"Zum Teufel noch mal, was für ein großartiger Schriftsteller, schon mit 26 Jahren!" Andrea Camilleri
Ein einziger Tag in ihrer Kindheit, so scheint es, hat über ihr ganzes Leben entschieden. An einem solchen Tag verlor Alice für immer ihre Unbeschwertheit und das Vertrauen zu ihrem halsstarrigen Vater. Mattia hingegen verlor mit sechs Jahren seine Schwester, deren Hilfsbedürftigkeit er ein einziges Mal, für wenige Stunden, missachtet hatte. Seither quälen ihn Schuldgefühle, die er niemandem offenbart.
Sieben Jahre später lernen Mattia und Alice sich auf dem Gymnasium kennen. Die Anziehungskraft zwischen den beiden scheint unwiderstehlich. Jeder erkennt im anderen die eigene Einsamkeit. Alice ist der einzige Mensch, dem Mattia wenigstens einmal seinen Schmerz zu offenbaren wagt. Und umgekehrt würde sie nie einen anderen als ihn bitten, das Tattoo von ihrer Haut zu entfernen, mit dem sie ihre inneren Wunden gleichsam übermalen wollte. Doch mit den Jahren werden die Hindernisse, diedie beiden einander unbewusst in den Weg legen, höher und höher. Bis sie sich entscheiden müssen.
In einer ebenso klaren wie poetisch-eindringlichen Sprache erzählt Paolo Giordano die Geschichte von Alice und Mattia, die wie Primzahlzwillinge nahe beieinanderstehen und doch immer durch eine Winzigkeit getrennt bleiben. Komplexe Seelenzustände schildert er so genau, dass sie fassbar werden und uns tief berühren. Paolo Giordano findet unvergessliche Bilder für die verschlungenen Wege, auf denen die Dramen der Kindheit in uns fortwirken. Seine Prosa verwandelt auf magische Weise Schmerz in Trost.
Ausgezeichnet mit Italiens renommiertestem Literaturpreis dem "Premio Strega". Mit 26 Jahren ist Paolo Giordano der jüngste Gewinner aller Zeiten.
Ein einziger Tag in ihrer Kindheit, so scheint es, hat über ihr ganzes Leben entschieden. An einem solchen Tag verlor Alice für immer ihre Unbeschwertheit und das Vertrauen zu ihrem halsstarrigen Vater. Mattia hingegen verlor mit sechs Jahren seine Schwester, deren Hilfsbedürftigkeit er ein einziges Mal, für wenige Stunden, missachtet hatte. Seither quälen ihn Schuldgefühle, die er niemandem offenbart.
Sieben Jahre später lernen Mattia und Alice sich auf dem Gymnasium kennen. Die Anziehungskraft zwischen den beiden scheint unwiderstehlich. Jeder erkennt im anderen die eigene Einsamkeit. Alice ist der einzige Mensch, dem Mattia wenigstens einmal seinen Schmerz zu offenbaren wagt. Und umgekehrt würde sie nie einen anderen als ihn bitten, das Tattoo von ihrer Haut zu entfernen, mit dem sie ihre inneren Wunden gleichsam übermalen wollte. Doch mit den Jahren werden die Hindernisse, diedie beiden einander unbewusst in den Weg legen, höher und höher. Bis sie sich entscheiden müssen.
In einer ebenso klaren wie poetisch-eindringlichen Sprache erzählt Paolo Giordano die Geschichte von Alice und Mattia, die wie Primzahlzwillinge nahe beieinanderstehen und doch immer durch eine Winzigkeit getrennt bleiben. Komplexe Seelenzustände schildert er so genau, dass sie fassbar werden und uns tief berühren. Paolo Giordano findet unvergessliche Bilder für die verschlungenen Wege, auf denen die Dramen der Kindheit in uns fortwirken. Seine Prosa verwandelt auf magische Weise Schmerz in Trost.
Ausgezeichnet mit Italiens renommiertestem Literaturpreis dem "Premio Strega". Mit 26 Jahren ist Paolo Giordano der jüngste Gewinner aller Zeiten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.09.2009Unheimliche Familienbande
Magersucht statt Mamma mia: Paolo Giordanos Erfolgsroman „Die Einsamkeit der Primzahlen”
In Italien gab es im letzten Jahr zwei Bücher, über die alle redeten. Beide waren Debüts, beide verkauften sich über eine Million Mal, beide räumten alle wichtigen Preise ab. Das erste – bei Mondadori erschienen – war die mittlerweile international beachtete und verfilmte Camorra-Reportage „Gomorra” des 1979 geborenen Roberto Saviano. Der zweite Überraschungserfolg kam ebenfalls bei Mondadori heraus, war binnen Wochen in aller Munde, und begeisterte – wie übrigesn auch „Gomorra” – in erster Linie junge Leute: der Roman die „Die Einsamkeit der Primzahlen” des Turiner Physikers Paolo Giordano. Im Kontrast zu Savianos Buch, in dem sich ein brisanter Stoff – die globalisierte Kriminalität, der Schauplatz Neapel mit seiner Dritte-Welt-Peripherie – und eine mitreißende Erzählweise verbinden, erschien das Debüt von Paolo Giordano, Jahrgang 1982, auf den ersten Blick als eher konventioneller Entwicklungsroman.
