Ein Schriftsteller spürt dem Rätsel um den berühmtesten Gefangenen auf St. Helena nach: Napoleon, dessen Tod bis heute rätselhaft ist. Wie ist einem Mann zumute, der mit 46 Jahren auf eine einsame Insel verbannt wird, eine Insel, die so abgelegen ist, dass man die Gefangenen dort bis heute nicht hinter Schloss und Riegel zu setzen braucht? Und wie verkraftet er die Nachricht, dass er dieses öde Eiland zu seinen Lebzeiten nicht mehr verlassen wird? Kauffmann ist wie kein zweiter begabt, »den Geruch der Gefangenschaft« aufzuspüren, denn er hat selbst als französischer Journalist drei Jahre in libanesischer Haft verbracht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2000Die Firma Parfum de Paris beliefert Sankt Helena nicht
Jean-Paul Kauffmann bekam auf der Kerkerinsel nichts Schönes zu riechen und ist dennoch fasziniert
Sankt Helena ist eine kleine Insel. Kaum 122 Quadratkilometer Fläche beherbergen eine größere Siedlung (Jamestown, die Hauptstadt) und wenige Anwesen, teils villenartig, teils bloß bessere Gehöfte. Der Haupteinnahmezweig des Eilandes war vor der Erfindung der künstlichen Fasern und Gewebe der Flachs, heute leben die kaum sechseinhalbtausend Einwohner hauptsächlich von Fischerei und Weidewirtschaft. Bekannt ist die Insel allerdings durch einen anderen Umstand geworden, nämlich dadurch, dass der erste Kaiser der Franzosen nach seiner Niederlage bei Waterloo, wo er, wie man weiß, sein Waterloo erlebte, dorthin verbannt wurde. Sankt Helena ist also so etwas Ähnliches wie die Teufelsinsel, wo bekanntlich auch der Pfeffer wächst, wohin man missliebige Personen ja ohnedies oft genug wünscht, oder wie Alcatraz, von wo angeblich nur Vögel entfliehen können - eine Kerkerinsel.
Die Einwohner, die sich selbst stolz den Spitznamen Saints geben, hören das aber gar nicht gerne. Freilich, auch heute gibt es ein Gefängnis dort, aber da die Lage von Sankt Helena eine Flucht nicht gerade erleichtert (zirka 900 Seemeilen sind es nach Afrika, ungefähr 2200 Seemeilen nach Südamerika, zum Meeresgrund ist es etwas näher), sind die Haftbedingungen vergleichsweise angenehm. Auch soll von dort erst ein einziges Mal einem Häftling (1994, einem holländischen Kapitän, an Bord dessen Schiffes eine Ladung Drogen aufgebracht worden war) die Flucht geglückt sein.
Was weiß man sonst noch über Sankt Helena? Als Touristenziel ist die Insel mitten im Atlantik der südlichen Hemisphäre bislang nicht entdeckt worden. Das Klima ist eher zu feucht, die Insel selbst fällt an den meisten Stellen über schroffe Klippen zum Meer ab, die wenigen Strände sind irgendwie sumpfig, der einzige schiffbare Hafen ist Jamestown, die Eröffnung des geplanten Flughafens hat sich endlos verzögert. Nach wie vor gibt es als einzige Verbindung nur den Schiffsweg, und das Postboot der Royal Mail legt lediglich einmal die Woche an.
Doch es gibt ja auch nicht wirklich viel zu sehen. Die Insel ist Eigentum Großbritanniens, die Bewohner sind zum Großteil britische Staatsbürger und mit Ausnahme der kleinen französischen Enklave, die im Kern nur aus dem ehemaligen Gefängnis Napoleons besteht, kann man die Häuser aus der Zeit des kolonialen Wohlstandes in angenehmeren klimatischen Verhältnissen überall anders im britischen Commonwealth genauso gut besichtigen. Und das Grab Napoleons besteht aus einem eingefriedeten Stück Rasen und einer Gedenktafel; der Leichnam selbst wurde ja schon im Oktober 1840 nach Paris in den Invalidendom überführt.
"Die dunkle Kammer von Longwood" ist denn auch kein Reiseführer für Besucher Sankt Helenas. Freilich, ein Großteil der oben geschilderten Fakten ist dem Buch entnommen, aber dennoch ist Jean-Paul Kauffmanns Werk mehr als ein Cicerone des Eilandes. Kauffmann gesteht, "ein Faible für Bonaparte zu haben".
