Ein bewegender Roman über das Leben der einfachen Menschen im China von heute.
Weit entfernt vom chinesischen Wirtschaftswunder und den hellen Lichtern von Peking und Shanghai liegt ein riesiges ländliches Hinterland, das die brachialen Folgen von Industrialisierung und Ökonomisierung zu tragen hat.
Dort leben die Bäuerin Meili und ihr Mann Kongzi, ein Nachkomme von Konfuzius in der sechsundsiebzigsten Generation. Die beiden wollen neben ihrem ersten Kind, einem Mädchen, einen Sohn, um das Erbe fortzusetzen. Da Ihnen die Behörden, die für alle die Ein-Kind-Ehe vorschreiben, mit Zwangssterilisation drohen, fliehen sie. Auf dem Jangtse, einem letzten Hort staatlicher Unorganisiertheit und mithin gewisser Freiheiten, führen sie ein illegales Tagelöhner- und Flussnomadenleben. Jahrelang schlagen sie sich auf vergifteten Gewässern und in ruinierten Landschaften durch, bevor sie schließlich auf einem Müllplatz für die Ausschlachtung westlichen Elektronikschrotts landen...15
ei Ma Jian stehen die einfachen Menschen im Vordergrund und ihre dramatischen Schicksale im Zuge eines gewaltigen politischen Umbruchs. Sein erschütternder Roman über ihr Leben ist Geschichte von unten; es ist auch die Geschichte des Jangtse, seiner ökologischen Krisen durch Staudammbau und Begradigung; es ist die Geschichte der chinesischen Industrialisierung und des Preises, den die Menschen dafür zu zahlen haben - ein ungeschminktes, schockierendes Porträt von China im Wandel.
Weit entfernt vom chinesischen Wirtschaftswunder und den hellen Lichtern von Peking und Shanghai liegt ein riesiges ländliches Hinterland, das die brachialen Folgen von Industrialisierung und Ökonomisierung zu tragen hat.
Dort leben die Bäuerin Meili und ihr Mann Kongzi, ein Nachkomme von Konfuzius in der sechsundsiebzigsten Generation. Die beiden wollen neben ihrem ersten Kind, einem Mädchen, einen Sohn, um das Erbe fortzusetzen. Da Ihnen die Behörden, die für alle die Ein-Kind-Ehe vorschreiben, mit Zwangssterilisation drohen, fliehen sie. Auf dem Jangtse, einem letzten Hort staatlicher Unorganisiertheit und mithin gewisser Freiheiten, führen sie ein illegales Tagelöhner- und Flussnomadenleben. Jahrelang schlagen sie sich auf vergifteten Gewässern und in ruinierten Landschaften durch, bevor sie schließlich auf einem Müllplatz für die Ausschlachtung westlichen Elektronikschrotts landen...15
ei Ma Jian stehen die einfachen Menschen im Vordergrund und ihre dramatischen Schicksale im Zuge eines gewaltigen politischen Umbruchs. Sein erschütternder Roman über ihr Leben ist Geschichte von unten; es ist auch die Geschichte des Jangtse, seiner ökologischen Krisen durch Staudammbau und Begradigung; es ist die Geschichte der chinesischen Industrialisierung und des Preises, den die Menschen dafür zu zahlen haben - ein ungeschminktes, schockierendes Porträt von China im Wandel.
