Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 4,95 €
  • Gebundenes Buch

Produktdetails
  • Verlag: Pendo
  • Seitenzahl: 498
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 692g
  • ISBN-13: 9783858423573
  • ISBN-10: 3858423572
  • Artikelnr.: 24287862
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.1999

Grüße an den Piz Perdü
Der Wissenschaftspionier Micheli du Crest sah die Berge seiner Heimat nur noch durch die Gitter

"Einsamkeit ist das Los aller hervorragenden Geister", heißt es bei Schopenhauer. Doch was insbesondere erzwungene Einsamkeit wirklich bedeuten kann, das hat der Arzt Friedrichs des Großen, der Schweizer Johann Georg Zimmermann (1728 bis 1795), in seinem viel gelobten Werk "Über die Einsamkeit" von 1758 beschrieben. Als Beispiel dienten ihm drei prominente politische Gefangene des achtzehnten Jahrhunderts: der Genfer Festungsingenieur und Physiker Jacques-Barthélemy Micheli du Crest, der 1746 als Staatsfeind und Aufrührer auf Anordnung der Berner Obrigkeit zu lebenslangem Arrest auf der Aarburg verurteilt worden war, der ostpreußische Adelige und Hasardeur Friedrich von Trenck, der wegen Fahnenflucht neuneinhalb Jahre in Magdeburg im Kerker verbrachte, und der holländische General Gerhard Cornelius von Walrave, der auf Befehl Friedrichs des Großen insgesamt achtundzwanzig Jahre Haft auf der Sternschanze verbrachte. Von diesen drei Männern ist heute nur noch der Freiheits- und Frauenheld Freiherr von Trenck bekannt. Seine abenteuerliche Lebens- und Lügengeschichte wurde mehrfach literarisch verarbeitet und sogar verfilmt. Völlig in Vergessenheit geraten ist dagegen der Schweizer Oppositionelle Micheli du Crest. Sein Name findet sich weder in den gängigen Enzyklopädien noch beispielsweise im "Dictionary of Scientific Biography", dem literarischen Pantheon der bedeutenden Naturforscher und Wissenschaftler.

Dabei war er einst ein berühmter Gelehrter und bekannter politischer Querdenker. Lessing erwähnt ihn in seinem Dramenfragment "Samuel Henzi". Johannes Geßner, ein prominenter Schweizer Naturforscher und Präsident der Zürcher Physikalischen Gesellschaft, lobt seine Erfindung, das so genannte "universelle Thermometer". Jean-Jacques Rousseau kennzeichnet ihn in seinen "Bekenntnissen" als einen "Manne von großem Talent, gelehrt, erleuchtet, aber zu unruhig und grausam behandelt vom Genfer Rat".

Wer war dieser Mann, der auch während seiner Festungshaft weiter mit Thermometern experimentierte und - wenn auch eingeschränkt - mit der damaligen Gelehrtenwelt korrespondierte? Dank Pirmin Meiers exzellenter Biografie wissen wir nun alles über Crests Herkunft, den Berufsweg, die schwierigen Lebensumstände und seine weit reichenden politischen Pläne sowie seine vielfältigen wissenschaftlichen Arbeiten.

Micheli du Crest wurde 1690 auf Schloss Crest bei Genf geboren. Er diente in einem Schweizer Regiment Ludwigs XIV. 1717 studierte er Physik bei Augulies, einem Schüler Newtons. 1719 wurde er Mitglied des Genfer Großen Rates der Zweihundert. 1728 äußerte er sich kritisch über den Festungsbau der Stadt Genf, was seine Ausbürgerung zur Folge hatte. 1735 verurteilte man ihn in Abwesenheit zum Tode. Im Pariser Exil konstruierte er in den Jahren 1739/40 ein "universelles Thermometer", das besser geeicht war als die damals bekannten Wärmemessgeräte und auf der mittleren Temperatur der Erde basierte. Kurz zuvor hatte Réaumur sein bekanntes Weingeist-Thermometer entwickelt, das mit einer Skala von 1000 (Gefrierpunkt) bis 1080 (Siedepunkt) arbeitete, aber unzuverlässig war, da Weingeist vor dem Wasser siedet. 1742 stellte Anders Celsius seine hundertteilige Thermometer-Skala der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vor.

Doch waren es nicht seine naturwissenschaftlichen Experimente, die ihn ins Gefängnis brachten. So missbilligte Albrecht von Haller, der berühmte Göttinger und später Berner Arzt und Naturforscher, ausdrücklich die politischen Ambitionen seines Korrespondenzpartners und wünschte sich, dass Micheli du Crest nur nie etwas anderes gemacht hätte, als Thermometer herzustellen oder die Alpen zu vermessen. 1745 hatte der geniale Thermometerbauer und Landvermesser maßgeblichen Anteil an der erfolglosen Demokratiebewegung der so genannten Memorialisten in Bern. Die Folge war eine Flucht nach Basel und schließlich, als der Boden ihm auch dort zu heiß wurde, ins preußische Neuenburg. 1746 wurde er nach Bern ausgeliefert und kurz darauf mit Zustimmung Genfs als Staatsgefangener zu lebenslänglicher Festungshaft verurteilt, mit der ausdrücklichen Anweisung, dass er "von allem Commercio und Umgang der Menschen also sequestriert werden solle, dass sowohl seiner Evasion, als gefährlicher Prackticken halb, fernes und nimmermehr das wenigste zu besorgen seyn möge".