Wie sah Napoleon aus?
Das Ende Napoleons sieht der Autor schon in Eylau heraufdrängen, als nach der verheerenden Schlacht vom 8. Februar 1807 in der Nähe des Friedhofs der ehedem ostpreußischen, heute russischen Stadt Bagrationowsk nicht ganz klar war, wer denn nun eigentlich Sieger geblieben war. Es sollte sich schließlich herausstellen, dass die französischen Truppen die russischen nicht wirklich geschlagen, diese sich aber zurückgezogen hatten. Um zu beweisen, dass er der Sieger war, blieb Napoleon zwei ganze Tage auf diesem trostlosen, von blutig-zerfetzten Leibern übersäte Feld. Kauffmann, der vor seiner Reise nach Sankt Helena Eylau-Bagrationowsk aufgesucht hatte, sieht in diesen Tagen die entscheidende Wende im Handeln und Fühlen des Korsen. Nie mehr wollte dieser an jene Schlacht erinnert werden, die zwar keinen Pyrrhussieg, aber doch den bislang an Menschenleben teuersten Waffengang gebracht hatte.
Mit Bedacht sind auch die wenigen, leider schlecht reproduzierten Bilder in diesem Buch ausgewählt: Marchands Aquarell mit der Ansicht Longwoods, von Steubens Gemälde des seine Memoiren dem General Gourgaud diktierenden Kaisers, Gros Friedhof von Eylau (mit Detailvergrößerung) sowie Vernets kitschige Apotheose Napoleons. Von all diesen Gemälden hängen angeblich Reproduktionen in Longwood. Fast ein ganzes Kapitel widmet der Autor dem Porträt auf der Umschlagrückseite. Es handelt sich um das berühmte Bild des Schotten James Sant "The Last Phase", aus dem den Betrachter ein verbitterter, gealterter Napoleon mit schlaffen Gesichtszügen anblickt, für Kauffmann das wahrscheinlich beste Abbild des Kaisers kurz vor dessen Tod. Das Bild entstand allerdings wahrscheinlich erst gegen 1845 und ist im Museum von Glasgow zu bewundern. In der Villa auf Sankt Helena kann man eine Kohlezeichnung, wohl eine Vorstudie betrachten.
Was ist "Die dunkle Kammer von Longwood" nun eigentlich für ein Buch? Ein Reisetagebuch? Immer wieder eingestreut sind Anekdoten, Landschaftsbetrachtungen, Gespräche mit Mitreisenden, zumal einem älteren englischen Schwesternpaar, und das ganze Werk ist nach Tagen gegliedert - "Fünfter Tag: Die Stufen des Friedhofs - Dritte Begegnung mit den Engländerinnen - Der "Drahtvogel" - "Die beiden Reiter" und so weiter im Tagebuchstil.
Oder handelt es sich um ein Lebensbild? Der Autor hat die meisten der im Umlauf befindlichen Beschreibungen Napoleons durchgearbeitet. An "La dernière phase", von Rosebery 1901 in Paris herausgegeben, bringt er wiederholt Kritik an: "In Wahrheit interessiert den Autor einzig und allein das Aussehen Napoleons. Er registriert Hinweise auf die widersprüchliche und letztlich ungreifbare Beschaffenheit seiner körperlichen Erscheinung." Faszinierend? Für Kauffmann bestimmt. Schließlich hat er akribisch nicht nur die bereits 1926 erschienenen Aufzeichnungen des persönlichen Kammerdieners Napoleons, Ali, zu Rate gezogen, sondern sich auch um Zugang zu dessen bislang unveröffentlichten Manuskripten im Archiv der Stiftung Jourquin bemüht. Dazu kommen noch die Werke der Leibärzte O'Meara und Antonmarchi sowie die Tagebücher der Gegenseite, der Bewacher des Generals Buonpaparte, wie die Engländer, allen voran der Garnisonschef auf Sankt Helena, Hudson Lowe, Napoleon nannten.
Ist "Die dunkle Kammer von Longwood" also eine Biographie? Kauffmann spekuliert über Fluchtpläne des Generals Buonaparte, über seine Möglichkeiten, nach der belgischen Niederlage in die Vereinigten Staaten zu emigrieren, und echauffiert sich über die Chronisten und Mitgefangenen. Diese "Evangelisten verzeichnen mit religiösem Eifer jeden Blödsinn, den sie hören. Es sind Militärs, keine Literaten." Es könnte sich aber auch um ein theoretisches Werk über die Psychologie, welche aus Porträts spricht, handeln. Genaue Beschreibungen und Interpretationen der ausgewählten Werke rücken auch dies in den Bereich des Möglichen. Oder geht es um Architektur? Penibel wird das Anwesen Longwood beschrieben, werden die einzelnen Bauphasen bis zur immer wieder erfolgten Erneuerung der Böden wegen Termitenfraßes besprochen.