"Eine der wichtigsten und mutigsten Stimmen der chinesischen Literatur." -- Gao Xingjan, Nobelpreisträger
"Eine eindrückliche, leidenschaftliche Parabel für unsere Zeit." -- Sunday Express
"Eine eindrückliche, leidenschaftliche Parabel für unsere Zeit." -- Sunday Express
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2015Gift in den Lebensadern
Der in London lebende Romancier Ma Jian hat eine düstere Parabel über die rechtlosen Wanderarbeiter geschrieben,
die zu Millionen auf Chinas verseuchten Flüssen vegetieren. „Die dunkle Straße“ ist ein Buch, das die Wirklichkeit herausfordert
VON ULRICH BARON
Manche Bücher scheinen die Wirklichkeit zu einem Wettstreit herauszufordern. So wirkte jene katastrophale Explosion, die im August dieses Jahres ein Industriegebiet im chinesischen Tianjin verheerte, wie eine Überbietung jener Katastrophenbilder, die der 1953 geborene Ma Jian in seinem Roman „Die dunkle Straße“ heraufbeschworen hat. Hatte der seit 1999 im Londoner Exil lebende Maler und Romancier in „Peking Koma“ (2008) die Schrecken des Großen Hungers, der Kulturrevolution und des Tiananmen-Massakers in den Wachträumen eines komatösen Stadtbewohners widergespiegelt, so ist sein neuer Roman im Milieu der illegalen Wanderarbeiter angesiedelt, die zu Millionen auf Chinas Flüssen leben, den Lebensadern dieses Landes seit Jahrtausenden.
Aber diese Adern sind vergiftet und verstopft. Während er bei den Bootsnomaden lebte, habe er sich nicht wie im 21. Jahrhundert gefühlt, sagte Ma Jian in einem Interview. Die einzigen Spuren der modernen Welt seien dort die Massen von Müll, von denen sie umgeben seien. Dorthin fliehen in seinem Roman die schwangere junge Bäuerin Meili und ihr Mann Kongzi vor der brutalen Durchsetzung der Ein-Kind-Politik. Sie schlagen sich als illegale Tagelöhner durch, züchten auf verseuchten Böden Enten und Gemüse. Der Lehrer Kongzi ist ein Nachkomme von Konfuzius und ersehnt sich einen Sohn, der dieses Erbe fortsetzen könnte. Doch mit der Tochter Nannan ist das Kontingent ausgeschöpft, und auch die Flucht kann Nannans Bruder nicht davor bewahren, kurz vor der Geburt ausgetrieben und erdrosselt zu werden.
„Die Kommunisten, diese Schweine, haben das Vermächtnis des Konfuzius zerstört“, sagt Kongzi, und ein Nachbar erschaudert angesichts einer Zukunft, in der „Kinder keine Brüder oder Schwestern haben, keine Onkel oder Tanten“. Wie in Mo Yans Roman „Frösche“ wird die Ein-Kind-Politik nicht nur als Mittel gegen die Übervölkerung Chinas, sondern auch als Angriff des Staates auf die konfuzianisch geprägte Familientradition verstanden.
Auf ihrer Reise über vergiftete Flussarme, deren Ufer vom Müll und den Trümmern teils verheerter, teils wild wuchernder Städte bedeckt sind, wird Meili neuerlich schwanger. Doch auch ihr drittes Kind ist ein Mädchen, und ihr viertes widersetzt sich seiner Geburt. Fünf Jahre lang verharrt es im Mutterleib, während seine Eltern in „Himmelsstadt“, einem verseuchten Zentrum für das Recycling von Elektronikschrott, ein Auskommen finden.
Was knapp skizziert schon tragisch anmutet, hat Ma Jian so düster und blutig ausgemalt, dass man die Hoffnungsschimmer leicht übersehen kann, die seine Protagonisten antreiben. Gleich zu Beginn wird Konzis Dorf von den Sturmtruppen einer korrupten Bürokratie in ein Schlachtfeld verwandelt. Am Ende hält ein verzweifelter Vater das leblose Kind seiner toten Frau der Sonne entgegen. Dazwischen liegen brutale Szenen über Abtreibungen, Vergewaltigungen, Beraubung und Flucht.