Anders als sein Leidensgenosse in preußischer Festungshaft, Freiherr von Trenck, kam er tatsächlich nicht mehr aus dem Kerker frei und verbrachte fast zwanzig Jahre auf der nahe bei Bern gelegenen Aarburg, zum Teil unter harten Haftbedingungen und ohne obrigkeitliche Rücksichtnahme auf seinen sich in den letzten Lebensjahren rapide verschlechternden Gesundheitszustand. Sogar für "Kost und Logis" musste der prominente Gefangene und Freiheitsheld, der von einer "égalité république" und von demokratischer Machtteilung träumte, selbst aufkommen.

Zwanzig Jahre erzwungene Einsamkeit können zermürben. Dass Crest seine Isolierhaft relativ lange unbeschadet an Geist und Körper überstand, verdankt er seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, die er auch unter erschwerten Bedingungen in der Zelle fortsetzen konnte. Er führte auf der Festung, auf die man ihn gesperrt hatte, unter anderem Temperatur- und Höhenmessungen durch. Letztere bilden die Basis für das bahnbrechende Projekt einer Schweizer Generalkarte mit einer für die damalige Zeit außergewöhnlich exakten Wiedergabe des Alpenpanoramas.

Mit seiner vorzüglichen, gut recherchierten, akribischen und trotzdem lesbaren, ja geradezu spannenden Darstellung hat Pirmin Meier, der bereits durch eine exzellente Paracelsus-Biografie auf sich aufmerksam machte, ein Stück verdrängter Schweizer Geschichte rekonstruiert und einem vergessenen Vorkämpfer der Demokratie ein literarisches Denkmal gesetzt.

ROBERT JÜTTE

Pirmin Meier: "Die Einsamkeit des Staatsgefangenen Micheli du Crest". Eine Geschichte von Freiheit, Physik und Demokratie. Pendo Verlag, Zürich, München 1999. 498 S., 17 Abb., geb., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.02.2000

