Die in Die Einbeziehung des Anderen enthaltenen Studien verbindet das Interesse an der Frage, welche Konsequenzen sich heute aus dem universalistischen Gehalt republikanischer Grundsätze ergeben. Im ersten Teil verteidigt Habermas den vernünftigen Gehalt einer Moral der gleichen Achtung für jeden und der allgemeinen solidarischen Verantwortung des Einen für den Anderen. Der zweite Teil enthält eine Auseinandersetzung mit John Rawls. Dabei geht es Habermas u. a. darum, die Unterschiede zwischen dem Politischen Liberalismus und einem Kantischen Republikanismus deutlich zu machen. Der dritte Teil soll zur Klärung der Kontroverse um die Zukunft des Nationalstaats beitragen, die in der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung von neuem aufgelebt ist. Der vierte Teil befaßt sich mit der Durchsetzung von Menschenrechten auf globaler und innerstaatlicher Ebene. Kants Konzeption des Weltbürgerrechts wird im Lichte unserer historischen Erfahrungen revidiert. Der fünfte Teil erinnert an Grundannahmen der diskurstheoretischen Auffassung von Demokratie und Rechtsstaat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996Der Hüter der Moderne
Jürgen Habermas' neue politische Theorie in weltbürgerlicher Absicht / Von Wolfgang Kersting
Jürgen Habermas ist nie ein Buchhalter der Letztbegründung gewesen. Seine Diskursethik war dazu immer zu wendig und zu neugierig. Wo immer sich neue Probleme zeigen, eilt sie herbei, um ihr emanzipatorisches Potential zur Geltung zu bringen. Wo immer sich neue Debatten regen, meldet sie sich zu Wort, um energisch die Sache der Moderne zu vertreten. Diese vielfältigen Begegnungen haben in der Habermasschen Theorie Spuren hinterlassen. Sie wurde auf Defizite aufmerksam, die sie durch Adaption und Assimilation zu beseitigen versuchte. Sie korrigierte bereitwillig, allerdings immer stillschweigend kategoriale Verengungen, zum Beispiel die ausgeprägten kognitivistischen Vorurteile in ihren moralphilosophischen und rationalitätstheoretischen Grundlagen; jetzt erkennt sie die verschwiegene Urteilstätigkeit der moralischen Gefühle an und hat auch die ästhetischen und ethischen Dimensionen individueller und kollektiver Lebensführung rehabilitiert.
Wird die Herausforderung einer konkurrierenden Theorie bedrohlich, dann greift die Selbstbehauptung zu einer List: Dem Gegner werden die Leitbegriffe entwunden und dem eigenen Theoriemilieu anverwandelt; derart semantisch umkonditioniert können sie dann in die Debatte zurückgeschickt werden. So bekommt die kommunitaristische Gemeinschaft jetzt auch in der Habermasschen Theorie durch die moralische und konstruktive Gemeinschaft Konkurrenz; der partikularistische Republikanismus muß sich der modernitätsnäheren Alternative des diskursethischen Republikanismus erwehren; und auch die postmodernen und feministischen Differenzfreunde und Alteritätsapostel müssen feststellen, daß ein hinreichend biegsamer Universalismus nicht nur den Vorwurf der imperialen Nivellierung aller Unterschiede abzuschütteln vermag, sondern sich sogar als Hort von Andersheit und Differenz empfehlen kann.
Diese Mischung aus konzeptioneller Versatilität, Debattenfreudigkeit und Lernfähigkeit verschafft der Philosophie Habermas' in der gegenwärtigen Problemlandschaft der politischen Philosophie eine nahezu flächendeckende Präsenz. Die jüngste Aufsatzsammlung ist dafür ein eindrucksvoller Beweis. Die Texte zeigen die Diskursethik an den Fronten der zeitgenössischen Debatten über das Recht auf Andersheit, über Öffentlichkeit, politischen Liberalismus und ein angemessenes Pluralismusmanagement, über das spannungsvolle Verhältnis zwischen Souveränität, Staatsbürgerschaft und supranationalen politischen Organisationsformen, über Multikulturalismus und über moralischen Interventionismus, Menschenrechtspolitik und die Chancen einer weltbürgerlichen Gesellschaft. Allein das Problem der Verteilungsgerechtigkeit und der Sozialstaatsbegründung hat noch keine diskursethische Aufmerksamkeit gefunden.