Da ist Weiwei, dessen Mutter sich im Fluss ertränkt hat, um ihren Sohn nicht durch die Kosten ihrer Krebsbehandlung zu ruinieren. Kongzi fährt ihn zu den Leichenfischern, die Wasserleichen so lange unter treibenden Müllschichten lagern, wie noch Aussicht besteht, dass ein Angehöriger sie identifizieren und ihnen eine Prämie zahlen könnte. Weiwei findet sie dort nicht, und in den Worten dieses verwaisten Mannes verdichtet sich das Epos zum Epitaph: „Meinetwegen ist sie am Leben geblieben, und jetzt hat sie sich meinetwegen umgebracht.“
„Dies ist kein Land für Frauen“, sagt Meili. Die titelgebende dunkle Straße steht nicht nur für ihre unheilschwangere Lebensreise, sondern auch für den Geburtskanal, über den Männer und die Partei zu herrschen suchen. Aber Meili versucht, sich aus ihrer Rolle als Gebärerin eines Stammhalters zu befreien, und entwickelt sich von einer bäuerlichen Marketenderin zur Geschäftsführerin eines kleinen Unternehmens. Während ihr Mann mit seinen Tang-Gedichten und Klassikerzitaten geistige Überlegenheit demonstriert, entdeckt sie das Internet als Bildungsinstrument.
Am Monitor ist sie nicht mehr auf die abertausend Zeichen der chinesischen Schrift angewiesen, die das Bildungsprivileg der Oberschichten gegenüber den Bauern bewahrt hatten: „Ich kann mit lateinischen Buchstaben tippen. Wenn ich alle sechsundzwanzig gelernt habe, kann ich selbständig ins Internet gehen und in der ganzen Welt herumreisen.“ Ohne die richtigen Papiere aber bleibt sie eine Illegale, deren Mann als illegaler Lehrer an einer illegalen Schule die illegal geborenen Kinder anderer Illegaler unterrichtet.
Ihr zäher Überlebenskampf, ihr Emanzipationsstreben, ihre Karriere in Chinas Schattenwirtschaft steigern Meilis Fallhöhe bis zum tragischen finalen Absturz. Umso eindringlicher klingt der Appell, den sie einmal an die illegalen Schüler ihres Mannes richtet: „Die Behörden versagen uns kostenfreie Schulbildung, Wohnung, medizinische Versorgung und alle anderen Privilegien, die Stadtbewohnern zustehen.“ Doch man dürfe nicht verzweifeln: „Wir sind neunhundert Millionen, zwei Drittel der Bevölkerung Chinas. (. . .) Wir sind auf dem Weg, niemand kann uns aufhalten.“
Gerade weil Meili und Kongzi von den Segnungen der Moderne nur den Müll abbekommen, erscheint ihre Zähigkeit umso eindrucksvoller, fast schon ein wenig unheimlich. Kongzi entfernt einmal heimlich ein paar Pflastersteine und pflanzt in der Erde Frühlingszwiebeln an. Bald kommen Spinat, Schnittlauch und Tomaten hinzu. Unter dem Pflaster liegt das Land, unter dem Müll der Fluss.
Der Exilant Ma Jian schreibt noch auf Chinesisch, doch auch diesen Roman hat er in der englischen Übersetzung seiner Frau Flora Drew veröffentlicht. Auch das legt nahe, dass die Hoffnungen auf eine Emanzipation der Ausgeschlossenen Chinas durch Bildung leichter mit lateinischen Buchstaben formuliert und erfüllt werden können. Zeichnet sich hier die Aufspaltung einer Kultur ab, die jahrtausendelang gerade auch von ihrer elitären Schriftsprache zusammengehalten wurde?
Doch es gibt in diesem Exil-Roman auch eine regressive Gegenbewegung – einen Kindsgeist, der gegen den Strom des Flusses und des Erzählens an einen mythischen Ursprungsort zurückstrebt, zum „endgültigen Ruheplatz“. Diese Welt hat es dem Kindsgeist versagt, zu ihr zu kommen, und was er aus seiner erhabenen Perspektive von ihr erblickt, macht seine Ab- und Umkehr nur allzu verständlich.
