Der Wirtschaftsanwalt Urs Blank hat gelernt, keine Schwächen zu zeigen, die der anderen aber um so mehr auszunutzen. Er bemüht sich intensiv um die schöne Lucille, die ihn in die magische Welt der halluzinogenen Pilze einführt.
Bei einem Trip führt der Genuß eines unbekannten zyanblauen Pilzes zu einer erschreckenden Persönlichkeitsveränderung. Blank fühlt sich gottgleich und gibt selbst der gefährlichsten Gefühlsregung sofort nach. Als er die damit verbundene Gefahr erkennt, flieht er in den Wald, den einzigen Ort, wo er zur Ruhe kommt und lernt dort das Überleben.
Schließlich erkennt er, dass es nur einen Weg gibt, diesen Albtraum zu beenden.
Bei einem Trip führt der Genuß eines unbekannten zyanblauen Pilzes zu einer erschreckenden Persönlichkeitsveränderung. Blank fühlt sich gottgleich und gibt selbst der gefährlichsten Gefühlsregung sofort nach. Als er die damit verbundene Gefahr erkennt, flieht er in den Wald, den einzigen Ort, wo er zur Ruhe kommt und lernt dort das Überleben.
Schließlich erkennt er, dass es nur einen Weg gibt, diesen Albtraum zu beenden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2000Pilze für den Staranwalt
In seinem zweiten Roman erzählt Martin Suter, wie Urs Blank Teil des Waldes wurde
Nach mehr als einem Monat im Wald stellt Urs Blank zum ersten Mal einen Jäger. Der ehemalige Schweizer Staranwalt mit verfilztem Bart und in zerrissener Kleidung zwingt den dicken Waidmann vom Pferd und konfisziert dessen Steinpilzbeute. Dann führt er den Verdutzten zu einem Felsvorsprung und stößt ihn wortlos in die Tiefe. Auf Blanks Befehl duckt sich der Hund des Opfers am Abgrund nieder und blickt traurig zu seinem toten Herrchen hinunter: Wenn er treu genug ist, wird er verhungern.
Seine Führungsqualitäten hat der Held des neuen Romans von Martin Suter offenbar auch im Schweizer Forst nicht verloren. Doch das Ich des vormaligen Spezialisten für schwierige Fusionsverhandlungen, hat sich gänzlich aufgespalten nachdem er einen halluzinogenen Pilz im Rubliholz verspeist hatte. Fortan gerät seine Welt völlig aus den Fugen: Moralische Skrupel verschwinden im Waldesdickicht; die Bäume und Früchte mutieren zu künstlichen Paradiesen, und nichts scheint dem mykologisch interessierten Juristen erstrebenswerter, als sich in einer berauschenden Überdosis eidgenössischer Flora und Fauna zu verlieren.
Der 51-jährige literarische Spätzünder Martin Suter ist in der Werbebranche groß geworden und galt in jungen Jahren als umschwärmtes Ausnahmetalent. Seit langem veröffentlicht er Kolumnen zur „Business Class”; sein für den größten Detailhändler des Landes erfundener Reklamehund schwanzwedelt noch heute hin und wieder durchs Schweizer Kinovorprogramm. „Einen kenne ich”, sagte der Essayist und politische Schriftsteller Niklaus Meienberg 1988 vor staunenden Werbefachleuten, „der macht Käsereklame, und siehe da, wirklich, an seinen Wörtern konnte man sich delektieren, man bekam nicht nur Lust auf Emmentaler, sondern auch auf weitere Kostproben seiner Sprache. Wie könnte sich dieses Talent entwickeln, wenn er sich, außer vom Käse, noch von anderen Objekten inspirieren ließe. ”
Mit dem Roman Die dunkle Seite des Mondes nun hat Suter ein mit allerlei Bärtigen Ritterlingen, Mönchsköpfen, Graustieltäublingen, Tintlingen und Safrangelben Samthäubchen garniertes Menü angerichtet, das an keiner Stelle ungenießbar wird. Nach Small World (1997), dem ersten Alzheimerroman der Literaturgeschichte, hat er nunmehr ein Buch aus dem dunklen Reich der Pilze vorgelegt, das zugleich raffinierter Wirtschaftskrimi, giftiges Gesellschaftspanorama, verhinderte Liebesgeschichte und psychologisches Vexierspiel ist – und darüber hinaus noch ein zentrales Thema des Autors (das der schleichenden Persönlichkeitsveränderung und Orientierungslosigkeit nämlich) konsequent weiterschreibt.