Zwar hat sich Habermas in "Faktizität und Geltung" um eine Fundierung des luftigen Reichs der moralischen Diskurse bemüht, aber so tief ist sein Blick noch nicht in die materiellen Voraussetzungen bürgerlicher Existenz gedrungen, daß er die soziale Gerechtigkeit und die sozialstaatliche Solidarität - die weitaus handfester und ergiebiger ist als die nichtssagende Formel einer "allgemeinen solidarischen Verantwortung eines jeden für den anderen" - hätte entdecken können. Dabei sollte doch klar sein, daß alle hochgemute kulturelle Modernisierung irgendwann in kleinmütige Regression umschlägt, wenn die materiellen Voraussetzungen kulturell avancierter Lebensformen schwinden. Daß uns mit diesen Aufsätzen "Studien zur politischen Theorie" vorgelegt werden können, haben wir Habermas' neuer und überraschender Liebe zum Recht zu verdanken. Noch in der "Theorie des kommunikativen Handelns" von 1981 hat er die rechtsverächtliche Einstellung an den Tag gelegt, die zur Tradition des Marxismus und der Kritischen Theorie gehört. Vor dem Hintergrund versöhnungstheologischer Einheitsvorstellungen und Utopien von der Herrschaftsfreiheit kann Recht nur als rationale Unvernunft und organisierte Gewalt, als moralisch unzulängliche Form gesellschaftlicher Koordination erscheinen. Auch in Habermas' manichäischer Gesellschaftsdeutung wurde dem Recht nur ein negativer Wert beigemessen; die Diskursethik hingegen bekam den heroischen Part einer lebensweltlichen Widerständlerin, die alle Kommunikationsreserven gegen die zunehmende Verrechtlichung der Lebenswelt zu mobilisieren versucht.
In "Faktizität und Geltung" von 1992 ist diese normative Spannung jedoch begründungstheoretischer Kooperation gewichen. Die Diskursethik wird als rechtsphilosophische Basistheorie eingespannt und mit der Begründung der Grundrechte und des Rechtsstaats betraut. Seitdem kennt sie kein Halten mehr. Sie sucht das Weite und folgt der Globalisierung, auf der Suche nach Anknüpfungspunkten für den republikanischen Universalismus, für weltweite Menschenrechtspolitik und Weltbürgertum. Manches davon ist Habermas' Lesern schon bekannt, denn die Vorstellungen, die er in seinem brillanten Aufsatz über Kants Friedensschrift entwickelt, zitieren bekannte Strukturelemente der emanzipatorischen Gesellschaftstheorie. Da ist die weltbürgerliche Gemeinschaft, die eigene zivilpolitische Projekte entwirft, moralpolitische Eigenständigkeit und Eigenmacht gewinnt und aus dem Schatten der Territorialstaaten, die "die völkerrechtliche Unschuldsvermutung längst verspielt haben", heraustritt. Da sind Spuren eines NGO-Romantizismus, der großzügig über die Legitimationsdefekte der Kampagnenpolitik dieser demokratisch nicht legitimierten Organisationen hinwegsieht und in ihnen Avantgarden einer sanften Menschenrechtspolitik erblickt, eine außerparlamentarische Opposition im Weltformat. Aufgrund dieser starken Betonung weltbürgerlicher Vernetzung bleibt Habermas' politische Philosophie der internationalen Beziehungen auf die Moral fixiert. Wer in seiner Theorie schon immer einen Sinn fürs Politisch-Institutionelle vermißt hat, wird ihre Wende zur "politischen Theorie" als bloße Rhetorik abtun.
Der Reigen der Aufsätze beginnt mit einer "genealogischen Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral", in der Habermas seine diskursethische Ethik, die jetzt "Moral der gleichen Achtung für jeden und der allgemeinen solidarischen Verantwortung des einen für den anderen" heißt, gegen allerlei Einwendungen verteidigt. Selbstverteidigung findet auch im Schlußabschnitt statt, in dem Habermas den Kritikern seiner Rechtsphilosophie antwortet. Der zweite Teil enthält dann eine Auseinandersetzung mit Rawls' Konzeptionen des politischen Liberalismus. Sieht man jedoch genauer hin, dann ist es ein Streit um die richtige Kant-Auslegung: Welcher der beiden Kants hat die bessere Theorie für die politische Gegenwart parat, der liberale, mit der Lockeschen Seele in der Brust, oder der demokratische, der Rousseau verwandt ist? Habermas glaubt, daß Rawls' konstruktiver Kantianismus in die liberale Tradition zurückweise, die die politische Öffentlichkeit als Grundlage und Voraussetzung privater Autonomie versteht. Diesen Gedanken stellt er einen "republikanischen Kantianismus" entgegen, der das staatsbürgerliche Engagement, die kollektive Konstitution autonomer Öffentlichkeit der privaten Freiheit gleichberechtigt zur Seite stellt.