Ebenso spürt Kauffmann aber immer wieder auch den olfaktorischen Eindrücken nach, die ihm der Ort aufdrängt. Er selbst schmuggelt ein dem Originalrezept entsprechendes Eau de Cologne Napoleons in die Villa und öffnet das Fläschchen im Badezimmer. Doch bald muss er die Vergeblichkeit seines Strebens einsehen: "All diese Wegmarken, all diese Kiesel, die ich von Eylau an aufgesammelt habe, ergeben nur einen Haufen Steine, aus denen nie ein Haus entstanden ist. Gewiss, zum ersten Mal seit über hundertsiebzig Jahren duftet dieser Raum nach dem Eau de Toilette. Was aber soll's."
Nüchtern stellt Kauffmann fest: "Die Ursache des typisch Longwoodschen Geruchs ist weiter nichts als ein Termitenvertilgungsmittel." Und resignierend vermerkt er: "Das Unklare, das Unnennbare versperren für immer den Zugang zu den geheimen Türen von Longwood und seinen dunklen Korridoren."
Dieses Werk ist von alldem etwas, eine anspruchsvolle und unterhaltsame Lektüre. Die Übersetzung von Rolf und Hedda Soellner ist gelungen, wenn sich auch einige wenige störende Druck- und Grammatikfehler eingeschlichen haben. Portikus ist und bleibt nun mal weiblichen Geschlechts.
Schreiben Sie uns!
Bei der Recherche zu dieser Besprechung tat sich übrigens ein weiteres Rätsel auf. Der oft angesprochene Michel Martineau wird von Kauffmann als Konsul oder konsularischer Vertreter Frankreichs angesprochen, die zuständige Abteilung der französischen Vertretung behauptet aber steif und fest, auf Sankt Helena durch keinen Konsul, vielmehr nur durch einen Archivar, der das "Haus des Monsieur Buonaparte" betreut, vertreten zu sein. Interessanterweise findet man aber im World Wide Web mit Hilfe der Suchbegriffe "Sankt Helena" und "Martineau" unter anderem auch einen Bericht eines südafrikanischen Weltenbummlers, der über ein Treffen mit ebenjenem Konsul berichtet (http://travel.iafrica.com/destin/worlddest/dest980617.htm). Will man die ganze Wahrheit erfahren, so kann man durchaus versuchen, mit der Insel im südlichen Atlantik Kontakt aufzunehmen: Michel Martineau, Longwood House, Île de St.-Hélène, Atlantique Sud. Schreiben Sie doch einem einsamen Honorarkonsul!
MARTIN LHOTZKY
Jean-Paul Kauffmann: "Die dunkle Kammer von Longwood". Meine Reise nach St. Helena. Aus dem Französischen von Rolf und Hedda Soellner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999. 302 S., 5 Abb., 2 Karten, geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jean-Paul Kauffmann bekam auf der Kerkerinsel nichts Schönes zu riechen und ist dennoch fasziniert
Sankt Helena ist eine kleine Insel. Kaum 122 Quadratkilometer Fläche beherbergen eine größere Siedlung (Jamestown, die Hauptstadt) und wenige Anwesen, teils villenartig, teils bloß bessere Gehöfte. Der Haupteinnahmezweig des Eilandes war vor der Erfindung der künstlichen Fasern und Gewebe der Flachs, heute leben die kaum sechseinhalbtausend Einwohner hauptsächlich von Fischerei und Weidewirtschaft. Bekannt ist die Insel allerdings durch einen anderen Umstand geworden, nämlich dadurch, dass der erste Kaiser der Franzosen nach seiner Niederlage bei Waterloo, wo er, wie man weiß, sein Waterloo erlebte, dorthin verbannt wurde. Sankt Helena ist also so etwas Ähnliches wie die Teufelsinsel, wo bekanntlich auch der Pfeffer wächst, wohin man missliebige Personen ja ohnedies oft genug wünscht, oder wie Alcatraz, von wo angeblich nur Vögel entfliehen können - eine Kerkerinsel.
