Hans Magnus Enzensberger hat sich seit seinen literarischen Anfängen immer wieder mit naturwissenschaftlichen Themen, mit Wissenschaftsgeschichte und mit den Erkenntnismethoden und Biographien der Forscher beschäftigt. Seine mittlerweile legendären »Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts« wurden vor mehr als einem Vierteljahrhundert in dem Band Mausoleum veröffentlicht. Für ihn ist es ganz selbstverständlich, daß die Poesie und die Wissenschaften nicht nur eine gemeinsame Wurzel haben, sondern ihre Begegnung auf Augenhöhe heute mehr denn je zukunftsträchtig und notwendig ist. Daß ein Poet sich mit Mathematik und Chemie, Medizin und Teilchenphysik und Genetik zu beschäftigen hat, wenn er in der Literatur ernst genommen werden will, gilt ihm als ausgemacht; um so mehr, als die Entdeckung der Poesie in den Wissenschaften selbst »unseren trägen Hirnen ein gewisses Fitneß-Training und ganz ungewohnte Lustgefühle verschaffen könnte«.
Für diesen Band hat Enzensberger Gedichte aus seinem Gesamtwerk bis hin zu seinem zuletzt erschienenen Band Leichter als Luft (1999) und unveröffentlichten Manuskripten zusammengestellt; dazu gesellen sich acht umfangreiche, z.T. bislang ungedruckte Aufsätze.
Für diesen Band hat Enzensberger Gedichte aus seinem Gesamtwerk bis hin zu seinem zuletzt erschienenen Band Leichter als Luft (1999) und unveröffentlichten Manuskripten zusammengestellt; dazu gesellen sich acht umfangreiche, z.T. bislang ungedruckte Aufsätze.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Die letzten Mohikaner der Metaphysik erleben gerade ihre manische Phase
Wer mag, nenne diesen Zustand Nüchternheit: Hans Magnus Enzensberger singt ein neues Lied von den zwei Kulturen / Von Gero von Randow
Das gibt Ärger. Es sei denn, "der Shakespeare-Forscher, der noch nie eine Seite von Darwin gelesen hat, der Maler, dem schon schwarz vor Augen wird, wenn von komplexen Zahlen die Rede ist, der Psychoanalytiker, der nichts von den Resultaten der Insektenforscher weiß" - es sei denn also, diese und andere "unfreiwillig komische Figuren", die Hans Magnus Enzensberger aufführt, lesen seinen Band "Die Elixiere der Wissenschaft" nicht. Womit leider gerechnet werden muß, denn "bekanntlich", schreibt der Autor, "ist die Ignoranz eine Himmelsmacht".
Enzensbergers neues Buch versammelt Essays, Aufsätze, Zeitungsartikel und Gedichte aus beinahe vierzig Jahren schriftstellerischer Arbeit an den Tatsachen. Das verbindende Sujet ist die Wissenschaft. Zu den leidenschaftlichsten Stücken zählt der Vortrag "Zugbrücke außer Betrieb", 1998 gehalten auf dem mathematischen Weltkongreß in Berlin. Auf diesen Auftritt ist die Mathematikerzunft mindestens so stolz wie auf den Beweis des Vierfarbensatzes, denn endlich erkannte ein Intellektueller aus dem anderen Lager ihren Beitrag zur Kultur an und beklagte noch dazu, daß die Kollegen Geistesgrößen in Deutschland überwiegend ungebildet seien, weil sie keinen blassen Schimmer von Mathematik, Natur- und Ingenieurwissenschaften hätten. Was umgekehrt keineswegs der Normalfall ist: Unter Naturforschern und Mathematikern ist profunde Kenntnis der Geisteswissenschaften recht häufig anzutreffen.
Das alte Lied von den zwei Kulturen, möchte man meinen. Doch nein, es ist ein neues Lied, und zwar ein garstigeres, weil politisches: Einige Naturwissenschaften schicken sich mittlerweile an, das Menschsein selbst zu verändern - das müßte doch das größte Thema der humanistisch Gebildeten werden? Ist es aber nicht. Und wenn, dann urteilen sie zumeist, ohne sich zuvor um die Tatsachen zu bemühen.