Aus dem Kreis des Lebens ist in Ma Jians Roman ein Recycling geworden, das aus Müll neue Waren und aus Waren neuen Müll macht und die Menschen zu Hekatomben verzehrt. „Die dunkle Straße“ ist nicht nur ein grandioses Epos über die Ausgeschlossenen und Ungeborenen Chinas, über die Städte, Landschaften und Flüsse des Landes, die im Müll versinken und daraus neu erwachsen, der Roman ist auch eine Parabel über unsere Zeit und ihre rastlosen, hoffnungsvollen, verzweifelten Bewegungen.
Das Internet erscheint
als neue Möglichkeit, sich Zugang
zu Bildung zu verschaffen
Ungleicher Wettkampf: Ein Mann in einem Schlauchboot rudert den Jangtse stromabwärts. Der Jangtse ist der längste Fluss Chinas und der drittlängste der Welt.
Foto: Panos Pictures / VISUM
Ma Jian: Die dunkle Straße. Roman. Aus dem Englischen von Susanne Höbel.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 496 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der in London lebende Romancier Ma Jian hat eine düstere Parabel über die rechtlosen Wanderarbeiter geschrieben,
die zu Millionen auf Chinas verseuchten Flüssen vegetieren. „Die dunkle Straße“ ist ein Buch, das die Wirklichkeit herausfordert
VON ULRICH BARON
Manche Bücher scheinen die Wirklichkeit zu einem Wettstreit herauszufordern. So wirkte jene katastrophale Explosion, die im August dieses Jahres ein Industriegebiet im chinesischen Tianjin verheerte, wie eine Überbietung jener Katastrophenbilder, die der 1953 geborene Ma Jian in seinem Roman „Die dunkle Straße“ heraufbeschworen hat. Hatte der seit 1999 im Londoner Exil lebende Maler und Romancier in „Peking Koma“ (2008) die Schrecken des Großen Hungers, der Kulturrevolution und des Tiananmen-Massakers in den Wachträumen eines komatösen Stadtbewohners widergespiegelt, so ist sein neuer Roman im Milieu der illegalen Wanderarbeiter angesiedelt, die zu Millionen auf Chinas Flüssen leben, den Lebensadern dieses Landes seit Jahrtausenden.
Aber diese Adern sind vergiftet und verstopft. Während er bei den Bootsnomaden lebte, habe er sich nicht wie im 21. Jahrhundert gefühlt, sagte Ma Jian in einem Interview. Die einzigen Spuren der modernen Welt seien dort die Massen von Müll, von denen sie umgeben seien. Dorthin fliehen in seinem Roman die schwangere junge Bäuerin Meili und ihr Mann Kongzi vor der brutalen Durchsetzung der Ein-Kind-Politik. Sie schlagen sich als illegale Tagelöhner durch, züchten auf verseuchten Böden Enten und Gemüse. Der Lehrer Kongzi ist ein Nachkomme von Konfuzius und ersehnt sich einen Sohn, der dieses Erbe fortsetzen könnte. Doch mit der Tochter Nannan ist das Kontingent ausgeschöpft, und auch die Flucht kann Nannans Bruder nicht davor bewahren, kurz vor der Geburt ausgetrieben und erdrosselt zu werden.
„Die Kommunisten, diese Schweine, haben das Vermächtnis des Konfuzius zerstört“, sagt Kongzi, und ein Nachbar erschaudert angesichts einer Zukunft, in der „Kinder keine Brüder oder Schwestern haben, keine Onkel oder Tanten“. Wie in Mo Yans Roman „Frösche“ wird die Ein-Kind-Politik nicht nur als Mittel gegen die Übervölkerung Chinas, sondern auch als Angriff des Staates auf die konfuzianisch geprägte Familientradition verstanden.