Dann beschäftigt sich Habermas mit der Zukunft des Nationalstaates, mit dem Interventionismus im Namen der Menschenrechte und den Integrationsproblemen multikultureller Gesellschaften. In letzter Zeit hat die Diskursethik nicht nur das Recht ernst nehmen müssen, ihr wurde auch die Anerkennung ethischer Problemstellungen abgenötigt. Daß Individuen nicht als charakterlose Jedermanns und sittlich ausgebleichte Vernunftexemplare existieren, sondern als geschichtlich geprägte soziale Wesen, die ihre kulturelle Lebensform bewahren wollen, hat die Diskursethik in der Auseinandersetzung mit dem Kommunitarismus gelernt. Während viele Kommunitaristen die von Charles Taylor in die Debatte eingeführte "Politik der Anerkennung" als Ausstattung der Minderheitskulturen mit besonderen Schutzrechten verstehen, lehnt Habermas derartigen kulturellen Artenschutz durch Minderheitsrechte ab: Wenn Minderheitenkulturen ihre Anhänger verlieren und verschwinden, dann haben sie ihre Überzeugungskraft verloren.
Daß hinter der rechtsstaatlichen Koexistenz unterschiedlicher Kulturen gleichwohl ein Problem verborgen ist, verschweigt Habermas nicht. Der Multikulturalismus stellt ein Integrationsrisiko dar. Auf der einen Seite verlangt das Pluralismusmanagement eine Entkoppelung der Ebene der politischen Integration der Gesamtheit von der kontingenten Ebene der kulturellen Integration, die natürlich nur in dem Maße reibungslos gelingen kann, in dem es keine Inhalte auf der ethisch-differentiellen Kulturebene gibt, die den Verfassungsprinzipien des liberalen Rechtsstaats widersprechen. Auf der anderen Seite ist der Bestand des liberalen Rechtsstaats von einem hinreichenden Maß an rechtlich nicht erzwingbarer Loyalität abhängig; ein liberales Gemeinwesen verhielte sich irrational, wenn es nicht von Bürgern und Immigranten eine ethische Basisassimilation verlangte. Zumindest bei all denen, die sich den Unterscheidungen der Moderne nicht unterwerfen können, kann es dann zu ethischen Loyalitätskonflikten kommen. Solange das Regime der Ungleichzeitigkeit und kulturellen Divergenz herrscht, muß auch der Universalismus ein wachsames Auge auf die Grenzen der Toleranz haben.
Die Aufsätze fügen sich zu einem eindrucksvollen Tableau zusammen, auf dem sich die Diskursethik selbstbewußt als normative Leittheorie der postnationalen und weltbürgerlichen Zukunft präsentiert. Jedoch leiden Habermas' Argumente gelegentlich daran, daß sie sich an ein unnötig dramatisierendes Bewertungsraster ketten. Durch die Abwehr des gar nicht mehr ernsthaft Angreifenden wird schnell der Zustand der Überlegenheit erreicht, der den Blick für interne Schwierigkeiten der eigenen Position trübt. Mit "Apologeten der Volksnation" muß man sich einfach nicht mehr herumschlagen. Jedem ist klar, daß der ethnisch-völkische Integrationsmodus dem politisch-staatsbürgerlichen weichen muß und überdies selbst im Staat des ius sanguinis längst gewichen ist.
Größere Genauigkeit hätte auch vor vorschnellen Identifikationen bewahrt. Wie die gegenwärtige Debatte zeigt, ist nicht gleich ein Menschenrechtsskeptiker, oder schlimmer noch: ein Schmittianer, der vor einer moralisch forcierten Menschenrechtspolitik zurückschreckt und einem zurückhaltenden Pragmatismus das Wort redet. Und da der Nationalstaat nicht im mindesten an ethnische Homogenität gebunden ist und sich auch nicht gegen die Übertragung hoheitsrechtlicher Befugnisse an supranationale Organisationen mit eigenstaatlichen Strukturen sperrt, kann man seine bisherigen Verdienste um und seine zukünftige Unentbehrlichkeit für Rechtssicherung, Demokratiefestigung und soziale Gerechtigkeit nüchtern konstatieren. Man muß ihn nicht als politisches Biotop ethnisch-völkischer Exklusivität denunzieren, vor dem nur die Flucht in die konturenverschluckende Weite einer emanzipierten weltbürgerlichen Gesellschaft hilft.