Nicht, daß Enzensberger der erste oder einzige Literat wäre, der aus den Naturwissenschaften Funken schlägt. Aber er ist weithin so ziemlich der einzige, der sie ernst nimmt. Als abschreckendes Beispiel des Gegenteils möge Botho Strauß' Essay "Beginnlosigkeit" gelten, in dem Karikaturen kosmologischer Theorien verwurstet werden oder, noch spektakulärer, das öffentliche Sinnieren Peter Sloterdijks über sogenannte Anthropotechniken. Von letzterem unterscheidet sich Enzensberger auch durch das, was er selbst "common sense" nennt. Ihn wendet er gerne polemisch. Die Postmodernen etwa, für die sich die Welt in Simulationen auflöst, kommentiert er trocken: "Wer hungert, wird von Simulationen nicht satt", und die Heilsversprechen der Gentechnik kontert er mit dem Hinweis, daß der therapeutische Imperativ glaubhafter wäre, "wenn er es mit Krankheiten wie der Malaria oder der Tuberkulose aufnähme, an denen Jahr für Jahr Millionen sterben". Da ist von seinem früheren Linkssein dann doch etwas übriggeblieben, wohl der beste Teil: Das Leid der Massen bleibt eine empörende Tatsache.
Immer geht es um die Wirklichkeit. Auch dort, wo von den abstraktesten Ideen der Wissenschaft die Rede ist - so ganz anders als bei jenen, die beispielsweise über Unschärferelationen, Quantensprünge und Elementarteilchen schwafeln, ohne jemals ein Lehrbuch der Physik in die Hand genommen zu haben. Enzensberger dagegen ist sogar zum Europäischen Kernforschungszentrum CERN gefahren, um in Augenschein zu nehmen, was die Hochenergiephysiker dort treiben. Es kam der Essay "Die unterirdische Kathedrale" heraus, in dem die Tatsachen und die Ideen auf jenen Plätzen anzutreffen sind, die ihnen jeweils zukommen. In diesem Essay schreibt Deutschlands bester Wissenschaftsjournalist.
Und ist doch ein Dichter. Einer, der daran festhält, "daß die Poesie von allem handeln kann, was der Fall ist". In den Essays und Artikeln klingt unüberhörbar der Poet durch, und dann gibt es natürlich auch die Gedichte selbst, mit denen dieser Sammelband nicht spart. Oft spielen sie mit den Metaphern, deren sich die Wissenschaft bedient; begleitet werden sie von einem Postskriptum, in dem der Autor einen Ausblick auf die blühende Metaphernlandschaft der exakten Wissenschaften gewährt.
Dies ist also das eine: Der Dichter läßt sich von den Metaphern der Wissenschaft entzünden, von den "Riemannschen Flächen" etwa oder den "Hausdorff-Räumen". Das andere: Er benutzt die Forschungsergebnisse selbst als Metaphern. Das ist ein ungleich anspruchsvolleres Vorhaben und zugleich eines, das nicht nur poetisch, sondern auch theoretisch ist - aus welchem Grund Einwände gestattet sind. Ein Beispiel: In seinem schon 1983 erschienenen Gedicht "Hommage à Gödel" beschreibt er den mathematischen Befund, daß sich in jedem hinreichend mächtigen Kalkül Sätze formulieren lassen, die zwar wahr, aber nicht mit den Mitteln dieses Kalküls beweisbar sind. Woraus der Dichter folgert: "Du kannst dein eignes Gehirn / mit deinem eignen Gehirn erforschen: / aber nicht ganz." Ein bloßer Analogieschluß, kein zwingender. Zeilen eines Gedichts, in schlußfolgernder Diktion geschrieben. Kurz vorher heißt es "doch bedenk: / Gödel hat recht", und das erinnert wohl nicht zufällig an den Duktus Brechtscher Lehrgedichte. Ebenso wie das Auftauchen von Karl Marx in dem Gedicht über Charles Babbage: Er "prüfte die Rechnung nach und befand sie für richtig".
