Das Leben kann einem eine Menge Rätsel aufgeben, vorausgesetzt, man schaut mit wachen Augen in die Welt. Die Luftmatratze, die hinausgeschoben wird aufs offene Meer - welche Geschichte endet oder beginnt da? Die hermetisch verschlossene Box - entwickelt sie sich, einmal im Zimmer abgestellt, nicht ganz schnell zum magischen Zentrum des Denkens und Handelns? Der Abstieg - kaum glaubt man, endlich seinen Weg gefunden zu haben, weicht das Vertraute neuerlich zurück. Und man selbst, kann man sich denn wenigstens auf sich selbst verlassen? Darauf, dass man richtig wahrnimmt? Richtig reagiert? Etwa wenn der Schrei eines Mädchens durch die Wände dringt oder wenn bei einer Wanderung zu den Quellen des Wasserfalls einer nach dem anderen zurückbleibt? Nicht unbedingt. Und dennoch liegt über den Erzählungen ein gelöster, heiterer Ton. Sehnsucht verschränkt sich gern mit ironischer Distanz, Utopie mit früher Abgeklärtheit, der Weg zum anderen endet in einer eleganten Pirouette - man zieht den Hut und grüßt erst wieder aus der Ferne. Diese Geschichten sind voller Esprit, Lust am Gedankenspiel, voller überraschender Einfälle und Wendungen, doch unter der sich in zahlreichen Facetten spiegelnden Oberfläche ruht die Art von ernsthaften, existentiellen Fragen, die jede Generation neu für sich beantworten muss.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2008Surrealismusrekorde
Alle schnell hervorgekramten Erklärungsmuster gehen ins Leere: "In meiner Musiksammlung befinden sich keine Death-Metal-Scheiben. Ich spiele nur alle paar heiligen Zeiten Ego-Shooter am Computer. Ich wurde von meinen Eltern nie geschlagen." Ein Schriftsteller - denn um den handelt es sich in dieser Erzählung Xaver Bayers - läuft Amok. Ohne ein kausal-logisch herzuleitendes Motiv, dafür aber mit Ankündigung: "Ich werde während der gesamten Angelegenheit darauf bedacht sein, den aktuell bestehenden Weltrekord an Opfern bei einem Amoklauf zu übertreffen." Der Titel der Erzählung lautet: "Engagierte Literatur". Es sind - wenngleich real erzählt - surreal anmutende Situationen, in die uns der Hermann-Lenz-Preisträger in seinen zweiundzwanzig Geschichten mitnimmt: auf eine Taxifahrt mit Henry Kissinger, in eine Wohnung, die ein Freund ohne erkennbaren Grund komplett abgedunkelt haben möchte, oder zu einem Wer-hält-es-am-längsten-im-Wasser-aus-Wettbewerb. Am Realen schreibt Bayer stets haarscharf vorbei - und bereichert es dadurch um eine weitere Facette. (Xaver Bayer: "Die durchsichtigen Hände". Erzählungen. Jung und Jung, Salzburg 2008. 168 S., geb., 19,80 [Euro].) kito
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alle schnell hervorgekramten Erklärungsmuster gehen ins Leere: "In meiner Musiksammlung befinden sich keine Death-Metal-Scheiben. Ich spiele nur alle paar heiligen Zeiten Ego-Shooter am Computer. Ich wurde von meinen Eltern nie geschlagen." Ein Schriftsteller - denn um den handelt es sich in dieser Erzählung Xaver Bayers - läuft Amok. Ohne ein kausal-logisch herzuleitendes Motiv, dafür aber mit Ankündigung: "Ich werde während der gesamten Angelegenheit darauf bedacht sein, den aktuell bestehenden Weltrekord an Opfern bei einem Amoklauf zu übertreffen." Der Titel der Erzählung lautet: "Engagierte Literatur". Es sind - wenngleich real erzählt - surreal anmutende Situationen, in die uns der Hermann-Lenz-Preisträger in seinen zweiundzwanzig Geschichten mitnimmt: auf eine Taxifahrt mit Henry Kissinger, in eine Wohnung, die ein Freund ohne erkennbaren Grund komplett abgedunkelt haben möchte, oder zu einem Wer-hält-es-am-längsten-im-Wasser-aus-Wettbewerb. Am Realen schreibt Bayer stets haarscharf vorbei - und bereichert es dadurch um eine weitere Facette. (Xaver Bayer: "Die durchsichtigen Hände". Erzählungen. Jung und Jung, Salzburg 2008. 168 S., geb., 19,80 [Euro].) kito
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Die Erzählungen des jungen Wieners Xaver Bayer finden den Beifall des Rezensenten. Als Meister des makabren Humors und der Konstruktion auswegloser und grotesker Situationen lobt ihn Michael Braun. Mit Vorliebe schickt Bayer die von der Sehnsucht nach dem Neuen und Anderen getriebenen Protagonisten in den parabelhaften Versuchsanordnungen an den Rand des Abgrunds, um sie kurz vor dem Absturz wieder zu Bewusstsein kommen zu lassen: Wanderer verirren sich, Schwimmer verlieren das rettende Ufer aus den Augen, ein Amokläufer setzt sein Bekenntnisschreiben auf. Auch wenn Bayers literarische Vorbilder, wie Kafka und Borges, manchmal motivisch überstrapaziert werden, erzeugt die "Fabulierkraft" Bayers lang andauernde "metaphysische Schwindelgefühle" beim Rezensenten, der in dieser rabenschwarzen Prosa ein "nihilistisches Glück" am Werk sieht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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