Die Einwohner, die sich selbst stolz den Spitznamen Saints geben, hören das aber gar nicht gerne. Freilich, auch heute gibt es ein Gefängnis dort, aber da die Lage von Sankt Helena eine Flucht nicht gerade erleichtert (zirka 900 Seemeilen sind es nach Afrika, ungefähr 2200 Seemeilen nach Südamerika, zum Meeresgrund ist es etwas näher), sind die Haftbedingungen vergleichsweise angenehm. Auch soll von dort erst ein einziges Mal einem Häftling (1994, einem holländischen Kapitän, an Bord dessen Schiffes eine Ladung Drogen aufgebracht worden war) die Flucht geglückt sein.
Was weiß man sonst noch über Sankt Helena? Als Touristenziel ist die Insel mitten im Atlantik der südlichen Hemisphäre bislang nicht entdeckt worden. Das Klima ist eher zu feucht, die Insel selbst fällt an den meisten Stellen über schroffe Klippen zum Meer ab, die wenigen Strände sind irgendwie sumpfig, der einzige schiffbare Hafen ist Jamestown, die Eröffnung des geplanten Flughafens hat sich endlos verzögert. Nach wie vor gibt es als einzige Verbindung nur den Schiffsweg, und das Postboot der Royal Mail legt lediglich einmal die Woche an.
Doch es gibt ja auch nicht wirklich viel zu sehen. Die Insel ist Eigentum Großbritanniens, die Bewohner sind zum Großteil britische Staatsbürger und mit Ausnahme der kleinen französischen Enklave, die im Kern nur aus dem ehemaligen Gefängnis Napoleons besteht, kann man die Häuser aus der Zeit des kolonialen Wohlstandes in angenehmeren klimatischen Verhältnissen überall anders im britischen Commonwealth genauso gut besichtigen. Und das Grab Napoleons besteht aus einem eingefriedeten Stück Rasen und einer Gedenktafel; der Leichnam selbst wurde ja schon im Oktober 1840 nach Paris in den Invalidendom überführt.
"Die dunkle Kammer von Longwood" ist denn auch kein Reiseführer für Besucher Sankt Helenas. Freilich, ein Großteil der oben geschilderten Fakten ist dem Buch entnommen, aber dennoch ist Jean-Paul Kauffmanns Werk mehr als ein Cicerone des Eilandes. Kauffmann gesteht, "ein Faible für Bonaparte zu haben".
Wie sah Napoleon aus?
Das Ende Napoleons sieht der Autor schon in Eylau heraufdrängen, als nach der verheerenden Schlacht vom 8. Februar 1807 in der Nähe des Friedhofs der ehedem ostpreußischen, heute russischen Stadt Bagrationowsk nicht ganz klar war, wer denn nun eigentlich Sieger geblieben war. Es sollte sich schließlich herausstellen, dass die französischen Truppen die russischen nicht wirklich geschlagen, diese sich aber zurückgezogen hatten. Um zu beweisen, dass er der Sieger war, blieb Napoleon zwei ganze Tage auf diesem trostlosen, von blutig-zerfetzten Leibern übersäte Feld. Kauffmann, der vor seiner Reise nach Sankt Helena Eylau-Bagrationowsk aufgesucht hatte, sieht in diesen Tagen die entscheidende Wende im Handeln und Fühlen des Korsen. Nie mehr wollte dieser an jene Schlacht erinnert werden, die zwar keinen Pyrrhussieg, aber doch den bislang an Menschenleben teuersten Waffengang gebracht hatte.
Mit Bedacht sind auch die wenigen, leider schlecht reproduzierten Bilder in diesem Buch ausgewählt: Marchands Aquarell mit der Ansicht Longwoods, von Steubens Gemälde des seine Memoiren dem General Gourgaud diktierenden Kaisers, Gros Friedhof von Eylau (mit Detailvergrößerung) sowie Vernets kitschige Apotheose Napoleons. Von all diesen Gemälden hängen angeblich Reproduktionen in Longwood. Fast ein ganzes Kapitel widmet der Autor dem Porträt auf der Umschlagrückseite. Es handelt sich um das berühmte Bild des Schotten James Sant "The Last Phase", aus dem den Betrachter ein verbitterter, gealterter Napoleon mit schlaffen Gesichtszügen anblickt, für Kauffmann das wahrscheinlich beste Abbild des Kaisers kurz vor dessen Tod. Das Bild entstand allerdings wahrscheinlich erst gegen 1845 und ist im Museum von Glasgow zu bewundern. In der Villa auf Sankt Helena kann man eine Kohlezeichnung, wohl eine Vorstudie betrachten.
Was ist "Die dunkle Kammer von Longwood" nun eigentlich für ein Buch? Ein Reisetagebuch? Immer wieder eingestreut sind Anekdoten, Landschaftsbetrachtungen, Gespräche mit Mitreisenden, zumal einem älteren englischen Schwesternpaar, und das ganze Werk ist nach Tagen gegliedert - "Fünfter Tag: Die Stufen des Friedhofs - Dritte Begegnung mit den Engländerinnen - Der "Drahtvogel" - "Die beiden Reiter" und so weiter im Tagebuchstil.
Oder handelt es sich um ein Lebensbild? Der Autor hat die meisten der im Umlauf befindlichen Beschreibungen Napoleons durchgearbeitet. An "La dernière phase", von Rosebery 1901 in Paris herausgegeben, bringt er wiederholt Kritik an: "In Wahrheit interessiert den Autor einzig und allein das Aussehen Napoleons. Er registriert Hinweise auf die widersprüchliche und letztlich ungreifbare Beschaffenheit seiner körperlichen Erscheinung." Faszinierend? Für Kauffmann bestimmt. Schließlich hat er akribisch nicht nur die bereits 1926 erschienenen Aufzeichnungen des persönlichen Kammerdieners Napoleons, Ali, zu Rate gezogen, sondern sich auch um Zugang zu dessen bislang unveröffentlichten Manuskripten im Archiv der Stiftung Jourquin bemüht. Dazu kommen noch die Werke der Leibärzte O'Meara und Antonmarchi sowie die Tagebücher der Gegenseite, der Bewacher des Generals Buonpaparte, wie die Engländer, allen voran der Garnisonschef auf Sankt Helena, Hudson Lowe, Napoleon nannten.
Ist "Die dunkle Kammer von Longwood" also eine Biographie? Kauffmann spekuliert über Fluchtpläne des Generals Buonaparte, über seine Möglichkeiten, nach der belgischen Niederlage in die Vereinigten Staaten zu emigrieren, und echauffiert sich über die Chronisten und Mitgefangenen. Diese "Evangelisten verzeichnen mit religiösem Eifer jeden Blödsinn, den sie hören. Es sind Militärs, keine Literaten." Es könnte sich aber auch um ein theoretisches Werk über die Psychologie, welche aus Porträts spricht, handeln. Genaue Beschreibungen und Interpretationen der ausgewählten Werke rücken auch dies in den Bereich des Möglichen. Oder geht es um Architektur? Penibel wird das Anwesen Longwood beschrieben, werden die einzelnen Bauphasen bis zur immer wieder erfolgten Erneuerung der Böden wegen Termitenfraßes besprochen.
Ebenso spürt Kauffmann aber immer wieder auch den olfaktorischen Eindrücken nach, die ihm der Ort aufdrängt. Er selbst schmuggelt ein dem Originalrezept entsprechendes Eau de Cologne Napoleons in die Villa und öffnet das Fläschchen im Badezimmer. Doch bald muss er die Vergeblichkeit seines Strebens einsehen: "All diese Wegmarken, all diese Kiesel, die ich von Eylau an aufgesammelt habe, ergeben nur einen Haufen Steine, aus denen nie ein Haus entstanden ist. Gewiss, zum ersten Mal seit über hundertsiebzig Jahren duftet dieser Raum nach dem Eau de Toilette. Was aber soll's."
Nüchtern stellt Kauffmann fest: "Die Ursache des typisch Longwoodschen Geruchs ist weiter nichts als ein Termitenvertilgungsmittel." Und resignierend vermerkt er: "Das Unklare, das Unnennbare versperren für immer den Zugang zu den geheimen Türen von Longwood und seinen dunklen Korridoren."
Dieses Werk ist von alldem etwas, eine anspruchsvolle und unterhaltsame Lektüre. Die Übersetzung von Rolf und Hedda Soellner ist gelungen, wenn sich auch einige wenige störende Druck- und Grammatikfehler eingeschlichen haben. Portikus ist und bleibt nun mal weiblichen Geschlechts.
Schreiben Sie uns!