Jürgen Habermas: "Die Einbeziehung des Anderen". Studien zur politischen Theorie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 399 S., geb., 64,-; kt., 36,- DM.
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Jürgen Habermas' neue politische Theorie in weltbürgerlicher Absicht / Von Wolfgang Kersting
Jürgen Habermas ist nie ein Buchhalter der Letztbegründung gewesen. Seine Diskursethik war dazu immer zu wendig und zu neugierig. Wo immer sich neue Probleme zeigen, eilt sie herbei, um ihr emanzipatorisches Potential zur Geltung zu bringen. Wo immer sich neue Debatten regen, meldet sie sich zu Wort, um energisch die Sache der Moderne zu vertreten. Diese vielfältigen Begegnungen haben in der Habermasschen Theorie Spuren hinterlassen. Sie wurde auf Defizite aufmerksam, die sie durch Adaption und Assimilation zu beseitigen versuchte. Sie korrigierte bereitwillig, allerdings immer stillschweigend kategoriale Verengungen, zum Beispiel die ausgeprägten kognitivistischen Vorurteile in ihren moralphilosophischen und rationalitätstheoretischen Grundlagen; jetzt erkennt sie die verschwiegene Urteilstätigkeit der moralischen Gefühle an und hat auch die ästhetischen und ethischen Dimensionen individueller und kollektiver Lebensführung rehabilitiert.
Wird die Herausforderung einer konkurrierenden Theorie bedrohlich, dann greift die Selbstbehauptung zu einer List: Dem Gegner werden die Leitbegriffe entwunden und dem eigenen Theoriemilieu anverwandelt; derart semantisch umkonditioniert können sie dann in die Debatte zurückgeschickt werden. So bekommt die kommunitaristische Gemeinschaft jetzt auch in der Habermasschen Theorie durch die moralische und konstruktive Gemeinschaft Konkurrenz; der partikularistische Republikanismus muß sich der modernitätsnäheren Alternative des diskursethischen Republikanismus erwehren; und auch die postmodernen und feministischen Differenzfreunde und Alteritätsapostel müssen feststellen, daß ein hinreichend biegsamer Universalismus nicht nur den Vorwurf der imperialen Nivellierung aller Unterschiede abzuschütteln vermag, sondern sich sogar als Hort von Andersheit und Differenz empfehlen kann.
Diese Mischung aus konzeptioneller Versatilität, Debattenfreudigkeit und Lernfähigkeit verschafft der Philosophie Habermas' in der gegenwärtigen Problemlandschaft der politischen Philosophie eine nahezu flächendeckende Präsenz. Die jüngste Aufsatzsammlung ist dafür ein eindrucksvoller Beweis. Die Texte zeigen die Diskursethik an den Fronten der zeitgenössischen Debatten über das Recht auf Andersheit, über Öffentlichkeit, politischen Liberalismus und ein angemessenes Pluralismusmanagement, über das spannungsvolle Verhältnis zwischen Souveränität, Staatsbürgerschaft und supranationalen politischen Organisationsformen, über Multikulturalismus und über moralischen Interventionismus, Menschenrechtspolitik und die Chancen einer weltbürgerlichen Gesellschaft. Allein das Problem der Verteilungsgerechtigkeit und der Sozialstaatsbegründung hat noch keine diskursethische Aufmerksamkeit gefunden.