Die Helden heißen Alice und Mattia, die Handlung setzt 1983 ein und endet 2007. Die erzählte Zeit wird nicht als ein Kontinuum aufgebaut, sondern mit mathematischer Präzision punktuell entfaltet: der Autor wählt bestimmte Moment aus und nimmt seine Figuren alle paar Jahre neu in den Blick. Zu Beginn des Romans sind die Protagonisten Kinder. Alice und Mattia treten abwechselnd in den Blick; auch als sich die Lebenswege der beiden überkreuzen, schildert der Giordano die Geschehnisse weiter im selben Rhythmus. Die formale Gestaltung entspricht dem Titel des Buches. „Die Einsamkeit der Primzahlen” bezieht sich auf den Charakter dieser Zahlen, die nur durch eins und sich selbst teilbar sind.
Mattia, der später Mathematiker wird, beschäftigt sich mit den Eigenarten derartiger Phänomene und vergleicht sich und Alice mit Primzahlen – trotz ihrer Nähe werden sie nie ein Paar. Ihre parallelen Beschädigungen sind das Scharnier der Geschichte, die in der piemontesischen Haupstadt Turin angesiedelt ist. Mit ihren arkadengesäumten Straßen, den eleganten Villen auf den Hügeln, der Kirche Gran Madre und dem träge dahin fließenden Po wirkt Giordanos Turin, dessen Name kein einziges Mal fällt, wie eine gespenstische Kulisse, bevölkert von lauter Untoten. Nur die Kinder sind anders.
Vor allem der erste Teil von „Die Einsamkeit der Primzahlen” besitzt eine gewisse Suggestion. Giordano wählt eine unaufdringliche Erzählerstimme, die die Geschehnisse konsequent aus der Perspektive der Kinder darlegt. Alice wird von ihrem ehrgeizigen Vater täglich zum Skikurs getrieben und macht sich zwanghaft in die Hosen. An einem nebligen Morgen bekommt sie zusätzlich Durchfall, fährt tief beschämt allein ins Tal, stürzt und hat kein Gespür mehr in den Beinen. Das Kapitel endet mit einem veritablen Cliffhanger – Giordano geht zu seinem zweiten Helden Mattia über. Der hochbegabte Junge hat eine autistische Zwillingsschwester, an die er sich mit einer Mischung aus Loyalität und Hass gekettet fühlt. Als die Geschwister eines Tages zu einem Geburtstag eingeladen werden, fragt Mattia seine Mutter, ob er allein zu der Feier gehen könne. Sie lehnt ab. Auf dem Hinweg durchqueren die Kinder einen Park, und Mattia lässt seine Schwester auf einer Bank zurück. Zwei Stunden später will er sie wieder abholen, aber Michela ist verschwunden.
Giordano verzichtet auf Deutungen und liefert stattdessen fotoähnliche Bilderfolgen. Beide Hauptfiguren reagieren auf die frühen Verletzungen mit Persönlichkeitsstörungen. Die hinkende Alice bekommt Magersucht, Mattia, dessen Schwester nie wieder auftaucht, beginnt sich selbst zu verletzen. Wie auf einer Drehbühne präsentiert der Autor in grell ausgeleuchteten Szenen Jugend und frühes Erwachsenenalter: alltägliche Erniedrigungen durch Schulkameraden, das Gymnasium, Alices Ausbildung als Fotografin, ihre Ehe, Mattias brillianter Studienabschluss, sein Wechsel an eine nordeuropäische Universität. Zu ihrer Umgebung halten beide Distanz, Alice versteckt sich hinter der Kamera, Mattia benutzt mathematische Gesetze als Wirklichkeitsfilter. Untergründig bleibt ihre enge Bindung bestehen, und erst nach zwei, drei Verwicklungen und einem letzten Treffen können sie sich endgültig voneinander lösen. Am Ende, so deutet Giordano an, finden sie die Kraft, sich auf ihr Leben einzulassen.
Giordano, der neben seinem mit Auszeichnung abgeschlossenem Physikstudium zwei Semester lang Alessandro Bariccos Schreibschule „Holden” besucht hat, beherrscht die Grundlagen seines Handwerks. Er kann einen Plot bauen, hat ein Gespür für Figuren und die Gestaltung erzählerischer Räume. Dass die Filmrechte seines Romans längst verkauft sind, ist nicht weiter verblüffend. Paolo Giordanos eher biederer Realismus ließe sich auch als eine Reaktion auf die in Italien omnipräsente überdrehte Fernsehästhetik deuten – es geht dem Autor um eine möglichst präzise und einfache Darstellung von Wirklichkeit, so als wolle er die Deutungshoheit zurück erobern.
