Der moderne Individualismus ist zum Problem der westlichen Staaten geworden. Die Befreiung des Ichs führt in übersteigerte Ansprüche nach dem perfekten Leben. Bleibt es aus, folgen Enttäuschung, Aggression, Protest. Am Ende entlädt sich der Frust in der Ablehnung eines ganzen gesellschaftlichen Systems, im Extremfall in Hass. So gefährdet der Individualismus die Demokratie. Ist er als Idee noch zukunftsfähig?Mit der Renaissance ist der Individualismus angetreten, den Menschen aus den Zwängen von Tradition und Glauben zu befreien. Doch diese Freiheit brachte auch Vereinzelung, gemeinschaftsferne Lebensentwürfe und Konkurrenz. Menschen sind plötzlich allein auf sich zurückgeworfen. Die Gesellschaft zerfällt in wenige Gewinner und viele Verlierer. Heute ist das Individuum erschöpft, überfordert - und protestiert: im Schrei nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Einzigartigkeit. Die politische Konsequenz heißt Populismus, Desintegration und Gewalt. Wo ist der Ausweg? Wie kann es uns gelingen, wieder mehr Gemeinsinn zu entfalten - und dennoch uns selbst treu zu bleiben?
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Thomas Holl erfährt bei Martin Hecht, wie die moderne Individualisierung zu einer Destabilierung der Demokratie führt. Holl lobt den "weiten historisch-soziologischen Bogen", den der Autor schlägt, wenn er mit Tocqueville zu ergründen versucht, wo die Knackpunkte im Verhältnis von individueller Freiheit und Solidarität liegen und wie sich selbige erreichen ließe. Für Holl eine instruktive, aktuelle und unterhaltsame Lektüre, die der Autor mit einer Prise Sarkasmus zu würzen weiß.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2021Einsam und ohne Bindung
Wie gefährlich ist Individualismus für den Zusammenhalt einer Gesellschaft?
Von Thomas Holl
Das Thema Einsamkeit hat Konjunktur. Und es wird nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie mit Lockdowns, Kontaktbeschränkungen, Homeoffice und dem Aufruf zum "Social Distancing" zu einem politischen Problem mit Auswirkungen auf die Stabilität demokratischer Gesellschaften. So widmete sich die CDU-Politikerin Diana Kinnert in ihrem Buch "Die neue Einsamkeit. Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können" den Schattenseiten der Digitalisierung, die in der Pandemie vor allem das Vereinzelungsgefühl vieler junger Menschen verstärkten - etwa durch Smartphonesucht und narzisstischer Selbstoptimierung in sozialen Medien wie Instagram und TikTok.
Dem auch von Kinnert in den Blick genommenen Phänomen, dass solcherart vereinsamte Menschen sich im Internet in Verschwörungsuniversen verlieren und radikalisieren, geht Martin Hecht ebenfalls auf den Grund. Allerdings schlägt der in Mainz lebende Publizist dazu einen weiten historisch-soziologischen Bogen. In seinem Buch "Die Einsamkeit des modernen Menschen. Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht" will Hecht zeigen, "wie sich der moderne Individualismus, der einmal so optimistisch angetreten ist, die Menschen zu befreien, von einem kollektiven Glücksversprechen für alle zunehmend zu einer Gefährdung der politischen Ordnung gewandelt hat". Und geradezu sozialliberal formuliert, stellt er die Frage, wie man individuelle Freiheit und Solidarität in einer modernen Welt versöhnen könne. Inspiriert zu seinem Buch habe ihn vor allem die politische Theorie des "scharfsichtigen" französischen Intellektuellen Alexis de Tocqueville, der schon im 19. Jahrhundert das Bild der brüchiger gewordenen oder gar zerrissenen "Bande" zwischen einmal eng verbundenen Gesellschaftsmitgliedern wählte.