Zwar hat sich Habermas in "Faktizität und Geltung" um eine Fundierung des luftigen Reichs der moralischen Diskurse bemüht, aber so tief ist sein Blick noch nicht in die materiellen Voraussetzungen bürgerlicher Existenz gedrungen, daß er die soziale Gerechtigkeit und die sozialstaatliche Solidarität - die weitaus handfester und ergiebiger ist als die nichtssagende Formel einer "allgemeinen solidarischen Verantwortung eines jeden für den anderen" - hätte entdecken können. Dabei sollte doch klar sein, daß alle hochgemute kulturelle Modernisierung irgendwann in kleinmütige Regression umschlägt, wenn die materiellen Voraussetzungen kulturell avancierter Lebensformen schwinden. Daß uns mit diesen Aufsätzen "Studien zur politischen Theorie" vorgelegt werden können, haben wir Habermas' neuer und überraschender Liebe zum Recht zu verdanken. Noch in der "Theorie des kommunikativen Handelns" von 1981 hat er die rechtsverächtliche Einstellung an den Tag gelegt, die zur Tradition des Marxismus und der Kritischen Theorie gehört. Vor dem Hintergrund versöhnungstheologischer Einheitsvorstellungen und Utopien von der Herrschaftsfreiheit kann Recht nur als rationale Unvernunft und organisierte Gewalt, als moralisch unzulängliche Form gesellschaftlicher Koordination erscheinen. Auch in Habermas' manichäischer Gesellschaftsdeutung wurde dem Recht nur ein negativer Wert beigemessen; die Diskursethik hingegen bekam den heroischen Part einer lebensweltlichen Widerständlerin, die alle Kommunikationsreserven gegen die zunehmende Verrechtlichung der Lebenswelt zu mobilisieren versucht.
In "Faktizität und Geltung" von 1992 ist diese normative Spannung jedoch begründungstheoretischer Kooperation gewichen. Die Diskursethik wird als rechtsphilosophische Basistheorie eingespannt und mit der Begründung der Grundrechte und des Rechtsstaats betraut. Seitdem kennt sie kein Halten mehr. Sie sucht das Weite und folgt der Globalisierung, auf der Suche nach Anknüpfungspunkten für den republikanischen Universalismus, für weltweite Menschenrechtspolitik und Weltbürgertum. Manches davon ist Habermas' Lesern schon bekannt, denn die Vorstellungen, die er in seinem brillanten Aufsatz über Kants Friedensschrift entwickelt, zitieren bekannte Strukturelemente der emanzipatorischen Gesellschaftstheorie. Da ist die weltbürgerliche Gemeinschaft, die eigene zivilpolitische Projekte entwirft, moralpolitische Eigenständigkeit und Eigenmacht gewinnt und aus dem Schatten der Territorialstaaten, die "die völkerrechtliche Unschuldsvermutung längst verspielt haben", heraustritt. Da sind Spuren eines NGO-Romantizismus, der großzügig über die Legitimationsdefekte der Kampagnenpolitik dieser demokratisch nicht legitimierten Organisationen hinwegsieht und in ihnen Avantgarden einer sanften Menschenrechtspolitik erblickt, eine außerparlamentarische Opposition im Weltformat. Aufgrund dieser starken Betonung weltbürgerlicher Vernetzung bleibt Habermas' politische Philosophie der internationalen Beziehungen auf die Moral fixiert. Wer in seiner Theorie schon immer einen Sinn fürs Politisch-Institutionelle vermißt hat, wird ihre Wende zur "politischen Theorie" als bloße Rhetorik abtun.
Der Reigen der Aufsätze beginnt mit einer "genealogischen Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral", in der Habermas seine diskursethische Ethik, die jetzt "Moral der gleichen Achtung für jeden und der allgemeinen solidarischen Verantwortung des einen für den anderen" heißt, gegen allerlei Einwendungen verteidigt. Selbstverteidigung findet auch im Schlußabschnitt statt, in dem Habermas den Kritikern seiner Rechtsphilosophie antwortet. Der zweite Teil enthält dann eine Auseinandersetzung mit Rawls' Konzeptionen des politischen Liberalismus. Sieht man jedoch genauer hin, dann ist es ein Streit um die richtige Kant-Auslegung: Welcher der beiden Kants hat die bessere Theorie für die politische Gegenwart parat, der liberale, mit der Lockeschen Seele in der Brust, oder der demokratische, der Rousseau verwandt ist? Habermas glaubt, daß Rawls' konstruktiver Kantianismus in die liberale Tradition zurückweise, die die politische Öffentlichkeit als Grundlage und Voraussetzung privater Autonomie versteht. Diesen Gedanken stellt er einen "republikanischen Kantianismus" entgegen, der das staatsbürgerliche Engagement, die kollektive Konstitution autonomer Öffentlichkeit der privaten Freiheit gleichberechtigt zur Seite stellt.