Dabei beruft er sich auf keinen der großen italienischen Realisten, sondern auf amerikanische Vorbilder: den unverwüstlichen Raymond Carver, Michael Cunningham, mit einem Hauch von David Foster Wallace. Für seine Ästhetik sind aber Kinofilme entscheidender als literarische Experimente der Moderne. Die Sprache seines Romans jedenfalls ist mitunter quälend naiv. Worin liegt nun aber der überwältigende Erfolg in Italien begründet? „Die Einsamkeit der Primzahlen” ist ein sehr zugängliches Buch, und es entwickelt einen starken identifikatorischen Sog. Dass die Helden am Ende doch mehr oder weniger ungeschoren davon kommen, hat einen beschwichtigenden Effekt. Eine ganze Generation scheint sich in der Wohlstandsverwahrlosung von Mattia und Alice wieder zu erkennen.
Damit liefert Giordano das Komplementärstück zu Savianos „Gomorra”: bei dem neapolitanischen Doku-Roman wird die Gesellschaft in ihren extremen Auswüchsen präsentiert. Bei Giordano steht die bürgerliche Familie – oder was davon übrig geblieben ist – im Mittelpunkt. Die Verwüstungen betreffen den privaten Bereich, sind aber kaum weniger verheerend. Die depressive Grundstimmung seines Romans passt zur gesellschaftlichen Erstarrung, die das ganze Land ergriffen hat. Jetzt melden sich die Kinder zu Wort. MAIKE ALBATH
PAOLO GIORDANO: Die Einsamkeit der Primzahlen. Aus dem Italienischen von Bruno Genzer. Blessing Verlag, München 2009. 368 Seiten, 19, 95 Euro.
Zur Mythologie Italiens gehörte einst die fröhliche Familie, jetzt macht dort ein Roman Furore, in dem Kinder so einsam sind wie Primzahlen. Foto: Mauritius images
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Magersucht statt Mamma mia: Paolo Giordanos Erfolgsroman „Die Einsamkeit der Primzahlen”
In Italien gab es im letzten Jahr zwei Bücher, über die alle redeten. Beide waren Debüts, beide verkauften sich über eine Million Mal, beide räumten alle wichtigen Preise ab. Das erste – bei Mondadori erschienen – war die mittlerweile international beachtete und verfilmte Camorra-Reportage „Gomorra” des 1979 geborenen Roberto Saviano. Der zweite Überraschungserfolg kam ebenfalls bei Mondadori heraus, war binnen Wochen in aller Munde, und begeisterte – wie übrigesn auch „Gomorra” – in erster Linie junge Leute: der Roman die „Die Einsamkeit der Primzahlen” des Turiner Physikers Paolo Giordano. Im Kontrast zu Savianos Buch, in dem sich ein brisanter Stoff – die globalisierte Kriminalität, der Schauplatz Neapel mit seiner Dritte-Welt-Peripherie – und eine mitreißende Erzählweise verbinden, erschien das Debüt von Paolo Giordano, Jahrgang 1982, auf den ersten Blick als eher konventioneller Entwicklungsroman.
Die Helden heißen Alice und Mattia, die Handlung setzt 1983 ein und endet 2007. Die erzählte Zeit wird nicht als ein Kontinuum aufgebaut, sondern mit mathematischer Präzision punktuell entfaltet: der Autor wählt bestimmte Moment aus und nimmt seine Figuren alle paar Jahre neu in den Blick. Zu Beginn des Romans sind die Protagonisten Kinder. Alice und Mattia treten abwechselnd in den Blick; auch als sich die Lebenswege der beiden überkreuzen, schildert der Giordano die Geschehnisse weiter im selben Rhythmus. Die formale Gestaltung entspricht dem Titel des Buches. „Die Einsamkeit der Primzahlen” bezieht sich auf den Charakter dieser Zahlen, die nur durch eins und sich selbst teilbar sind.
Mattia, der später Mathematiker wird, beschäftigt sich mit den Eigenarten derartiger Phänomene und vergleicht sich und Alice mit Primzahlen – trotz ihrer Nähe werden sie nie ein Paar. Ihre parallelen Beschädigungen sind das Scharnier der Geschichte, die in der piemontesischen Haupstadt Turin angesiedelt ist. Mit ihren arkadengesäumten Straßen, den eleganten Villen auf den Hügeln, der Kirche Gran Madre und dem träge dahin fließenden Po wirkt Giordanos Turin, dessen Name kein einziges Mal fällt, wie eine gespenstische Kulisse, bevölkert von lauter Untoten. Nur die Kinder sind anders.
Vor allem der erste Teil von „Die Einsamkeit der Primzahlen” besitzt eine gewisse Suggestion. Giordano wählt eine unaufdringliche Erzählerstimme, die die Geschehnisse konsequent aus der Perspektive der Kinder darlegt. Alice wird von ihrem ehrgeizigen Vater täglich zum Skikurs getrieben und macht sich zwanghaft in die Hosen. An einem nebligen Morgen bekommt sie zusätzlich Durchfall, fährt tief beschämt allein ins Tal, stürzt und hat kein Gespür mehr in den Beinen. Das Kapitel endet mit einem veritablen Cliffhanger – Giordano geht zu seinem zweiten Helden Mattia über. Der hochbegabte Junge hat eine autistische Zwillingsschwester, an die er sich mit einer Mischung aus Loyalität und Hass gekettet fühlt. Als die Geschwister eines Tages zu einem Geburtstag eingeladen werden, fragt Mattia seine Mutter, ob er allein zu der Feier gehen könne. Sie lehnt ab. Auf dem Hinweg durchqueren die Kinder einen Park, und Mattia lässt seine Schwester auf einer Bank zurück. Zwei Stunden später will er sie wieder abholen, aber Michela ist verschwunden.