Hecht beschreibt ebenfalls die "Einsamkeit in der Vereinzelung" des modernen Menschen in den "Wohlstandsgesellschaften demokratischen Zuschnitts" und ihre negativen Folgen für den Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft. Eine Einsamkeit, die keine Begleiterscheinung eines unglücklichen Lebens ist, sondern als ein "soziales Virus", das kollektiv die gesamte Gesellschaft erfasst habe, nachdem diese vom "modernen Individualismus" geprägt worden sei. Wie sich der Mensch in der Demokratie und kapitalistischen Wirtschaftsordnung aus traditionellen Banden und Sozialordnungen gelöst hat, dabei um Aufmerksamkeit kämpft und wie er sein Ich in Abgrenzung zur Mehrheit aktuell auch als "Querdenker" aufzuwerten sucht, beschreibt er anschaulich, unterhaltsam und mit einem dosierten Schuss Sarkasmus.
Martin Hecht: "Die Einsamkeit des modernen Menschen". Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht.
J.H.W. Dietz Verlag, Bonn 2021.
208 S., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie gefährlich ist Individualismus für den Zusammenhalt einer Gesellschaft?
Von Thomas Holl
Das Thema Einsamkeit hat Konjunktur. Und es wird nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie mit Lockdowns, Kontaktbeschränkungen, Homeoffice und dem Aufruf zum "Social Distancing" zu einem politischen Problem mit Auswirkungen auf die Stabilität demokratischer Gesellschaften. So widmete sich die CDU-Politikerin Diana Kinnert in ihrem Buch "Die neue Einsamkeit. Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können" den Schattenseiten der Digitalisierung, die in der Pandemie vor allem das Vereinzelungsgefühl vieler junger Menschen verstärkten - etwa durch Smartphonesucht und narzisstischer Selbstoptimierung in sozialen Medien wie Instagram und TikTok.
Dem auch von Kinnert in den Blick genommenen Phänomen, dass solcherart vereinsamte Menschen sich im Internet in Verschwörungsuniversen verlieren und radikalisieren, geht Martin Hecht ebenfalls auf den Grund. Allerdings schlägt der in Mainz lebende Publizist dazu einen weiten historisch-soziologischen Bogen. In seinem Buch "Die Einsamkeit des modernen Menschen. Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht" will Hecht zeigen, "wie sich der moderne Individualismus, der einmal so optimistisch angetreten ist, die Menschen zu befreien, von einem kollektiven Glücksversprechen für alle zunehmend zu einer Gefährdung der politischen Ordnung gewandelt hat". Und geradezu sozialliberal formuliert, stellt er die Frage, wie man individuelle Freiheit und Solidarität in einer modernen Welt versöhnen könne. Inspiriert zu seinem Buch habe ihn vor allem die politische Theorie des "scharfsichtigen" französischen Intellektuellen Alexis de Tocqueville, der schon im 19. Jahrhundert das Bild der brüchiger gewordenen oder gar zerrissenen "Bande" zwischen einmal eng verbundenen Gesellschaftsmitgliedern wählte.
Hecht beschreibt ebenfalls die "Einsamkeit in der Vereinzelung" des modernen Menschen in den "Wohlstandsgesellschaften demokratischen Zuschnitts" und ihre negativen Folgen für den Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft. Eine Einsamkeit, die keine Begleiterscheinung eines unglücklichen Lebens ist, sondern als ein "soziales Virus", das kollektiv die gesamte Gesellschaft erfasst habe, nachdem diese vom "modernen Individualismus" geprägt worden sei. Wie sich der Mensch in der Demokratie und kapitalistischen Wirtschaftsordnung aus traditionellen Banden und Sozialordnungen gelöst hat, dabei um Aufmerksamkeit kämpft und wie er sein Ich in Abgrenzung zur Mehrheit aktuell auch als "Querdenker" aufzuwerten sucht, beschreibt er anschaulich, unterhaltsam und mit einem dosierten Schuss Sarkasmus.
Martin Hecht: "Die Einsamkeit des modernen Menschen". Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht.
J.H.W. Dietz Verlag, Bonn 2021.
208 S., 18,- Euro.
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