Auf ihrer Reise über vergiftete Flussarme, deren Ufer vom Müll und den Trümmern teils verheerter, teils wild wuchernder Städte bedeckt sind, wird Meili neuerlich schwanger. Doch auch ihr drittes Kind ist ein Mädchen, und ihr viertes widersetzt sich seiner Geburt. Fünf Jahre lang verharrt es im Mutterleib, während seine Eltern in „Himmelsstadt“, einem verseuchten Zentrum für das Recycling von Elektronikschrott, ein Auskommen finden.
Was knapp skizziert schon tragisch anmutet, hat Ma Jian so düster und blutig ausgemalt, dass man die Hoffnungsschimmer leicht übersehen kann, die seine Protagonisten antreiben. Gleich zu Beginn wird Konzis Dorf von den Sturmtruppen einer korrupten Bürokratie in ein Schlachtfeld verwandelt. Am Ende hält ein verzweifelter Vater das leblose Kind seiner toten Frau der Sonne entgegen. Dazwischen liegen brutale Szenen über Abtreibungen, Vergewaltigungen, Beraubung und Flucht.
Da ist Weiwei, dessen Mutter sich im Fluss ertränkt hat, um ihren Sohn nicht durch die Kosten ihrer Krebsbehandlung zu ruinieren. Kongzi fährt ihn zu den Leichenfischern, die Wasserleichen so lange unter treibenden Müllschichten lagern, wie noch Aussicht besteht, dass ein Angehöriger sie identifizieren und ihnen eine Prämie zahlen könnte. Weiwei findet sie dort nicht, und in den Worten dieses verwaisten Mannes verdichtet sich das Epos zum Epitaph: „Meinetwegen ist sie am Leben geblieben, und jetzt hat sie sich meinetwegen umgebracht.“
„Dies ist kein Land für Frauen“, sagt Meili. Die titelgebende dunkle Straße steht nicht nur für ihre unheilschwangere Lebensreise, sondern auch für den Geburtskanal, über den Männer und die Partei zu herrschen suchen. Aber Meili versucht, sich aus ihrer Rolle als Gebärerin eines Stammhalters zu befreien, und entwickelt sich von einer bäuerlichen Marketenderin zur Geschäftsführerin eines kleinen Unternehmens. Während ihr Mann mit seinen Tang-Gedichten und Klassikerzitaten geistige Überlegenheit demonstriert, entdeckt sie das Internet als Bildungsinstrument.
Am Monitor ist sie nicht mehr auf die abertausend Zeichen der chinesischen Schrift angewiesen, die das Bildungsprivileg der Oberschichten gegenüber den Bauern bewahrt hatten: „Ich kann mit lateinischen Buchstaben tippen. Wenn ich alle sechsundzwanzig gelernt habe, kann ich selbständig ins Internet gehen und in der ganzen Welt herumreisen.“ Ohne die richtigen Papiere aber bleibt sie eine Illegale, deren Mann als illegaler Lehrer an einer illegalen Schule die illegal geborenen Kinder anderer Illegaler unterrichtet.
Ihr zäher Überlebenskampf, ihr Emanzipationsstreben, ihre Karriere in Chinas Schattenwirtschaft steigern Meilis Fallhöhe bis zum tragischen finalen Absturz. Umso eindringlicher klingt der Appell, den sie einmal an die illegalen Schüler ihres Mannes richtet: „Die Behörden versagen uns kostenfreie Schulbildung, Wohnung, medizinische Versorgung und alle anderen Privilegien, die Stadtbewohnern zustehen.“ Doch man dürfe nicht verzweifeln: „Wir sind neunhundert Millionen, zwei Drittel der Bevölkerung Chinas. (. . .) Wir sind auf dem Weg, niemand kann uns aufhalten.“
Gerade weil Meili und Kongzi von den Segnungen der Moderne nur den Müll abbekommen, erscheint ihre Zähigkeit umso eindrucksvoller, fast schon ein wenig unheimlich. Kongzi entfernt einmal heimlich ein paar Pflastersteine und pflanzt in der Erde Frühlingszwiebeln an. Bald kommen Spinat, Schnittlauch und Tomaten hinzu. Unter dem Pflaster liegt das Land, unter dem Müll der Fluss.