Giordano verzichtet auf Deutungen und liefert stattdessen fotoähnliche Bilderfolgen. Beide Hauptfiguren reagieren auf die frühen Verletzungen mit Persönlichkeitsstörungen. Die hinkende Alice bekommt Magersucht, Mattia, dessen Schwester nie wieder auftaucht, beginnt sich selbst zu verletzen. Wie auf einer Drehbühne präsentiert der Autor in grell ausgeleuchteten Szenen Jugend und frühes Erwachsenenalter: alltägliche Erniedrigungen durch Schulkameraden, das Gymnasium, Alices Ausbildung als Fotografin, ihre Ehe, Mattias brillianter Studienabschluss, sein Wechsel an eine nordeuropäische Universität. Zu ihrer Umgebung halten beide Distanz, Alice versteckt sich hinter der Kamera, Mattia benutzt mathematische Gesetze als Wirklichkeitsfilter. Untergründig bleibt ihre enge Bindung bestehen, und erst nach zwei, drei Verwicklungen und einem letzten Treffen können sie sich endgültig voneinander lösen. Am Ende, so deutet Giordano an, finden sie die Kraft, sich auf ihr Leben einzulassen.
Giordano, der neben seinem mit Auszeichnung abgeschlossenem Physikstudium zwei Semester lang Alessandro Bariccos Schreibschule „Holden” besucht hat, beherrscht die Grundlagen seines Handwerks. Er kann einen Plot bauen, hat ein Gespür für Figuren und die Gestaltung erzählerischer Räume. Dass die Filmrechte seines Romans längst verkauft sind, ist nicht weiter verblüffend. Paolo Giordanos eher biederer Realismus ließe sich auch als eine Reaktion auf die in Italien omnipräsente überdrehte Fernsehästhetik deuten – es geht dem Autor um eine möglichst präzise und einfache Darstellung von Wirklichkeit, so als wolle er die Deutungshoheit zurück erobern.
Dabei beruft er sich auf keinen der großen italienischen Realisten, sondern auf amerikanische Vorbilder: den unverwüstlichen Raymond Carver, Michael Cunningham, mit einem Hauch von David Foster Wallace. Für seine Ästhetik sind aber Kinofilme entscheidender als literarische Experimente der Moderne. Die Sprache seines Romans jedenfalls ist mitunter quälend naiv. Worin liegt nun aber der überwältigende Erfolg in Italien begründet? „Die Einsamkeit der Primzahlen” ist ein sehr zugängliches Buch, und es entwickelt einen starken identifikatorischen Sog. Dass die Helden am Ende doch mehr oder weniger ungeschoren davon kommen, hat einen beschwichtigenden Effekt. Eine ganze Generation scheint sich in der Wohlstandsverwahrlosung von Mattia und Alice wieder zu erkennen.
Damit liefert Giordano das Komplementärstück zu Savianos „Gomorra”: bei dem neapolitanischen Doku-Roman wird die Gesellschaft in ihren extremen Auswüchsen präsentiert. Bei Giordano steht die bürgerliche Familie – oder was davon übrig geblieben ist – im Mittelpunkt. Die Verwüstungen betreffen den privaten Bereich, sind aber kaum weniger verheerend. Die depressive Grundstimmung seines Romans passt zur gesellschaftlichen Erstarrung, die das ganze Land ergriffen hat. Jetzt melden sich die Kinder zu Wort. MAIKE ALBATH
PAOLO GIORDANO: Die Einsamkeit der Primzahlen. Aus dem Italienischen von Bruno Genzer. Blessing Verlag, München 2009. 368 Seiten, 19, 95 Euro.
Zur Mythologie Italiens gehörte einst die fröhliche Familie, jetzt macht dort ein Roman Furore, in dem Kinder so einsam sind wie Primzahlen. Foto: Mauritius images
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2010Liebe unter dem Minuszeichen
Scheiternde Wahlverwandtschaften: Paolo Giordanos subtiles Debüt war ein Überraschungserfolg in Italien
Am Erfolg hängt, zum Erfolg drängt doch alles. Heißt dies nicht, literarisch gewendet: Gib dem Leser, was des Lesers ist. Was aber will er? Bestsellerlisten, Stückzahlen beantworten es mit einem ganz neues Genre: dem Designerroman. Er ist ein Produkt der Medienkonkurrenz. Gewonnen hat den Kampf um die freie Zeit des Publikums zwar der Kino- und Fernsehfilm. Doch in seinem Rücken scheint der langsame, selbstlose Buchstabe der Literatur einen ganz neuen, alternativen Genuss zu bieten: eine Diät gegen die Fresslust schneller, gieriger Bilder.
Anschauung kann ein eklatanter Fall aus Italien geben. Es ist der Debütroman von Paolo Giordano, sechundzwanzig, Doktorand der Physik. Er trägt den Titel "Die Einsamkeit der Primzahlen", erreichte in weniger als einem Jahr eine Auflage von über einer Million, beherrschte Bestsellerlisten und Kritik und erhielt den "Premio Strega", den angesehensten Literaturpreis Italiens.