Jugendstreiche eines Dissidenten
Pirmin Meier beschreibt in seiner Biografie die Einsamkeit des Staatsgefangenen Micheli du Crest
Jacques Barthélemy Micheli du Crest – der Name ist heute so gut wie unbekannt. Pirmin Meier führt mit seiner Biografie über diesen Mann den Leser zurück in die längst versunkenen Zeiten, als das ständische Eigenleben des calvinistischen Genf seinen Höhepunkt erreichte und die Stadtrepublik von einem das ganze Jahrhundert andauernden Konflikt zwischen Patriziat und Bürgerschaft erschüttert wurde. Ein Buch, das zwischen Dynamik und Stagnation oszilliert – es schildert den Lebensweg eines Mannes, der in seinem Widerspruchsgeist, Freiheitsdrang und Individualismus zeit seines Lebens seinen Zeitgenossen ein Unverstandener blieb. Und der seine Fremdheit mit dem Preis einer zwanzigjährigen Festungshaft bezahlte, die er auf der Aarburg absaß.
Micheli du Crest, 1690 als Spross einer altehrwürdigen Patrizierfamilie in Genf geboren, lebte ein bewegtes Leben in bewegten Zeiten. Er war Soldat in französischen Diensten, bereits in jugendlichen Jahren Magistrat der Stadt Genf, Staatstheoretiker, Kartograf, Meteorologe, Physiker, Erfinder eines nach ihm benannten Thermometers. Er war einer der besten Kenner des Festungswesens seiner Zeit, eine Art Vauban der Eidgenossenschaft.
Vor allem anderen aber war er ein Micheli, der sich mehr der Ehre seines Namens als den Gepflogenheiten seiner Stadtrepublik verpflichtet fühlte. Unerschrocken und unerbittlich vertrat er das einmal als richtig Erkannte auch gegenüber einer erdrückenden Mehrheit im Rat. Virtuos beherrschte er dort die Waffen der Rhetorik. In geschliffener Rede präsentierte der junge Micheli seine Sicht der Staatsaufgaben und der Befestigungskunst; er geißelte die Coterie, sprach dem Volk aus dem Herzen und erweckte Missfallen bei denen, die die bestehenden Verhältnisse konservieren wollten.
Weniger gewachsen zeigte er sich den Intrigen seiner Gegner, die er durch Wort und Tat in nicht zu geringer Zahl provoziert hatte. Er geriet unter die Herrschaft des Verdachts. Gezielt gestreute Gerüchte ließen ihn abrupt abstürzen. Ungeschicklichkeiten und Jugendstreiche im Mannesalter kamen hinzu. Im Jahr 1731 hieß es, Micheli sei an einem Aufstand beteiligt, der die Sicherheit Genfs bedrohe.
In Wirklichkeit bestand das ihm zur Last gelegte Vergehen darin, dass er es gewagt hatte, das Volk als den Souverän der letzten Instanz anzurufen. Micheli rettete sich durch die Flucht nach Paris, es folgte ein Jahrzehnt des weitgehenden Verzichts auf politische Betätigung und eine Phase fieberhaften wissenschaftlichen Arbeitens. 1744 kehrte er in die Schweiz zurück: Zürich, Basel, Straßburg, Neuenburg – immer auf der Hut vor drohender Verhaftung musste der Heimatlose nun, dicht aufeinander, sein Asyl wechseln.
Trotz Fürsprache der Neuenburger konnte Micheli nicht der Auslieferung an die Genfer entgehen, die ihn immer noch wegen der weit zurückliegenden Ereignisse verfolgten. 1749 wurde Michelis Name im Zusammenhang mit der Verschwörung des Berner Literaten Samuel Henzi genannt, der die Opposition der vom Großen Rat ausgeschlossenen Stadtbürger gegen das Patriziat organisiert hatte. Einer der später hingerichteten Mitverschwörer Henzis belastete ihn schwer, auch wenn ihm trotz aller Bemühungen eine Beteiligung nicht nachgewiesen werden konnte. Das Odium des Verrats umgab weiterhin Michelis Namen. Die letzten beiden Jahrzehnte seines Lebens musste er denn auf der Feste Aarburg als Staatsgefangener fristen. Wenige Tage nach seiner Freilassung verstarb er, völlig entkräftet, 1766 in Zofingen.
Pirmin Meier hat dieses Leben eines Unzeitgemäßen aus den dunklen Kammern der Vergangenheit geholt, mit starker, individueller Sprachkraft, in einem eigenwillig pointillistischen Stil. Er versteht sich dabei in der Tradition des Arztes Johann Georg Zimmermann, der 1783 den Staatsgefangenen Micheli du Crest zum ersten Helden seines Buches „Über die Einsamkeit” gewählt hatte. In seiner Stilisierung von Micheli zum „Modellfall eines Dissidenten in der Frühgeschichte der Demokratie” bewegt sich Meier dabei bisweilen gefährlich nah an der Grenze dessen, wozu historische Analogieschlüsse verpflichten.
Die Schwierigkeiten der Lebensbeschreibung – Pirmin Meier hat sich in früheren Arbeiten bereits mit Paracelsus und dem heiligen Klaus von Flüe beschäftigt – sind in diesem Fall zum einen im Stoff selbst begründet. Denn Michelis Leben passte in keine der gängigen Schubladen, und beim Versuch, es in eine geschlossene Erzählung zu fassen, zeigt es sich in all seiner Vieldeutigkeit, widerstrebend und wenig fassbar. Zum anderen resultieren die Schwierigkeiten aus der von Pirmin Meier gewählten Methode, die sowohl in ihrer Zitierweise als auch in ihrer Komposition – um es milde zu sagen – als unorthodox zu bezeichnen ist. Denn Meier hat keine Biografie im herkömmlichen Sinn geschrieben, mit dem „Helden” im Zentrum. Der Lebenslauf des Genfers bildet bei ihm lediglich die Folie für eine Aneinanderreihung wissenschaftsgeschichtlicher Einsprengsel, von Lesefrüchten und populärwissenschaftlich präsentierten philosophischen Einsichten.
Dennoch ist auf diese Weise für den, der zwischen den Zeilen zu lesen versteht, eine fesselnde Geschichte über Einsamkeit, Zivilcourage und Freiheit entstanden, deren Bedeutung weit über den die Stadtrepublik Genf im 18. Jahrhundert erschütternden Konflikt zwischen Patriziat und Bürgerschaft hinausreicht.
Demokratische Tugenden fallen uns nicht in den Schoß, sie müssen, Widrigkeiten zum Trotz, erworben werden, damit wir sie dauerhaft besitzen können. Das macht die Geschichte des lebenslangen Kampfes des Genfer Aristokraten Jacques Barthélemy Micheli du Crest um Freiheit und Gerechtigkeit auch für Bürger unseres demokratischen Gemeinwesens am Anfang des 21. Jahrhunderts beispielgebend und erinnerungswürdig.
ULRICH SCHLIE
PIRMIN MEIER: Die Einsamkeit des Staatsgefangenen Micheli du Crest. Eine Geschichte von Freiheit, Physik und Demokratie. Pendo Verlag, Zürich und München 1999. 420 Seiten, Abbildungen,
48 Mark.
Zwanzig Jahre lang hat der Staatsgefangene Micheli in seiner Zelle auf der Aarburg diesen Ausblick auf den Paradeplatz, die Kasernen und den Bergfried gehabt.
Foto: Seiler/Pendo
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr