Während einer privaten Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn hat die Regierungschefin einer bekannten westlichen Industrienation einen Unfall: Auf einem Bahnhof fällt ihr ein altes Schild auf den Kopf. Als sie wieder zu sich kommt, erkennt sie zwar ihren langangetrauten Ehemann, wähnt sich aber
im Jahr 1991. Gerade erst hat sie ein Mandat bekommen und muss schnellstens in ihren Wahlkreis. Ihr…mehrWährend einer privaten Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn hat die Regierungschefin einer bekannten westlichen Industrienation einen Unfall: Auf einem Bahnhof fällt ihr ein altes Schild auf den Kopf. Als sie wieder zu sich kommt, erkennt sie zwar ihren langangetrauten Ehemann, wähnt sich aber im Jahr 1991. Gerade erst hat sie ein Mandat bekommen und muss schnellstens in ihren Wahlkreis. Ihr Mann erklärt ihr die Wahrheit und spricht mit Ärzten, nur um am nächsten Morgen zu erkennen, dass alle Mühe vom Vortag vergebens war. Denn nach jedem Aufwachen ist es wieder 1991.
Was schon für den normalen Menschen eine Tragödie wäre, versetzt ihr Parteiumfeld nun in Panik. Schließlich ist sie eine öffentliche Person, ein geeigneter Vertreter nicht in Sichtweite und die Opposition lauert nur auf jede Schwachstelle. Also erhält die Chefin nun Tag für Tag strikt durchorganisierte und perfekt geplante Arbeitsablaufbeschreibungen, die mit einer morgendlichen Filmvorführung (20 Jahre im Schnelldurchgang) beginnen.
Das Kernproblem erahnt man eigentlich schon vor dem Unfall. Die Regierungschefin beschließt gemeinsam mit ihrem Mann, einen richtig privaten Urlaub zu machen. Einmal wollen sie allein unterwegs sein, ohne Sicherheitsbeamte. Sie wollen in der Menge mitschwimmen, statt nur über rote Teppiche zu laufen. Schon an diesem Eingangskapitel hatte ich großen Spaß, denn langjährige Verhaltensweisen lassen sich so einfach nicht abstellen. Da muss der Mann eingreifen, um seine Frau – die doch unerkannt bleiben will – von einer Gruppe Mütter und Kinder loszureißen, auf die sie sich ganz automatisch zubewegt hatte, um „Nähe zu demonstrieren“. Und wenn es dann klappt, und man nicht erkannt wird, ist das irgendwie auch nicht schön.
Der Urlaub nimmt ja dann ein abruptes Ende, aber während die Chefin Tag für Tag im Jahr 1991 aufwacht, wird ihr mehr und mehr bewusst, dass sie diese Frau, die sie bei den morgendlichen Filmvorführungen zu sehen bekommt, nicht mit ihren neuen Empfindungen in Einklang bringen kann. Sie kommt ihr unlebendig vor, gar nicht echt, eine traurige Gestalt – und das liegt nicht nur an den heruntergezogenen Mundwinkeln. Zum Entsetzen ihres Stabes fängt sie an, sich anders zu benehmen, als man es von ihr gewohnt war. Ganz anders.
Dieser Teil ist pure Satire auf die hohe Welt der Politik. Schnell wird dem Leser klar, dass es Regierungssprecher und Co. im Grunde nicht um die Genesung der Chefin geht. Einzig, dass sie funktioniert und ihre Rolle ausfüllt, ist von Bedeutung. Und so perfekt, wie die täglichen Vorbereitungen für Reden und Auftritte laufen, kann man sich leicht vorstellen, dass so auch die Routine bei Spitzenpolitikern abläuft, die nicht unter Gedächtnisschwund leiden.
Und dazu die Sprache! Herrlich! Die Chefin ist es dermaßen gewohnt, schwammige Unkonkretheiten von sich zu geben, dass sie selbst im privaten Umfeld nicht mehr anders sprechen kann. Aber solche Aussagen passen einfach immer, das weiß auch ihr Stab und nutzt es für die Tagesplanung
Der Rest der Geschichte ist vorhersehbar. Die Chefin ist klarer Sympathieträger und muss folglich zu einem guten Ende geführt werden. Den Weg dahin fand ich aber sehr amüsant.
Überhaupt: „Die Chefin“. Ich besitze noch ein älteres Buch mit einer neutralen weiblichen Person auf dem Titelbild. Das neue Cover ist auch wirklich nicht nötig, denn wirklich jeder sieht schon nach den ersten Seiten eine wohlbekannte Person vor seinem geistigen Auge. Das Kopfkino springt an – und bleibt auch an, das gesamte Buch über. Es gibt unzählige bekannte Dinge, Kleidung, Frisur, die heruntergezogenen Mundwinkel oder die „Tai-Chi-Übung“ mit den vor dem Körper zusammengeführten Fingerspitzen, die die „neue“ Chefin übrigens trotz Übens einfach nicht hinbekommt. Auch andere Personen sind so treffend beschrieben, dass kein Zweifel über ihr reales Vorbild bleibt. Besonders gefiel mir hier das leicht extrovertiert dargestellte französische Staatsoberhaupt ;-)