Erfolge haben Gründe. Zwei erstaunliche spielen hier zusammen. Giordano ist nicht naiv. Er hat die "Scuola Holden", die Schreibschule des Medienartisten Alessandro Barrico (F.A.Z. von 9. Mai 2008), besucht - und offensichtlich seine Lektion gelernt. Schreiben für Publikum heißt demnach, dessen Sehgewohnheiten entgegenzukommen. Der Text muss leichtgängig sein, braucht einen Erzähler, der alles in der Hand hat, ohne dass er es zeigt; kurze Kapitel, knappe Sätze; Stil ja, doch kaum Ballast; präzise Figuren, biographisch geordnet; Mattia und Alice, die Protagonisten, schicksalhaft füreinander bestimmt; und überm Horizont der Regenbogen einer Liebesgeschichte mit ausreichend emotionalem Niederschlag. Alles ist angerichtet für einen schönen Abend im Sprachkino.
Und dann das: Giordano bedient zwar all diese Erwartungen, doch nur, um durch sie hindurch ein ebenso berührendes wie subtiles Drama von Einsamkeit und Entsagung aufzuführen. Es folgt einer klassischen, geradezu mathematisch strengen Linienführung: zwei unabhängige Adoleszenzgeschichten, die sich nahekommen, doch unvereinbar bleiben, wie Zwillingsprimzahlen, die der Titel meint. Ihre unerfüllte Liebe nimmt den Leser mit, um ihm zu eröffnen, warum sie unerfüllt bleiben musste.
Erste Szene: Alice sollte, nach dem Willen des Vaters, es im Skifahren zu etwas bringen. Sie verunglückt; ihr Bein versteift. Mit dem Bewusstsein eines Krüppels tritt sie ins Leben ein; es ist zugleich der Anfang ihres Austritts. Parallel dazu die zweite Szene: Mattia, eingeladen zur Geburtstagsfeier eines Klassenkameraden, lässt, um dem Spott der anderen zu entgehen, seine behinderte Schwester im Park zurück. Man wird sie nie mehr finden; er geht sich darüber selbst verloren. Zwei verfehlte Initiationen ins Leben - und eine effektvolle Vorlage, um belletristisch für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen.
Doch Giordano ist unerbittlich. Von den Erniedrigungen der Schulzeit über die Nöte erwachender Sexualität, über versagte Freundschaften, verlorene Beziehungen zu den Eltern bis zu den Selbstüberlassenheiten in Ausbildung und Beruf legt er einen Stationenweg an, der mit jedem Schritt nur den verfehlten Anfang weiter entfaltet, streng wie ein analytisches Schicksalsdrama. Je länger sie am Leben teilnehmen, desto tiefer gräbt sich ihnen ein, dass sie nicht dazugehören. An einer Stelle lässt die Geschichte einen Durchblick auf ihre Beweggründe zu: "Er lehnte die Welt ab, sie fühlte sich von der Welt abgelehnt." Von Beginn an treten sie deshalb den Rückzug in sich selbst an und liefern sich ihren schadhaften Seelen aus. Folgt man Freud, kehrt das Verdrängte freilich entstellt wieder: beide übertragen die Ablehnung ihrer selbst auf ihren Körper. Sie verfolgt ihn mit Bulimie; er verkrüppelt sich Hände und Haut.
Wie in einem (guten) Drama wird die Falllinie zur rechten Zeit jedoch von einem sensiblen retardierenden Moment unterbrochen. Es kommt, wie die Sympathie des Lesers es sich wünscht: Die beiden lernen sich kennen; die bisher parallelen Handlungen gehen ineinander auf. Es hätte die Peripetie ihres Lebens werden können. Doch auch sie war unter falschem Vorzeichen zustande gekommen. Die anderen, die Mitschüler, die Normalen, waren es, die meinten, die Unzugehörigen müssten doch zusammengehören. Eine raffinierte Pointe Giordanos. Er wendet die sentimentale Mathematik des Unterhaltungsgenres an: minus mal minus ergibt ein Plus des Lebensgefühls.
Und tatsächlich, der eine erkennt sich im anderen. Sie verbringen viel Zeit zusammen, innerlich nahe, körperlich aber fern. Höhepunkt ist - gut klassisch - ein Stück im Stück: In den vergilbten Kleidern der Eltern spielen sie Hochzeit. Im Grunde ist damit bereits alles gesagt: Sie mussten sich im Gewand der Vergangenheit inszenieren, weil eine (gemeinsame) Zukunft ausgeschlossen war. Mit einer alten Polaroid hielten sie wenigstens im Bild eine Möglichkeit fest, die sie in Wirklichkeit nie hatten. Allzu sehr war das, was sie verbindet, von dem bestimmt, was sie von den anderen trennt, eben Liebe unterm Minuszeichen. Immerhin, wenn sie sich trafen, trat eine Stille ein, wo jeder durch den anderen Ruhe vor sich selbst hatte. Aber es blieb eine "Leere" zwischen quälender Einsamkeit und verwehrter Alltäglichkeit. So, als ob sie ein Loch in der Seele hätten, durch das alles verschwindet, was als Erfüllung hätte eintreten können. Mit der Konsequenz, dass das Trennende schließlich zur Trennung führt. Es folgt ein - paralleler - Versuch, ein Leben der anderen zu leben; Scheitern; ein Wiedersehen; abermals vergeblich. Sie bleiben aussichtslos unverbunden verbunden - eine Geschichte ohne Ende. Sie bricht deshalb (rechtzeitig) ab.
