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Rettungen ins Eigene, die sich "am Schnittpunkt von Sonder- und Normalfall" vollziehen, in Augenblicken scheinbarer Selbstvergessenheit, in der Ernüchterung durch Kränkung und Schmerz, im Wagemut des Alters oder im Vorschein des Todes: um sie geht es in den Menschenporträts dieses Bandes, geht es in den Bildwerken von Pieter Brueghel d.Ä., Christa Biederbick, Geertgen tot Sint Jans, John Constable, Philips Wouverman, Dieter Asmus, Matthias Grünewald und Franz Xaver Messerschmidt, die Brigitte Kronauer als "Denkmal des Individuums" erkennt, als hintersinnige Behauptungen einer Menschenwürde, die sich flüchtiger Betrachtung stolz verschließt.…mehr

Produktbeschreibung
Rettungen ins Eigene, die sich "am Schnittpunkt von Sonder- und Normalfall" vollziehen, in Augenblicken scheinbarer Selbstvergessenheit, in der Ernüchterung durch Kränkung und Schmerz, im Wagemut des Alters oder im Vorschein des Todes: um sie geht es in den Menschenporträts dieses Bandes, geht es in den Bildwerken von Pieter Brueghel d.Ä., Christa Biederbick, Geertgen tot Sint Jans, John Constable, Philips Wouverman, Dieter Asmus, Matthias Grünewald und Franz Xaver Messerschmidt, die Brigitte Kronauer als "Denkmal des Individuums" erkennt, als hintersinnige Behauptungen einer Menschenwürde, die sich flüchtiger Betrachtung stolz verschließt.

Autorenporträt
Kronauer, BrigitteBrigitte Kronauer, 1940 in Essen geboren, lebte als freie Schriftstellerin in Hamburg. Ihr schriftstellerisches Werk wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis der Stadt Berlin, mit dem Heinrich-Böll-Preis, dem Hubert-Fichte-Preis der Stadt Hamburg, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Jean-Paul-Preis ausgezeichnet. 2005 wurde ihr von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung der Büchner-Preis verliehen. Brigitte Kronauer verstarb im Juli 2019.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.1996

Ersehnter Ruck
Brigitte Kronauers lebende Bilder · Von Heinrich Detering

Es ist ein schöner Anblick, wie im Zeitalter der neuen Medien die alten enger zusammenrücken. Während zwischen den elektronischen Datenträgern die erstaunlichsten Symbiosen und rasantesten Vermischungen stattfinden, drehen einige Poeten einfach dem Bildschirm den Rücken und wenden sich den Bildern zu. Gedichte und Geschichten spazieren in die Galerien und dort geradewegs hinein in die Gemälde. Vereinigungen auch hier, aber in aller Stille - Malerei und Poesie sind beide ein bißchen in die Jahre gekommen und entdecken nun gemeinsam die Genüsse des Alters und der Langsamkeit. Nachdem Anne Duden in den Museen den "wunden Punkt im Alphabet" gefunden hat und kurz bevor Anita Albus in ihren "Erinnerungen an die Malerei" abermals "die Kunst der Künste" preist, komponiert Brigitte Kronauers Band "Die Einöde und ihr Prophet" eine Folge von Essays und Erzählungen um eine Mitte, in der acht Skulpturen und Gemälde stehen.

Einzelnes war früher schon verstreut zu lesen, und einige benachbarte Essays "Zu Literatur und Kunst" versammelte schon im vergangenen Jahr das Bändchen "Die Lerche in der Luft und im Nest". Aber auch wer davon nichts mitbekommen hat, wird von dieser Wendung nicht überrascht sein. Zu- und hinschauen zu können, Anblicke in Sätze zu verwandeln und die Stille des scheinbar Ereignislosen in die Sprache hinüberzuretten, diese Kunst hat Brigitte Kronauer den Ruf einer einzelgängerischen und ziemlich einzigartigen Erzählerin eingetragen. In der unausweichlichen Zeitgebundenheit der Texte, in der Folge der Wörter die Zeitenthobenheit eines einzelnen Bildes zu bewahren: dieses heimliche Zentrum ihres Schreibens wird hier zum ausdrücklichen Programm.