Nach einer grotesken Hatz durch einen räuberischen Spekulanten und Großwildjäger verschmilzt Martin Suters Wirtschaftsanwalt am Ende doch noch auf äußerst köstliche, wenig tröstliche Weise mit dem Schweizer Forst: „Urs Blank wurde Teil des Waldes”. Seit Alfred Döblin, der seinen Kaufmann Herrn Michael Fischer mit dem letzten Satz der Erzählung Die Ermordung einer Butterblume 1910 einfach lachend und prustend „in dem Dunkel des Bergwaldes” verschwinden ließ, hat wohl kein deutschsprachiger Autor seine Figur derart schlüssig mit einem Gehölz fusionieren lassen.
THOMAS KÖSTER
MARTIN SUTER: Die dunkle Seite des Mondes. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 316 Seiten, 39,90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
In seinem zweiten Roman erzählt Martin Suter, wie Urs Blank Teil des Waldes wurde
Nach mehr als einem Monat im Wald stellt Urs Blank zum ersten Mal einen Jäger. Der ehemalige Schweizer Staranwalt mit verfilztem Bart und in zerrissener Kleidung zwingt den dicken Waidmann vom Pferd und konfisziert dessen Steinpilzbeute. Dann führt er den Verdutzten zu einem Felsvorsprung und stößt ihn wortlos in die Tiefe. Auf Blanks Befehl duckt sich der Hund des Opfers am Abgrund nieder und blickt traurig zu seinem toten Herrchen hinunter: Wenn er treu genug ist, wird er verhungern.
Seine Führungsqualitäten hat der Held des neuen Romans von Martin Suter offenbar auch im Schweizer Forst nicht verloren. Doch das Ich des vormaligen Spezialisten für schwierige Fusionsverhandlungen, hat sich gänzlich aufgespalten nachdem er einen halluzinogenen Pilz im Rubliholz verspeist hatte. Fortan gerät seine Welt völlig aus den Fugen: Moralische Skrupel verschwinden im Waldesdickicht; die Bäume und Früchte mutieren zu künstlichen Paradiesen, und nichts scheint dem mykologisch interessierten Juristen erstrebenswerter, als sich in einer berauschenden Überdosis eidgenössischer Flora und Fauna zu verlieren.
Der 51-jährige literarische Spätzünder Martin Suter ist in der Werbebranche groß geworden und galt in jungen Jahren als umschwärmtes Ausnahmetalent. Seit langem veröffentlicht er Kolumnen zur „Business Class”; sein für den größten Detailhändler des Landes erfundener Reklamehund schwanzwedelt noch heute hin und wieder durchs Schweizer Kinovorprogramm. „Einen kenne ich”, sagte der Essayist und politische Schriftsteller Niklaus Meienberg 1988 vor staunenden Werbefachleuten, „der macht Käsereklame, und siehe da, wirklich, an seinen Wörtern konnte man sich delektieren, man bekam nicht nur Lust auf Emmentaler, sondern auch auf weitere Kostproben seiner Sprache. Wie könnte sich dieses Talent entwickeln, wenn er sich, außer vom Käse, noch von anderen Objekten inspirieren ließe. ”
Mit dem Roman Die dunkle Seite des Mondes nun hat Suter ein mit allerlei Bärtigen Ritterlingen, Mönchsköpfen, Graustieltäublingen, Tintlingen und Safrangelben Samthäubchen garniertes Menü angerichtet, das an keiner Stelle ungenießbar wird. Nach Small World (1997), dem ersten Alzheimerroman der Literaturgeschichte, hat er nunmehr ein Buch aus dem dunklen Reich der Pilze vorgelegt, das zugleich raffinierter Wirtschaftskrimi, giftiges Gesellschaftspanorama, verhinderte Liebesgeschichte und psychologisches Vexierspiel ist – und darüber hinaus noch ein zentrales Thema des Autors (das der schleichenden Persönlichkeitsveränderung und Orientierungslosigkeit nämlich) konsequent weiterschreibt.
Nach einer grotesken Hatz durch einen räuberischen Spekulanten und Großwildjäger verschmilzt Martin Suters Wirtschaftsanwalt am Ende doch noch auf äußerst köstliche, wenig tröstliche Weise mit dem Schweizer Forst: „Urs Blank wurde Teil des Waldes”. Seit Alfred Döblin, der seinen Kaufmann Herrn Michael Fischer mit dem letzten Satz der Erzählung Die Ermordung einer Butterblume 1910 einfach lachend und prustend „in dem Dunkel des Bergwaldes” verschwinden ließ, hat wohl kein deutschsprachiger Autor seine Figur derart schlüssig mit einem Gehölz fusionieren lassen.
THOMAS KÖSTER
MARTIN SUTER: Die dunkle Seite des Mondes. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 316 Seiten, 39,90 Mark.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2000Pilze für den Wirtschaftsanwalt
Martin Suter erkundet die dunkle Seite des Mondes
Die Cambridger Elektronikingenieure Pink Floyd versuchten in dem bombastischen Konzeptalbum "Dark Side of the Moon" (1973) die musikalische Zusammenführung der reduplizierten Stimmen der Natur und des Kosmos mit den Klängen und Klagen des technischen Zeitalters. In der perfekten Kontrolle der technischen Mittel wurde ein merkwürdiges Liebäugeln mit einem archaischen Anderen als Wahnsinn ins Werk gesetzt. So heißt es in dem Stück "Brain Damage": "Und wenn dein Kopf vor dunklen Ahnungen explodiert, dann treffen wir uns auf der dunklen Seite des Mondes." Im Internet kursiert der Titel des Albums als Chiffre mehr oder weniger düsterer Theorien der "Synchronizität", nach denen alles mit allem zusammenhängt. Die Musik aber erfreut sich weltweiter Beliebtheit als Stimulans beim Konsum bewusstseinserweiternder Drogen.
In Martin Suters Roman spielt die Platte formal wie inhaltlich eine Schlüsselrolle. Der Zürcher Wirtschaftsanwalt Dr. Urs Blank ist Spezialist für Megafusionen und hat bisher mit Pink Floyd und Drogen nichts zu tun gehabt. Seine dunklen Seiten bestehen in einer schwarzen Limousine der Marke Jaguar und Maßanzügen aus der Savile Row. Er erfreut sich bester geistiger Gesundheit und zur Bewusstseinserweiterung reicht ihm ein alter Bordeaux. Er hat sich jederzeit unter Kontrolle und weiß mit den Widersprüchen der modernen Welt umzugehen. Eine erste Ehe und Midlifecrisis hat er "mit Anstand" hinter sich gebracht, nun ist mit Evelyne Vogt, der Besitzerin eines Design-Geschäfts, ein schönes, komfortables Leben arrangiert, in dem nichts zu fehlen scheint. Jedoch, so meint jedenfalls Evelynes Beraterin, die Gesellschaftsdame Ruth Zopp: "Bedeutende Männer haben mehr als eine Midlifecrisis."
Der Auslöser einer seltsamen Veränderung des Mannes ist aber nicht wie üblich das Erscheinen einer Frau, sondern ein lang entbehrter Waldspaziergang, auf dem sich die ersten dunklen Ahnungen einstellen. Derart an das vergessene Natürliche erinnert, öffnen sich dem vollendet zivilisierten Menschen die Sinne für andere, für archaische Erfahrungen. In einer an Proust gemahnenden Episode fördert der Geruch von Räucherkerzen mit Sandelholz-Aroma diffuse Erinnerungen zutage und öffnet ihm die Augen für die die Schönheit der Verkäuferin dieser Waren, des Hippie-Mädchens Lucille Roth. Mehrfach vitalisiert, wird Blank nun von Abenteuerlust ergriffen, die sich aber zunächst lediglich zwischen "Flohmarktstand und multinationalen Konzernen" erproben will.
Der Liebelei mit dem einfach denkenden und wahrhaftigen Hippie-Mädchen wird die Auseinandersetzung mit seinen beiden Gegenspielern kontrastiert, dem undurchschaubaren Jäger, Eigenbrötler und internationalen Spekulanten Pius Ott, der in Blank einen Gleichgesinnten vermutet, und dem autokratischen Wirtschaftsmagnaten Anton Huwyler, der den größten Versicherungskonzern der Welt plant. Bald jedoch bemerken Blanks Geschäftspartner und Freunde an ihm sonderbare Veränderungen. Der umgängliche Mensch wird plötzlich grob und scheint jeder Laune nachzugeben. Trotz zunehmender Einsicht in deren Korruptheit hat er nicht vor, seine Welt des Geldes und des schönen Lebens zu verlassen. Lucille jedoch nötigt ihm Gleichberechtigung ab und entführt ihn in die Sphäre zivilisationskritischer Drogenrituale. Zu Pink Floyds Musik kommt er in den Genuss seltener halluzinogener Pilze, was nun eine so stringent erzählte wie inhaltlich vertrackte Entwicklung auslöst, die Suter mit filmischer Technik virtuos in Szene setzt. Von nun an wird Blank zielstrebig und doch mit Spannung erzeugenden Umwegen seiner Bestimmung zugeführt: dem Wald als Gegenwelt.
In mannigfaltigen Anknüpfungen an das Pink-Floyd-Werk entfaltet Suter die Geschichte im Wechsel zwischen Innen- und Außensicht als Exempel einer Dialektik der Aufklärung. Zwischen der Welt des technischen Fortschritts, der Naturbeherrschung und des Geldes, der Sphäre des menschenfernen Waldes und des archaischen Kampfs ums Dasein und dem Reich der Träume und Wahnvorstellungen stellen sich so Korrespondenzen her. Im Mittelpunkt von Suters subtilem Verweisungsspiel befindet sich ein Jagdmesser mit der Aufschrift "Never hesitate", das Pius Ott Urs Blank schenkt, wie überhaupt die Requisiten mit Symbolik geladen werden. "Alles hängt irgendwie zusammen", sagt Lucille, und so wächst sich die Geschichte zentriert von der Bildlichkeit des Kampfes um einen Wald von Symbolen aus, je mehr Blank sich in die Geheimnisse der Natur und seines Bewusstseins vertieft. Wie seit Tieck oder E.T.A. Hoffmann erscheint dabei der Wald als Projektionsraum des von Aufklärung Verdrängten, in dem sich alles spiegelt, was der Wirklichkeit der Geldwirtschaft als Antrieb unbewusst geworden ist.
Die Geschichte erreicht ihre dramatische Phase, wenn dem Helden im Rausch das Erlebnis eines reinen Idealismus widerfährt: "Alles, was er bisher getan, gedacht, gelernt und gefühlt hatte, beruhte auf einem einzigen, gewaltigen Irrtum. Gut, bös, falsch, richtig, schön, hässlich, ich, du, mein, dein: alles Werte einer Skala, die die große, letzte Wahrheit außer acht ließ: Es gibt keine Vergleichsgrößen. Weil es nichts gibt. Es existiert nur eine einzige Wirklichkeit: Urs Blank." Aus der Perspektive der Menschenwelt, in den Augen seines Freundes, des Psychotherapeuten Alfred Wenger, aber erscheint diese Bewusstseinsverfassung als Schrecken erregende und zugleich lächerliche Geistesverwirrung, als vollendete Inhumanität, die der Heilung bedarf. Die Anstrengung einer höchst ambivalenten Rettung des Allgemeinmenschlichen bewegt fortan die dramaturgisch meisterhaft gestaltete Handlung, deren Fort- und Ausgang nicht verraten werden darf. Nur so viel, dass sie sich zum Kriminalfall entwickelt, der Aufklärung im doppelten Sinne erfordert. Diese ist einer Figur von Dürrenmatt'scher Bonhomie aufgegeben, dem Landpolizisten Rolf Blaser.
Suters Roman ist ein philosophisch gegründetes Gedankenspiel um die Wirklichkeit des Unwirklichen und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und auch darüber, wie wenig es bedarf, um die menschlichen Konstruktionen und Vereinbarungen zusammenbrechen zu lassen. Vor allem aber ist er eine gründlich recherchierte, präzise, elegant und humorvoll geschriebene Geschichte, realistisch und phantastisch zugleich. Der Leser, der sich einmal auf "Die dunkle Seite des Mondes" hat ziehen lassen, wird das Buch bis zum ebenso überraschenden wie stimmigen Finale nicht mehr aus der Hand legen wollen. Die geistige Gesundheit ist dabei nicht gefährdet. Vielmehr bietet Martin Suter mit raffiniert adaptierten klassischen Mitteln ein Optimum an Belehrung, Spannung und Vergnügen.
FRIEDMAR APEL
Martin Suter: "Die dunkle Seite des Mondes". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 315 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Suter erkundet die dunkle Seite des Mondes
Die Cambridger Elektronikingenieure Pink Floyd versuchten in dem bombastischen Konzeptalbum "Dark Side of the Moon" (1973) die musikalische Zusammenführung der reduplizierten Stimmen der Natur und des Kosmos mit den Klängen und Klagen des technischen Zeitalters. In der perfekten Kontrolle der technischen Mittel wurde ein merkwürdiges Liebäugeln mit einem archaischen Anderen als Wahnsinn ins Werk gesetzt. So heißt es in dem Stück "Brain Damage": "Und wenn dein Kopf vor dunklen Ahnungen explodiert, dann treffen wir uns auf der dunklen Seite des Mondes." Im Internet kursiert der Titel des Albums als Chiffre mehr oder weniger düsterer Theorien der "Synchronizität", nach denen alles mit allem zusammenhängt. Die Musik aber erfreut sich weltweiter Beliebtheit als Stimulans beim Konsum bewusstseinserweiternder Drogen.
In Martin Suters Roman spielt die Platte formal wie inhaltlich eine Schlüsselrolle. Der Zürcher Wirtschaftsanwalt Dr. Urs Blank ist Spezialist für Megafusionen und hat bisher mit Pink Floyd und Drogen nichts zu tun gehabt. Seine dunklen Seiten bestehen in einer schwarzen Limousine der Marke Jaguar und Maßanzügen aus der Savile Row. Er erfreut sich bester geistiger Gesundheit und zur Bewusstseinserweiterung reicht ihm ein alter Bordeaux. Er hat sich jederzeit unter Kontrolle und weiß mit den Widersprüchen der modernen Welt umzugehen. Eine erste Ehe und Midlifecrisis hat er "mit Anstand" hinter sich gebracht, nun ist mit Evelyne Vogt, der Besitzerin eines Design-Geschäfts, ein schönes, komfortables Leben arrangiert, in dem nichts zu fehlen scheint. Jedoch, so meint jedenfalls Evelynes Beraterin, die Gesellschaftsdame Ruth Zopp: "Bedeutende Männer haben mehr als eine Midlifecrisis."
Der Auslöser einer seltsamen Veränderung des Mannes ist aber nicht wie üblich das Erscheinen einer Frau, sondern ein lang entbehrter Waldspaziergang, auf dem sich die ersten dunklen Ahnungen einstellen. Derart an das vergessene Natürliche erinnert, öffnen sich dem vollendet zivilisierten Menschen die Sinne für andere, für archaische Erfahrungen. In einer an Proust gemahnenden Episode fördert der Geruch von Räucherkerzen mit Sandelholz-Aroma diffuse Erinnerungen zutage und öffnet ihm die Augen für die die Schönheit der Verkäuferin dieser Waren, des Hippie-Mädchens Lucille Roth. Mehrfach vitalisiert, wird Blank nun von Abenteuerlust ergriffen, die sich aber zunächst lediglich zwischen "Flohmarktstand und multinationalen Konzernen" erproben will.
Der Liebelei mit dem einfach denkenden und wahrhaftigen Hippie-Mädchen wird die Auseinandersetzung mit seinen beiden Gegenspielern kontrastiert, dem undurchschaubaren Jäger, Eigenbrötler und internationalen Spekulanten Pius Ott, der in Blank einen Gleichgesinnten vermutet, und dem autokratischen Wirtschaftsmagnaten Anton Huwyler, der den größten Versicherungskonzern der Welt plant. Bald jedoch bemerken Blanks Geschäftspartner und Freunde an ihm sonderbare Veränderungen. Der umgängliche Mensch wird plötzlich grob und scheint jeder Laune nachzugeben. Trotz zunehmender Einsicht in deren Korruptheit hat er nicht vor, seine Welt des Geldes und des schönen Lebens zu verlassen. Lucille jedoch nötigt ihm Gleichberechtigung ab und entführt ihn in die Sphäre zivilisationskritischer Drogenrituale. Zu Pink Floyds Musik kommt er in den Genuss seltener halluzinogener Pilze, was nun eine so stringent erzählte wie inhaltlich vertrackte Entwicklung auslöst, die Suter mit filmischer Technik virtuos in Szene setzt. Von nun an wird Blank zielstrebig und doch mit Spannung erzeugenden Umwegen seiner Bestimmung zugeführt: dem Wald als Gegenwelt.