Lakonische Poesie, in der die Tatsachen gewissermaßen in Eigenfrequenz schwingen. Der letzte Satz des Buches sieht "die Poesie auch dort am Werk, wo niemand sie vermutet", und darin äußert sich nicht etwa hündische Demut des Dichters angesichts der modernen Demiurgen, sondern ganz im Gegenteil ein poetisches Selbstbewußtsein. Hier wird die Poesie der Forschung herauspräpariert. Ohne Verherrlichung derselben, eher mit Staunen und durchweg kameradschaftlicher Ironie, etwa wenn von den Kosmologen die Rede ist, den "letzten Mohikanern der Metaphysik". Besonders die Gedichte über historische Gestalten aus Forschung und Technik zeigen, daß Enzensberger keineswegs zu jenen siebenhundert Brechtschen Intellektuellen gehört hätte, die der Dramatiker einen Öltank anbeten ließ. Etliche der Gedichte Enzensbergers entstammen dem Band "Mausoleum" (1975). Sie sind überaus aktuelle Kritik der Wissenschaft und ihrer Hagiographie und zeigen vor allem die Leistungen der Großen im Kontext ihrer individuellen Biographie und ihrer Klassengeschichte. Gottfried Wilhelm Leibniz: "Wie ein Automat". Condorcet: "Ahnherr der rüdesten Technokraten". Babbage: "Zwangsneurotiker". Malthus: "Unter den Propheten der Katastrophe der Muntersten einer". Das alles ist sorgsam recherchiert und nicht ohne Respekt für die Riesen der Forschung geschrieben: "Aber wehe, wenn Jàncsi aus Budapest / anfängt zu denken" - das ist John von Neumann.
Im Jahre 1991 veröffentlichte Hans Magnus Enzensberger das Gedicht "Ein Hase im Rechenzentrum". Da hat eine kleine Kreatur Angst vor der Technik, und doch ist sie den Computern und Monitoren und Druckern überlegen; ihre Zukunft steht außer Frage. An anderer Stelle jedoch äußert Enzensberger, Parteigänger des biologischen Lebens, ernstliche Sorge um die Zukunft, namentlich in seinem zuerst in dieser Zeitung erschienenen Text "Putschisten im Labor". Hier kritisiert er die hegemoniale Position der Informatik und Biologie, die sich als "Leitwissenschaften" den besten Zugang zu den Ressourcen Geld und Aufmerksamkeit erobert haben. Den in diesen Wissenschaften spukenden Phantasien von der Selbstabschaffung der Gattung rückt Enzensberger kritisch zu Leibe - auch diesmal wohlinformiert, was nicht von allen Kritikern der Biotechnik gesagt werden kann - und diagnostiziert eine "manische Phase" dieser Disziplinen. An deren Ende könnte öffentlicher, militanter Widerstand stehen, schreibt er, gegen den Wackersdorf oder die Aktionen radikaler Tierschützer harmlos wirken, geht es dann doch "nicht mehr um abstrakte Risiken", sondern "um die eigene Haut, um Zeugung, Geburt und Tod".
Enzensberger ist eben politisch geblieben. Überzeugungen haben sich verändert, die Haltung indes blieb über die Jahre die gleiche, weshalb denn auch der Stil der aus so unterschiedlichen Zeiten stammenden Texte durchgehend dem entspricht, was wir an diesem Autor haben: Hier blickt jemand die Welt an, möglichst genau, und entdeckt Erregendes, das von größerer Realität ist als all die Einbildungen, die der gewöhnliche Geistesbetrieb so hervorfördert.
Die "Elixiere der Wissenschaft" sind Mittel, sich klare Sicht zu verschaffen. Wer mag, nenne diesen Zustand Nüchternheit.
Hans Magnus Enzensberger: "Die Elixiere der Wissenschaft". Seitenblicke in Poesie und Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 281 S., geb., 19,90.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer mag, nenne diesen Zustand Nüchternheit: Hans Magnus Enzensberger singt ein neues Lied von den zwei Kulturen / Von Gero von Randow
Das gibt Ärger. Es sei denn, "der Shakespeare-Forscher, der noch nie eine Seite von Darwin gelesen hat, der Maler, dem schon schwarz vor Augen wird, wenn von komplexen Zahlen die Rede ist, der Psychoanalytiker, der nichts von den Resultaten der Insektenforscher weiß" - es sei denn also, diese und andere "unfreiwillig komische Figuren", die Hans Magnus Enzensberger aufführt, lesen seinen Band "Die Elixiere der Wissenschaft" nicht. Womit leider gerechnet werden muß, denn "bekanntlich", schreibt der Autor, "ist die Ignoranz eine Himmelsmacht".
Enzensbergers neues Buch versammelt Essays, Aufsätze, Zeitungsartikel und Gedichte aus beinahe vierzig Jahren schriftstellerischer Arbeit an den Tatsachen. Das verbindende Sujet ist die Wissenschaft. Zu den leidenschaftlichsten Stücken zählt der Vortrag "Zugbrücke außer Betrieb", 1998 gehalten auf dem mathematischen Weltkongreß in Berlin. Auf diesen Auftritt ist die Mathematikerzunft mindestens so stolz wie auf den Beweis des Vierfarbensatzes, denn endlich erkannte ein Intellektueller aus dem anderen Lager ihren Beitrag zur Kultur an und beklagte noch dazu, daß die Kollegen Geistesgrößen in Deutschland überwiegend ungebildet seien, weil sie keinen blassen Schimmer von Mathematik, Natur- und Ingenieurwissenschaften hätten. Was umgekehrt keineswegs der Normalfall ist: Unter Naturforschern und Mathematikern ist profunde Kenntnis der Geisteswissenschaften recht häufig anzutreffen.
Das alte Lied von den zwei Kulturen, möchte man meinen. Doch nein, es ist ein neues Lied, und zwar ein garstigeres, weil politisches: Einige Naturwissenschaften schicken sich mittlerweile an, das Menschsein selbst zu verändern - das müßte doch das größte Thema der humanistisch Gebildeten werden? Ist es aber nicht. Und wenn, dann urteilen sie zumeist, ohne sich zuvor um die Tatsachen zu bemühen.
Nicht, daß Enzensberger der erste oder einzige Literat wäre, der aus den Naturwissenschaften Funken schlägt. Aber er ist weithin so ziemlich der einzige, der sie ernst nimmt. Als abschreckendes Beispiel des Gegenteils möge Botho Strauß' Essay "Beginnlosigkeit" gelten, in dem Karikaturen kosmologischer Theorien verwurstet werden oder, noch spektakulärer, das öffentliche Sinnieren Peter Sloterdijks über sogenannte Anthropotechniken. Von letzterem unterscheidet sich Enzensberger auch durch das, was er selbst "common sense" nennt. Ihn wendet er gerne polemisch. Die Postmodernen etwa, für die sich die Welt in Simulationen auflöst, kommentiert er trocken: "Wer hungert, wird von Simulationen nicht satt", und die Heilsversprechen der Gentechnik kontert er mit dem Hinweis, daß der therapeutische Imperativ glaubhafter wäre, "wenn er es mit Krankheiten wie der Malaria oder der Tuberkulose aufnähme, an denen Jahr für Jahr Millionen sterben". Da ist von seinem früheren Linkssein dann doch etwas übriggeblieben, wohl der beste Teil: Das Leid der Massen bleibt eine empörende Tatsache.
Immer geht es um die Wirklichkeit. Auch dort, wo von den abstraktesten Ideen der Wissenschaft die Rede ist - so ganz anders als bei jenen, die beispielsweise über Unschärferelationen, Quantensprünge und Elementarteilchen schwafeln, ohne jemals ein Lehrbuch der Physik in die Hand genommen zu haben. Enzensberger dagegen ist sogar zum Europäischen Kernforschungszentrum CERN gefahren, um in Augenschein zu nehmen, was die Hochenergiephysiker dort treiben. Es kam der Essay "Die unterirdische Kathedrale" heraus, in dem die Tatsachen und die Ideen auf jenen Plätzen anzutreffen sind, die ihnen jeweils zukommen. In diesem Essay schreibt Deutschlands bester Wissenschaftsjournalist.
Und ist doch ein Dichter. Einer, der daran festhält, "daß die Poesie von allem handeln kann, was der Fall ist". In den Essays und Artikeln klingt unüberhörbar der Poet durch, und dann gibt es natürlich auch die Gedichte selbst, mit denen dieser Sammelband nicht spart. Oft spielen sie mit den Metaphern, deren sich die Wissenschaft bedient; begleitet werden sie von einem Postskriptum, in dem der Autor einen Ausblick auf die blühende Metaphernlandschaft der exakten Wissenschaften gewährt.
Dies ist also das eine: Der Dichter läßt sich von den Metaphern der Wissenschaft entzünden, von den "Riemannschen Flächen" etwa oder den "Hausdorff-Räumen". Das andere: Er benutzt die Forschungsergebnisse selbst als Metaphern. Das ist ein ungleich anspruchsvolleres Vorhaben und zugleich eines, das nicht nur poetisch, sondern auch theoretisch ist - aus welchem Grund Einwände gestattet sind. Ein Beispiel: In seinem schon 1983 erschienenen Gedicht "Hommage à Gödel" beschreibt er den mathematischen Befund, daß sich in jedem hinreichend mächtigen Kalkül Sätze formulieren lassen, die zwar wahr, aber nicht mit den Mitteln dieses Kalküls beweisbar sind. Woraus der Dichter folgert: "Du kannst dein eignes Gehirn / mit deinem eignen Gehirn erforschen: / aber nicht ganz." Ein bloßer Analogieschluß, kein zwingender. Zeilen eines Gedichts, in schlußfolgernder Diktion geschrieben. Kurz vorher heißt es "doch bedenk: / Gödel hat recht", und das erinnert wohl nicht zufällig an den Duktus Brechtscher Lehrgedichte. Ebenso wie das Auftauchen von Karl Marx in dem Gedicht über Charles Babbage: Er "prüfte die Rechnung nach und befand sie für richtig".