Und hinterlässt die eigentlich brisante Frage, warum sie aus ihren Höhlen der Schuld, Scham und Angst keinen Ausgang gefunden haben. Eröffnet wird kaum etwas. Giordanos Roman verwandelt sich dadurch vordergründig wie hintergründig in eine Geschichte des Schweigens und Verschweigens. Es gibt eine Schlüsselszene in ihrer lädierten Biographie, wo sich alles hätte wenden können, wenn sie geredet hätten. Stattdessen verstummen sie hinter Nichtssagendem. "Eine gigantische Sprechblase, gefüllt mit Dingen, die sie sich zu sagen hatten, schwebte über ihnen; doch beide mühten sich, sie zu übersehen, indem sie starr vor sich hinblickten." Wie sich selbst hielten sie auch ihre Sprache unter Verschluss. Um ihrer autistischen Einsperrung zu entkommen, flüchten sie - vergeblich - in Ersatzsprachen: Mattia, der Mathematiker, versucht, alles um sich herum nach Zahlenverhältnissen zu ordnen. Alice macht sich mit ihren Fotos ein Bild von der Welt. Wahrhaft authentisch aber äußern sie sich nur in ihren Narben. So "zubetoniert", wie Giordano seine Figuren agieren lässt, übt er verdeckt Kulturkritik an der zeitgenössischen Video- und Logosphäre.
Was dieser unaufgelösten Gleichung jedoch Rang verleiht: Giordano hat Stil. Er überträgt die Schweigsamkeit seiner Figuren auf seinen Roman selbst. Kein Wort zu viel; keine blumigen metaphorischen Girlanden; karge, einfache Sätze, die keinen Widerstand leisten. Solchen Minimalismus schätzt der Autor an Raymond Carver. Es entsteht so eine sentimentale Geschichte, die weitgehend unsentimental erzählt wird. Sie gewinnt die Gunst des Publikums auf andere Weise. Darin besteht die Kunst Paolo Giordanos. Da große Worte fehlen, muss sich der Blick an die kleinen Dinge halten. Sie verlieren dadurch ihren Charakter als Werkstoff und verwandeln sich in beziehungsreiche Symptome dessen, was verschwiegen wird. In einer unauffällig eingefügten Regieanweisung heißt es: "Die Dinge wirkten ... wie Waren, die nach exaktem Kalkül in einem Schaufenster ausgestellt waren." Als die beiden einmal zusammen Auto fahren, hören sie Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung". Unmerklich eröffnet der Text auf diese Weise eine Sehschule. Dadurch kann nicht nur die Hand Mattias viel mehr offenbaren, "als er es mit seiner Stimme hätte tun können". Alles auf der Oberfläche, mit der er sich umgibt, übernimmt es für ihn - allerdings erst, wenn der Leser es übersetzt.
Das ist das eigentlich Erstaunliche dieses Romans der gescheiterten Wahlverwandtschaften. Er offeriert seine Geschichte weithin im Modus der Enthaltsamkeit und findet doch üppigen Zuspruch - durchaus ein Kompliment an die Leserschaft. Deutet sich darin eine neue Sensibilität an, die am Ufer selbstbeherrschter Schriftlichkeit Erholung von medialen Überschwemmungen in Wort, Bild und Ton sucht?
WINFRIED WEHLE.
Paolo Giordano: "Die Einsamkeit der Primzahlen". Roman. Aus dem Italienischen von Bruno Genzler. Karl Blessing Verlag, München 2009. 363 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Scheiternde Wahlverwandtschaften: Paolo Giordanos subtiles Debüt war ein Überraschungserfolg in Italien
Am Erfolg hängt, zum Erfolg drängt doch alles. Heißt dies nicht, literarisch gewendet: Gib dem Leser, was des Lesers ist. Was aber will er? Bestsellerlisten, Stückzahlen beantworten es mit einem ganz neues Genre: dem Designerroman. Er ist ein Produkt der Medienkonkurrenz. Gewonnen hat den Kampf um die freie Zeit des Publikums zwar der Kino- und Fernsehfilm. Doch in seinem Rücken scheint der langsame, selbstlose Buchstabe der Literatur einen ganz neuen, alternativen Genuss zu bieten: eine Diät gegen die Fresslust schneller, gieriger Bilder.
Anschauung kann ein eklatanter Fall aus Italien geben. Es ist der Debütroman von Paolo Giordano, sechundzwanzig, Doktorand der Physik. Er trägt den Titel "Die Einsamkeit der Primzahlen", erreichte in weniger als einem Jahr eine Auflage von über einer Million, beherrschte Bestsellerlisten und Kritik und erhielt den "Premio Strega", den angesehensten Literaturpreis Italiens.
Erfolge haben Gründe. Zwei erstaunliche spielen hier zusammen. Giordano ist nicht naiv. Er hat die "Scuola Holden", die Schreibschule des Medienartisten Alessandro Barrico (F.A.Z. von 9. Mai 2008), besucht - und offensichtlich seine Lektion gelernt. Schreiben für Publikum heißt demnach, dessen Sehgewohnheiten entgegenzukommen. Der Text muss leichtgängig sein, braucht einen Erzähler, der alles in der Hand hat, ohne dass er es zeigt; kurze Kapitel, knappe Sätze; Stil ja, doch kaum Ballast; präzise Figuren, biographisch geordnet; Mattia und Alice, die Protagonisten, schicksalhaft füreinander bestimmt; und überm Horizont der Regenbogen einer Liebesgeschichte mit ausreichend emotionalem Niederschlag. Alles ist angerichtet für einen schönen Abend im Sprachkino.
Und dann das: Giordano bedient zwar all diese Erwartungen, doch nur, um durch sie hindurch ein ebenso berührendes wie subtiles Drama von Einsamkeit und Entsagung aufzuführen. Es folgt einer klassischen, geradezu mathematisch strengen Linienführung: zwei unabhängige Adoleszenzgeschichten, die sich nahekommen, doch unvereinbar bleiben, wie Zwillingsprimzahlen, die der Titel meint. Ihre unerfüllte Liebe nimmt den Leser mit, um ihm zu eröffnen, warum sie unerfüllt bleiben musste.
Erste Szene: Alice sollte, nach dem Willen des Vaters, es im Skifahren zu etwas bringen. Sie verunglückt; ihr Bein versteift. Mit dem Bewusstsein eines Krüppels tritt sie ins Leben ein; es ist zugleich der Anfang ihres Austritts. Parallel dazu die zweite Szene: Mattia, eingeladen zur Geburtstagsfeier eines Klassenkameraden, lässt, um dem Spott der anderen zu entgehen, seine behinderte Schwester im Park zurück. Man wird sie nie mehr finden; er geht sich darüber selbst verloren. Zwei verfehlte Initiationen ins Leben - und eine effektvolle Vorlage, um belletristisch für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen.
Doch Giordano ist unerbittlich. Von den Erniedrigungen der Schulzeit über die Nöte erwachender Sexualität, über versagte Freundschaften, verlorene Beziehungen zu den Eltern bis zu den Selbstüberlassenheiten in Ausbildung und Beruf legt er einen Stationenweg an, der mit jedem Schritt nur den verfehlten Anfang weiter entfaltet, streng wie ein analytisches Schicksalsdrama. Je länger sie am Leben teilnehmen, desto tiefer gräbt sich ihnen ein, dass sie nicht dazugehören. An einer Stelle lässt die Geschichte einen Durchblick auf ihre Beweggründe zu: "Er lehnte die Welt ab, sie fühlte sich von der Welt abgelehnt." Von Beginn an treten sie deshalb den Rückzug in sich selbst an und liefern sich ihren schadhaften Seelen aus. Folgt man Freud, kehrt das Verdrängte freilich entstellt wieder: beide übertragen die Ablehnung ihrer selbst auf ihren Körper. Sie verfolgt ihn mit Bulimie; er verkrüppelt sich Hände und Haut.
Wie in einem (guten) Drama wird die Falllinie zur rechten Zeit jedoch von einem sensiblen retardierenden Moment unterbrochen. Es kommt, wie die Sympathie des Lesers es sich wünscht: Die beiden lernen sich kennen; die bisher parallelen Handlungen gehen ineinander auf. Es hätte die Peripetie ihres Lebens werden können. Doch auch sie war unter falschem Vorzeichen zustande gekommen. Die anderen, die Mitschüler, die Normalen, waren es, die meinten, die Unzugehörigen müssten doch zusammengehören. Eine raffinierte Pointe Giordanos. Er wendet die sentimentale Mathematik des Unterhaltungsgenres an: minus mal minus ergibt ein Plus des Lebensgefühls.
Und tatsächlich, der eine erkennt sich im anderen. Sie verbringen viel Zeit zusammen, innerlich nahe, körperlich aber fern. Höhepunkt ist - gut klassisch - ein Stück im Stück: In den vergilbten Kleidern der Eltern spielen sie Hochzeit. Im Grunde ist damit bereits alles gesagt: Sie mussten sich im Gewand der Vergangenheit inszenieren, weil eine (gemeinsame) Zukunft ausgeschlossen war. Mit einer alten Polaroid hielten sie wenigstens im Bild eine Möglichkeit fest, die sie in Wirklichkeit nie hatten. Allzu sehr war das, was sie verbindet, von dem bestimmt, was sie von den anderen trennt, eben Liebe unterm Minuszeichen. Immerhin, wenn sie sich trafen, trat eine Stille ein, wo jeder durch den anderen Ruhe vor sich selbst hatte. Aber es blieb eine "Leere" zwischen quälender Einsamkeit und verwehrter Alltäglichkeit. So, als ob sie ein Loch in der Seele hätten, durch das alles verschwindet, was als Erfüllung hätte eintreten können. Mit der Konsequenz, dass das Trennende schließlich zur Trennung führt. Es folgt ein - paralleler - Versuch, ein Leben der anderen zu leben; Scheitern; ein Wiedersehen; abermals vergeblich. Sie bleiben aussichtslos unverbunden verbunden - eine Geschichte ohne Ende. Sie bricht deshalb (rechtzeitig) ab.