Dann beschäftigt sich Habermas mit der Zukunft des Nationalstaates, mit dem Interventionismus im Namen der Menschenrechte und den Integrationsproblemen multikultureller Gesellschaften. In letzter Zeit hat die Diskursethik nicht nur das Recht ernst nehmen müssen, ihr wurde auch die Anerkennung ethischer Problemstellungen abgenötigt. Daß Individuen nicht als charakterlose Jedermanns und sittlich ausgebleichte Vernunftexemplare existieren, sondern als geschichtlich geprägte soziale Wesen, die ihre kulturelle Lebensform bewahren wollen, hat die Diskursethik in der Auseinandersetzung mit dem Kommunitarismus gelernt. Während viele Kommunitaristen die von Charles Taylor in die Debatte eingeführte "Politik der Anerkennung" als Ausstattung der Minderheitskulturen mit besonderen Schutzrechten verstehen, lehnt Habermas derartigen kulturellen Artenschutz durch Minderheitsrechte ab: Wenn Minderheitenkulturen ihre Anhänger verlieren und verschwinden, dann haben sie ihre Überzeugungskraft verloren.
Daß hinter der rechtsstaatlichen Koexistenz unterschiedlicher Kulturen gleichwohl ein Problem verborgen ist, verschweigt Habermas nicht. Der Multikulturalismus stellt ein Integrationsrisiko dar. Auf der einen Seite verlangt das Pluralismusmanagement eine Entkoppelung der Ebene der politischen Integration der Gesamtheit von der kontingenten Ebene der kulturellen Integration, die natürlich nur in dem Maße reibungslos gelingen kann, in dem es keine Inhalte auf der ethisch-differentiellen Kulturebene gibt, die den Verfassungsprinzipien des liberalen Rechtsstaats widersprechen. Auf der anderen Seite ist der Bestand des liberalen Rechtsstaats von einem hinreichenden Maß an rechtlich nicht erzwingbarer Loyalität abhängig; ein liberales Gemeinwesen verhielte sich irrational, wenn es nicht von Bürgern und Immigranten eine ethische Basisassimilation verlangte. Zumindest bei all denen, die sich den Unterscheidungen der Moderne nicht unterwerfen können, kann es dann zu ethischen Loyalitätskonflikten kommen. Solange das Regime der Ungleichzeitigkeit und kulturellen Divergenz herrscht, muß auch der Universalismus ein wachsames Auge auf die Grenzen der Toleranz haben.
Die Aufsätze fügen sich zu einem eindrucksvollen Tableau zusammen, auf dem sich die Diskursethik selbstbewußt als normative Leittheorie der postnationalen und weltbürgerlichen Zukunft präsentiert. Jedoch leiden Habermas' Argumente gelegentlich daran, daß sie sich an ein unnötig dramatisierendes Bewertungsraster ketten. Durch die Abwehr des gar nicht mehr ernsthaft Angreifenden wird schnell der Zustand der Überlegenheit erreicht, der den Blick für interne Schwierigkeiten der eigenen Position trübt. Mit "Apologeten der Volksnation" muß man sich einfach nicht mehr herumschlagen. Jedem ist klar, daß der ethnisch-völkische Integrationsmodus dem politisch-staatsbürgerlichen weichen muß und überdies selbst im Staat des ius sanguinis längst gewichen ist.
Größere Genauigkeit hätte auch vor vorschnellen Identifikationen bewahrt. Wie die gegenwärtige Debatte zeigt, ist nicht gleich ein Menschenrechtsskeptiker, oder schlimmer noch: ein Schmittianer, der vor einer moralisch forcierten Menschenrechtspolitik zurückschreckt und einem zurückhaltenden Pragmatismus das Wort redet. Und da der Nationalstaat nicht im mindesten an ethnische Homogenität gebunden ist und sich auch nicht gegen die Übertragung hoheitsrechtlicher Befugnisse an supranationale Organisationen mit eigenstaatlichen Strukturen sperrt, kann man seine bisherigen Verdienste um und seine zukünftige Unentbehrlichkeit für Rechtssicherung, Demokratiefestigung und soziale Gerechtigkeit nüchtern konstatieren. Man muß ihn nicht als politisches Biotop ethnisch-völkischer Exklusivität denunzieren, vor dem nur die Flucht in die konturenverschluckende Weite einer emanzipierten weltbürgerlichen Gesellschaft hilft.
Jürgen Habermas: "Die Einbeziehung des Anderen". Studien zur politischen Theorie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 399 S., geb., 64,-; kt., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main