Den Traum vom "Anhalten des Zeitstroms", den diese Texte in Werken von Wouverman bis Dieter Asmus als Wirklichkeit sehen, träumen sie auch von sich selbst: sie sehnen sich danach, einen "Stillstand für ein bescheidenes Weilchen" zu schaffen, "exaltierten Stillstand" zu erzeugen, "Ereignis und Stillstand der Dinge auf gleicher Intensitätshöhe" zu zeigen. Nicht die Dinge vollbringen dieses Wunder, allein der Blick vermag es, der auf ihnen ruht wie auf einem Bild und sie so (religiöse Metaphern sind nicht ganz selten) aus der Zeitlichkeit erlöst. Kunst ist die Aufhebung jedes Verfalldatums.

Die Gemälde lehren diesen Blick, aber er bleibt nicht ihr Privileg. Deshalb stehen die Auseinandersetzungen mit ihnen, obwohl sie eigentlich die kleinste Textgruppe der Sammlung darstellen, hier in der Mitte; die Erzählungen, die sie einrahmen wie die Seitenflügel eines Triptychons, geben sich schon durch diese Anordnung als Anwendungsfälle des dort Gelernten aus. Betrachtungen sind alle Texte dieses Bandes, und zwar, wie es sich für diese Virtuosin der Vieldeutigkeit gehört, im mehrfachen Wortsinn: als Bildbetrachtungen im strikten Genre-Sinn, erzählerische Versenkungen in An- und Augenblicke, stilistische Etüden der Anschaulichkeit.

Die Einlösung dieses Vorhabens ist nun genau dort fast komplett mißlungen, wo das Spiel am leichtesten zu sein schien: in den Texten über Gemälde. Merkwürdig und bemerkenswert, wie vollständig die oft gerühmten Tugenden dieser Betrachterin sich verlieren, sobald sie sich nicht mehr den Anblicken alltäglicher Lebenswelten gegenübersieht, sondern einem gemalten Bild. Da drängt hinter den Augen unaufhaltsam das Gelernte heran, das Gelesene und Vorgewußte, und es trübt den Blick. Weil sich die Schreibende über die Maßen bemüht, gerade hier ihr Programm zu artikulieren, löst sie es nicht ein; weil sie partout loswerden will, was sie über die Biographien der Maler, über Zeitumstände und Techniken herausbekommen hat, sieht sie gar nicht mehr richtig hin.

Am Ende eines Essays über - nein: aus Anlaß von Constables "The Lock" ruft sie sich, sehr zu Recht, selber zur Ordnung: "Zurück zu Constables Schleusenwärter". Doch selbst diese Bemerkung bleibt eine folgenlose Floskel; drei Zeilen später ist der Text schon am Ende und von Constables Bild so weit entfernt wie zuvor. Daß unsere automatisierte Wahrnehmung durch eine ästhetische Hemmung, eine Stockung und Stauung zu neuer Offenheit für das einzelne und für die Einzelheiten bewegt werden könnte - diese Maxime, die der Essay fast ausschließlich aus dem bloßen Bildtitel abgeleitet hat, beherzigt er selber kein bißchen.

Überhaupt sind die Gemälde hier dermaßen umstellt von Zitaten und Vergleichsbeispielen aus Kunst- und Literaturgeschichte, daß der Leser sie kaum noch zu Gesicht bekommt. (Eine rühmenswerte Ausnahme ist ausgerechnet das von der Moderne in Grund und Boden verklärte Bild des Auferstehenden auf dem Isenheimer Altar, dem hier ein meisterhaftes Prosastück gilt.) Auf nur zweieinhalb Seiten wird nicht allein "Pieter Brueghel der Ältere (etwa 1523-30 bis 1569)" mitsamt seinem Biographen vorgestellt, sondern auch gleich eine Phalanx aus Claudius, Celan, Goethe, Bürger, Holbein, Notke, François I. und Philipp von Spanien herbeizitiert. Die Formulierungslust weicht dem pedantischen Diensteifer jenes professoralen Museumsführers, dessen Kunstblindheit ein anderer Essay attackiert. Selbst das Ressentiment wird nicht ganz verschmäht - so in der beiläufigen Rede vom "20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Abstraktion, das vor Plattheit sichtbarer Realität intellektuell zu scheuen beliebt" - einer Bemerkung, die selbst nicht gerade durch Anschaulichkeit glänzt (und das Jahrhundert wohl auch nicht besonders kränken wird).