Und hinterlässt die eigentlich brisante Frage, warum sie aus ihren Höhlen der Schuld, Scham und Angst keinen Ausgang gefunden haben. Eröffnet wird kaum etwas. Giordanos Roman verwandelt sich dadurch vordergründig wie hintergründig in eine Geschichte des Schweigens und Verschweigens. Es gibt eine Schlüsselszene in ihrer lädierten Biographie, wo sich alles hätte wenden können, wenn sie geredet hätten. Stattdessen verstummen sie hinter Nichtssagendem. "Eine gigantische Sprechblase, gefüllt mit Dingen, die sie sich zu sagen hatten, schwebte über ihnen; doch beide mühten sich, sie zu übersehen, indem sie starr vor sich hinblickten." Wie sich selbst hielten sie auch ihre Sprache unter Verschluss. Um ihrer autistischen Einsperrung zu entkommen, flüchten sie - vergeblich - in Ersatzsprachen: Mattia, der Mathematiker, versucht, alles um sich herum nach Zahlenverhältnissen zu ordnen. Alice macht sich mit ihren Fotos ein Bild von der Welt. Wahrhaft authentisch aber äußern sie sich nur in ihren Narben. So "zubetoniert", wie Giordano seine Figuren agieren lässt, übt er verdeckt Kulturkritik an der zeitgenössischen Video- und Logosphäre.
Was dieser unaufgelösten Gleichung jedoch Rang verleiht: Giordano hat Stil. Er überträgt die Schweigsamkeit seiner Figuren auf seinen Roman selbst. Kein Wort zu viel; keine blumigen metaphorischen Girlanden; karge, einfache Sätze, die keinen Widerstand leisten. Solchen Minimalismus schätzt der Autor an Raymond Carver. Es entsteht so eine sentimentale Geschichte, die weitgehend unsentimental erzählt wird. Sie gewinnt die Gunst des Publikums auf andere Weise. Darin besteht die Kunst Paolo Giordanos. Da große Worte fehlen, muss sich der Blick an die kleinen Dinge halten. Sie verlieren dadurch ihren Charakter als Werkstoff und verwandeln sich in beziehungsreiche Symptome dessen, was verschwiegen wird. In einer unauffällig eingefügten Regieanweisung heißt es: "Die Dinge wirkten ... wie Waren, die nach exaktem Kalkül in einem Schaufenster ausgestellt waren." Als die beiden einmal zusammen Auto fahren, hören sie Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung". Unmerklich eröffnet der Text auf diese Weise eine Sehschule. Dadurch kann nicht nur die Hand Mattias viel mehr offenbaren, "als er es mit seiner Stimme hätte tun können". Alles auf der Oberfläche, mit der er sich umgibt, übernimmt es für ihn - allerdings erst, wenn der Leser es übersetzt.
Das ist das eigentlich Erstaunliche dieses Romans der gescheiterten Wahlverwandtschaften. Er offeriert seine Geschichte weithin im Modus der Enthaltsamkeit und findet doch üppigen Zuspruch - durchaus ein Kompliment an die Leserschaft. Deutet sich darin eine neue Sensibilität an, die am Ufer selbstbeherrschter Schriftlichkeit Erholung von medialen Überschwemmungen in Wort, Bild und Ton sucht?
WINFRIED WEHLE.
Paolo Giordano: "Die Einsamkeit der Primzahlen". Roman. Aus dem Italienischen von Bruno Genzler. Karl Blessing Verlag, München 2009. 363 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Maike Albath führt Paolo Giordanos Roman "Die Einsamkeit der Primzahlen" als zweiten großen italienischen Publikumserfolg neben Roberto Savianos Camorra-Report "Gomorrha" ein - und als sein Gegenstück. Anstelle eines Doku-Romans, der die Gesellschaft in ihren extremen Auswüchsen darstelle, liest sich "Die Einsamkeit der Primzahlen" zunächst als "eher konventioneller Entwicklungsroman" mit der bürgerlichen Familie im Mittelpunkt, resümiert die Rezensentin. Entsprechend des Buchtitels entfalte sich der Roman auf seinen etwas über 350 Seiten "mit mathematischer Präzision punktuell": Die Geschichte der beiden Helden Alice und Mattia von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter werde dabei immer abwechselnd und nur für besondere Momente erzählt. Giordanos Stil erinnert Albath bei der Lektüre vor allem an amerikanische Erzähler wie Raymond Carver und Michael Cunningham; sie ordnet Giordano auch eher einer Kinoästhetik als moderner Experimentalliteratur zu. Zwischen einer quälenden Naivität in der Sprache und einem "starken identifikatorischen Sog" sieht Albath möglicherweise die Stimme einer jungen italienischen Generation.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein ebenso berührendes wie subtiles Drama. FAZ.NET