Der Exilant Ma Jian schreibt noch auf Chinesisch, doch auch diesen Roman hat er in der englischen Übersetzung seiner Frau Flora Drew veröffentlicht. Auch das legt nahe, dass die Hoffnungen auf eine Emanzipation der Ausgeschlossenen Chinas durch Bildung leichter mit lateinischen Buchstaben formuliert und erfüllt werden können. Zeichnet sich hier die Aufspaltung einer Kultur ab, die jahrtausendelang gerade auch von ihrer elitären Schriftsprache zusammengehalten wurde?
Doch es gibt in diesem Exil-Roman auch eine regressive Gegenbewegung – einen Kindsgeist, der gegen den Strom des Flusses und des Erzählens an einen mythischen Ursprungsort zurückstrebt, zum „endgültigen Ruheplatz“. Diese Welt hat es dem Kindsgeist versagt, zu ihr zu kommen, und was er aus seiner erhabenen Perspektive von ihr erblickt, macht seine Ab- und Umkehr nur allzu verständlich.
Aus dem Kreis des Lebens ist in Ma Jians Roman ein Recycling geworden, das aus Müll neue Waren und aus Waren neuen Müll macht und die Menschen zu Hekatomben verzehrt. „Die dunkle Straße“ ist nicht nur ein grandioses Epos über die Ausgeschlossenen und Ungeborenen Chinas, über die Städte, Landschaften und Flüsse des Landes, die im Müll versinken und daraus neu erwachsen, der Roman ist auch eine Parabel über unsere Zeit und ihre rastlosen, hoffnungsvollen, verzweifelten Bewegungen.
Das Internet erscheint
als neue Möglichkeit, sich Zugang
zu Bildung zu verschaffen
Ungleicher Wettkampf: Ein Mann in einem Schlauchboot rudert den Jangtse stromabwärts. Der Jangtse ist der längste Fluss Chinas und der drittlängste der Welt.
Foto: Panos Pictures / VISUM
Ma Jian: Die dunkle Straße. Roman. Aus dem Englischen von Susanne Höbel.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 496 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
So düster Ma Jians Roman "Die dunkle Straße" auch sein mag - Rezensent Ulrich Baron findet nur die leuchtendsten Worte für dieses seiner Ansicht nach herausragende Epos über die Millionen von Wanderarbeitern auf Chinas Flüssen. Denn der im Londoner Exil lebende Maler und Autor schildert anhand seiner Recherchen in gewaltigen und blutigen Bildern, so der Rezensent, wie die illegalen Tagelöhner sich und ihre Familien auf den giftigen Flüssen durchschlagen, zugleich aber auch unter der korrupten chinesischen Bürokratie leiden: Baron liest hier brutale Szenen über Abtreibungen, Vergewaltigungen, Beraubung und Flucht, bewundert aber zugleich den ungebrochenen Überlebenswillen von Jians Protagonisten, die unter anderem für ihre Bildung kämpfen. Eine tiefgehende und herausfordernde Parabel über die ebenso verzweifelten wie hoffnungslosen Bewegungen unserer Zeit, schließt der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Bei Ma Jian leuchtet China in den Farben von Blut und Schmutz. Fernab von Peking erstreckt es sich als ein Reich ewiger Finsternis, das keinen Schritt über die mörderischsten Zeiten der Kulturrevolution hinausgekommen zu sein scheint. Allein die Zusammenschau der unterschiedlichen Welten in einer Fiktion macht «Die dunkle Straße» zu einem Roman von verstörender Wucht. Gregor Dotzauer Der Tagesspiegel