"There are no ideas but in things", zitiert die Kritikerin im selben Zusammenhang W. C. Williams. In dieser ideenerfüllten und dingarmen Umgebung wirkt das nicht sonderlich überzeugend. Stellenweise sind dem getrübten Blick sogar die eigenen Metaphern dermaßen entglitten, wie man es bei dieser Perfektionistin des Details kaum für möglich hielt. Da wird ein Reisender, ganz unironisch, "zumindest teilweise auf den Arm genommen"; ein Vorgang ist "je länger, desto unentrinnbarer"; und die allerunentrinnbarste Platitüde schließlich, wonach jemand "den Einstieg in die Intimität" suche, befördert vorübergehend die Lust zum Ausstieg aus diesem Text.

Aber halt! Aber dann! Wenn sich die Erzählerin die Kunstgeschichte aus den Augen wischt und wieder anguckt, was es in der Hamburger Fußgängerzone oder in der nachbarlichen Beziehungskrise zu sehen gibt, dann verwandeln sich unter ihren geübten Blicken die Banalitäten in Tragikomödien, ironisch und trotzdem nicht ohne Mitgefühl, manchmal rührend und doch immer ohne sentimentale Schlagseiten. Dann entstehen im Spiel der Bilder und Spiegelbilder zarte Sätze und schöne Geschichten. Die besten Bilder warten hinter den Gemälden. Mit Vergnügen und meistens erfolgreich manövrieren die Texte dabei hart am Rande der manieristischen Überdrehtheit. Zur sinnlosen Trauer der Alternden über das Vergehen einer Schönheit, die sie doch in Wahrheit niemals besessen hat: "Ist das, da es keinerlei Sinn gibt, nicht eine doppelte, fragt sich Gertrud, Strafe?" Überhaupt, die Parenthesen: "Das Gute, klar, hat keinen Bestand . . . Die grundsätzliche Auslöschung, das ist der Haken, wartet immer." An den Haken dieser beiden Selbstunterbrechungen festhängend, werden die Zwillings-Kalendersprüche ironisch verzögert, aufgehalten und auf einmal wieder wahr.

So geschärft, entdeckt der Leserblick zierliche Nebenbei-Bemerkungen (im Garten "Urwaldgrün, so weit - es war nicht weit - das Auge reichte") und Metaphern, daß ihm die Augen übergehen. Von alten Hausmauern in der Stadt: "Die Tauben blätterten mit der Farbe von den Vorsprüngen ab"; das schöne Bild wird nur eine Seite später eine so raffinierte wie schaurig prosaische Beziehung zum Leiden an einer Hautkrankheit eingehen. In solchen Blicken und Augenblicken gelingt tatsächlich, was Viktor S_klovskij, in der Pionierzeit der modernen Ästhetik, als die Aufgabe der Dichtung bestimmt hat: "den Stein wieder steinern zu machen".

Das Vergnügen beginnt mit der ersten Erzählung, drei im virtuosen Zeitspiel verflochtenen Lebens- und Sterbensläufen; und es erreicht seinen Höhepunkt mit der unvergeßlichen Irene Gartmann, deren Reise im Intercity, nach der überraschendsten Route in der deutschen Literatur, am Ende ins heilignüchterne Stuttgart führt. Reisemetaphern sind es auch, in denen dieses Buch sich (unfreiwillig, aber wer weiß) am genauesten selbst charakterisiert. Man liest es, wie seine Erzählerin in der Erzählung Zazzera durch Italien reist - "anfangs pathetisch", auf "an den Rändern unzuverlässig gesicherter Straße, in elegischem Pendeln und steilem Zickzack" und immer in beachtlicher "Schiefe dem allgemeinen Küstenverlauf gegenüber". Wer unterwegs nicht schwindlig wird, den belohnt in manchen Kurven sogar "der ersehnte Ruck". Die Gefälle dieser Berg-und-Tal-Fahrt bleiben beträchtlich. Aber nach der Fahrt durchs Flachland sind die Ausblicke vom Höhenkamm einfach hinreißend.

Brigitte Kronauer: "Die Einöde und ihr Prophet". Über Menschen und Bilder. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1996. 245 S., geb., 44,- DM.

Brigitte Kronauer: "Die Lerche in der Luft und im Nest". Zu Literatur und Kunst. Aufbau Verlag, Berlin 1995. 110 S., br., 20,- DM.

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