Lakonische Poesie, in der die Tatsachen gewissermaßen in Eigenfrequenz schwingen. Der letzte Satz des Buches sieht "die Poesie auch dort am Werk, wo niemand sie vermutet", und darin äußert sich nicht etwa hündische Demut des Dichters angesichts der modernen Demiurgen, sondern ganz im Gegenteil ein poetisches Selbstbewußtsein. Hier wird die Poesie der Forschung herauspräpariert. Ohne Verherrlichung derselben, eher mit Staunen und durchweg kameradschaftlicher Ironie, etwa wenn von den Kosmologen die Rede ist, den "letzten Mohikanern der Metaphysik". Besonders die Gedichte über historische Gestalten aus Forschung und Technik zeigen, daß Enzensberger keineswegs zu jenen siebenhundert Brechtschen Intellektuellen gehört hätte, die der Dramatiker einen Öltank anbeten ließ. Etliche der Gedichte Enzensbergers entstammen dem Band "Mausoleum" (1975). Sie sind überaus aktuelle Kritik der Wissenschaft und ihrer Hagiographie und zeigen vor allem die Leistungen der Großen im Kontext ihrer individuellen Biographie und ihrer Klassengeschichte. Gottfried Wilhelm Leibniz: "Wie ein Automat". Condorcet: "Ahnherr der rüdesten Technokraten". Babbage: "Zwangsneurotiker". Malthus: "Unter den Propheten der Katastrophe der Muntersten einer". Das alles ist sorgsam recherchiert und nicht ohne Respekt für die Riesen der Forschung geschrieben: "Aber wehe, wenn Jàncsi aus Budapest / anfängt zu denken" - das ist John von Neumann.
Im Jahre 1991 veröffentlichte Hans Magnus Enzensberger das Gedicht "Ein Hase im Rechenzentrum". Da hat eine kleine Kreatur Angst vor der Technik, und doch ist sie den Computern und Monitoren und Druckern überlegen; ihre Zukunft steht außer Frage. An anderer Stelle jedoch äußert Enzensberger, Parteigänger des biologischen Lebens, ernstliche Sorge um die Zukunft, namentlich in seinem zuerst in dieser Zeitung erschienenen Text "Putschisten im Labor". Hier kritisiert er die hegemoniale Position der Informatik und Biologie, die sich als "Leitwissenschaften" den besten Zugang zu den Ressourcen Geld und Aufmerksamkeit erobert haben. Den in diesen Wissenschaften spukenden Phantasien von der Selbstabschaffung der Gattung rückt Enzensberger kritisch zu Leibe - auch diesmal wohlinformiert, was nicht von allen Kritikern der Biotechnik gesagt werden kann - und diagnostiziert eine "manische Phase" dieser Disziplinen. An deren Ende könnte öffentlicher, militanter Widerstand stehen, schreibt er, gegen den Wackersdorf oder die Aktionen radikaler Tierschützer harmlos wirken, geht es dann doch "nicht mehr um abstrakte Risiken", sondern "um die eigene Haut, um Zeugung, Geburt und Tod".
Enzensberger ist eben politisch geblieben. Überzeugungen haben sich verändert, die Haltung indes blieb über die Jahre die gleiche, weshalb denn auch der Stil der aus so unterschiedlichen Zeiten stammenden Texte durchgehend dem entspricht, was wir an diesem Autor haben: Hier blickt jemand die Welt an, möglichst genau, und entdeckt Erregendes, das von größerer Realität ist als all die Einbildungen, die der gewöhnliche Geistesbetrieb so hervorfördert.
Die "Elixiere der Wissenschaft" sind Mittel, sich klare Sicht zu verschaffen. Wer mag, nenne diesen Zustand Nüchternheit.
Hans Magnus Enzensberger: "Die Elixiere der Wissenschaft". Seitenblicke in Poesie und Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 281 S., geb., 19,90
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main