprotestantischen Rezeptionsgeschichte lange Zeit nicht besonders hervorgekehrt – ebenso sah man über Luthers antisemitische Spätschriften gerne hinweg, die zwanzig Jahre nach Reuchlins Tod erschienen. Reuchlins gelehrte Schriften und Hebräisch-Grammatiken wiederum blieben den meisten obskur, auch wenn er mit einer seiner ursprünglich lateinisch geschriebenen Komödien („Henno“) zeitweise Erfolge feierte.
Und heute? In Stuttgart gibt es im Gedenkjahr eine Reihe von Veranstaltungen, besonders aber hält Pforzheim das Erbe seines berühmtesten Sohnes lebendig. Phorcensis nannte sich Reuchlin, aus Pforzheim stammend. In der im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Stadt zwischen Stuttgart und Karlsruhe ist Reuchlins Geburtshaus nicht mehr genau lokalisierbar, aber als Anbau der Stiftskirche hat man an die Stelle der zerstörten Bibliothek geschickt das Reuchlin-Museum hineingebaut. Nebenan sind die Gräber der Markgrafen von Baden, deren Hof aber später nach Karlsruhe umzog. Zum 500. Todestag findet ein wissenschaftlicher Kongress statt; in einer Stadt mit hohem Migrationsanteil versucht man Reuchlin sonst eher weniger als Philologen, sondern als Anwalt von Mehrsprachigkeit, Neugier und Toleranz näher zu bringen. Im Schmuckmuseum – Pforzheim ist auf Feinmechanik spezialisiert – wird Reuchlins Faible für Redeschmuck gefeiert.
Und über allem schwebt ein Traum von der humanistischen Lebensform, die Johannes Reuchlin in einem Brief einmal so beschrieben hat: „dass alle göttlichen und menschlichen Dinge bei immer vollen Bechern bis in die späte Nacht hinein nach dem Vorbild des Aristoteles unparteiisch disputiert werden“.
Zum Märtyrer der Aufklärung
wurde er nie, weil er nicht auf
dem Scheiterhaufen landete
Johannes Reuchlin:
Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg. und übersetzt von Jan-Hendryk de Boer. Reclam, Ditzingen 2022. 173 S., 6,80 Euro.
Thomas Kaufmann:
Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte.
C.H. Beck, München 2022. 350 Seiten, 28 Euro.
Max Brod: Johannes Reuchlin und sein Kampf. Eine historische Monographie. Mit einem
Nachwort von Karl E. Grözinger. Wallstein, Göttingen 2022.
557 Seiten, 29,90 Euro.
Ein zeitgenössisches Porträt von Johannes Reuchlin (1455-1522) ist nicht erhalten, aber dieses Bildnis aus dem Lutherdenkmal in Worms wurde in seiner Geburtsstadt Pforzheim als Statue aufgestellt.
Foto: Klaus Kerth/Kulturamt Pforzheim
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