Bei der Recherche zu dieser Besprechung tat sich übrigens ein weiteres Rätsel auf. Der oft angesprochene Michel Martineau wird von Kauffmann als Konsul oder konsularischer Vertreter Frankreichs angesprochen, die zuständige Abteilung der französischen Vertretung behauptet aber steif und fest, auf Sankt Helena durch keinen Konsul, vielmehr nur durch einen Archivar, der das "Haus des Monsieur Buonaparte" betreut, vertreten zu sein. Interessanterweise findet man aber im World Wide Web mit Hilfe der Suchbegriffe "Sankt Helena" und "Martineau" unter anderem auch einen Bericht eines südafrikanischen Weltenbummlers, der über ein Treffen mit ebenjenem Konsul berichtet (http://travel.iafrica.com/destin/worlddest/dest980617.htm). Will man die ganze Wahrheit erfahren, so kann man durchaus versuchen, mit der Insel im südlichen Atlantik Kontakt aufzunehmen: Michel Martineau, Longwood House, Île de St.-Hélène, Atlantique Sud. Schreiben Sie doch einem einsamen Honorarkonsul!
MARTIN LHOTZKY
Jean-Paul Kauffmann: "Die dunkle Kammer von Longwood". Meine Reise nach St. Helena. Aus dem Französischen von Rolf und Hedda Soellner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999. 302 S., 5 Abb., 2 Karten, geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Bevor Martin Lhotzky auf das Buch zu sprechen kommt, teilt er uns dankenswerterweise erst einmal mit, wo genau St. Helena eigentlich liegt: "Zirka 900 Seemeilen sind es nach Afrika, ungefähr 220 Seemeilen nach Südamerika, zum Meeresgrund ist es etwas näher." Das Buch selbst findet Lhotzky etwas schwierig einzuordnen - ist es ein Reisetagebuch? Eine Biografie? Es hat "von alldem etwas, eine anspruchsvolle und unterhaltsame Lektüre", lobt er schließlich. Lhotzky würdigt referierend die Anekdoten, Landschaftsbetrachtungen und Gespräche mit Mitreisenden, die Kauffmann beschrieben hat. Besonders hebt der Rezensent die Beschreibung der "olfaktorischen Eindrücke" hervor. Und auch von einer Kuriosität weiß er zu berichten: Auf der britischen Insel St. Helena, obwohl kaum 122 Quadratkilometer groß, gibt es eine winzige französische Enklave, eben das Stückchen Erde, auf dem Napoleons Gefängnis Longwood steht. Nach Kauffmann gebietet darüber Michel Martineau, Konsul Frankreichs. Die französische Regierung bestreitet jedoch die Existenz eines Konsuls auf St. Helena, hat Lhotzky recherchiert. Wer es genau wissen will oder Fragen zu Napoleons Tod hat, kann Monsieur Martineau jedoch selbst anschreiben: Michel Martineau, Longwood House, Île de St.-Hélène, Atlantique Sud.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"In sprachmächtigen Passagen beschwört Kauffmann die Atmosphäre des Ortes herauf, eine tropfenweise verrinnende Melancholie, die an Baudelaire erinnert. (...) Ein kluges, überaus fesselndes Buch."
Thomas Kastura, Rheinischer Merkur, 06.08.1999
"Ein wunderbares Buch. (...) Eben darin liegt die Faszination dieses Buchs, dass es gleichsam die Zeit in der Schwebe hält, die Vergangenheit als Gegenwart beschwört, deren Vergänglichkeit durch den Duft transzendiert wird. Kauffmann ist ein Buch gelungen, das anschaulicher und im dramaturgischen Sinn des Wortes auch 'wahrer' ist als alle die zahllosen hagiographischen Schriften, die das Drama des Verbannten von Sankt Helena bislang zu beschwören suchten."
Johannes Willms, Süddeutsche Zeitung, 17.18./07.1999
Thomas Kastura, Rheinischer Merkur, 06.08.1999
"Ein wunderbares Buch. (...) Eben darin liegt die Faszination dieses Buchs, dass es gleichsam die Zeit in der Schwebe hält, die Vergangenheit als Gegenwart beschwört, deren Vergänglichkeit durch den Duft transzendiert wird. Kauffmann ist ein Buch gelungen, das anschaulicher und im dramaturgischen Sinn des Wortes auch 'wahrer' ist als alle die zahllosen hagiographischen Schriften, die das Drama des Verbannten von Sankt Helena bislang zu beschwören suchten."
Johannes Willms, Süddeutsche Zeitung, 17.18./07.1999