In mannigfaltigen Anknüpfungen an das Pink-Floyd-Werk entfaltet Suter die Geschichte im Wechsel zwischen Innen- und Außensicht als Exempel einer Dialektik der Aufklärung. Zwischen der Welt des technischen Fortschritts, der Naturbeherrschung und des Geldes, der Sphäre des menschenfernen Waldes und des archaischen Kampfs ums Dasein und dem Reich der Träume und Wahnvorstellungen stellen sich so Korrespondenzen her. Im Mittelpunkt von Suters subtilem Verweisungsspiel befindet sich ein Jagdmesser mit der Aufschrift "Never hesitate", das Pius Ott Urs Blank schenkt, wie überhaupt die Requisiten mit Symbolik geladen werden. "Alles hängt irgendwie zusammen", sagt Lucille, und so wächst sich die Geschichte zentriert von der Bildlichkeit des Kampfes um einen Wald von Symbolen aus, je mehr Blank sich in die Geheimnisse der Natur und seines Bewusstseins vertieft. Wie seit Tieck oder E.T.A. Hoffmann erscheint dabei der Wald als Projektionsraum des von Aufklärung Verdrängten, in dem sich alles spiegelt, was der Wirklichkeit der Geldwirtschaft als Antrieb unbewusst geworden ist.
Die Geschichte erreicht ihre dramatische Phase, wenn dem Helden im Rausch das Erlebnis eines reinen Idealismus widerfährt: "Alles, was er bisher getan, gedacht, gelernt und gefühlt hatte, beruhte auf einem einzigen, gewaltigen Irrtum. Gut, bös, falsch, richtig, schön, hässlich, ich, du, mein, dein: alles Werte einer Skala, die die große, letzte Wahrheit außer acht ließ: Es gibt keine Vergleichsgrößen. Weil es nichts gibt. Es existiert nur eine einzige Wirklichkeit: Urs Blank." Aus der Perspektive der Menschenwelt, in den Augen seines Freundes, des Psychotherapeuten Alfred Wenger, aber erscheint diese Bewusstseinsverfassung als Schrecken erregende und zugleich lächerliche Geistesverwirrung, als vollendete Inhumanität, die der Heilung bedarf. Die Anstrengung einer höchst ambivalenten Rettung des Allgemeinmenschlichen bewegt fortan die dramaturgisch meisterhaft gestaltete Handlung, deren Fort- und Ausgang nicht verraten werden darf. Nur so viel, dass sie sich zum Kriminalfall entwickelt, der Aufklärung im doppelten Sinne erfordert. Diese ist einer Figur von Dürrenmatt'scher Bonhomie aufgegeben, dem Landpolizisten Rolf Blaser.
Suters Roman ist ein philosophisch gegründetes Gedankenspiel um die Wirklichkeit des Unwirklichen und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und auch darüber, wie wenig es bedarf, um die menschlichen Konstruktionen und Vereinbarungen zusammenbrechen zu lassen. Vor allem aber ist er eine gründlich recherchierte, präzise, elegant und humorvoll geschriebene Geschichte, realistisch und phantastisch zugleich. Der Leser, der sich einmal auf "Die dunkle Seite des Mondes" hat ziehen lassen, wird das Buch bis zum ebenso überraschenden wie stimmigen Finale nicht mehr aus der Hand legen wollen. Die geistige Gesundheit ist dabei nicht gefährdet. Vielmehr bietet Martin Suter mit raffiniert adaptierten klassischen Mitteln ein Optimum an Belehrung, Spannung und Vergnügen.
FRIEDMAR APEL
Martin Suter: "Die dunkle Seite des Mondes". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 315 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Martin Suter gilt als Meister einer eleganten Feder, die so fein geschliffen ist, dass man die Stiche oft erst hinterher spürt.« Monika Willer / Westfalenpost Westfalenpost