Das menschliche Denken, individuelles wie kollektives, organisiert sich ständig und unausweichlich in komplexen Wechselwirkungen zwischen Emotionen und Erkenntnissen. Für das Verständnis dieser selbst sich schaffenden Prozesse hat die gute alte Suche nach Kausalitäten ausgedient, ebenso kybernetische Modelle, die zwar Dynamiken von Wechselwirkungen beschreiben und simulieren können, nicht aber die ihnen eigene Kraft zur Selbstschöpfung, zur wieder und wieder sich hervorbringenden Selbstähnlichkeit, ja zu ihrer fraktalen Ästhetik. Unerhört ist, dass erstmals in der Geschichte des Denkens über das menschliche Denken Philosophie, Psychologie als Human- und Erfahrungswissenschaft, aber auch die jüngsten Erkenntnisse der Neurobiologie, nicht mehr unvermittelt nebeneinander stehen oder sich gegenseitig auf Defizite aufmerksam machen. In dieser radikal neuen Sicht ergänzen sie sich nicht nur, vielmehr klinken sie hier erstmals ineinander, sie bestätigen sich. In der Erkenntnis fraktalerSelbstorganisation heben sich ihre Widersprüche auf. Das Chaos wird - erst wenn es als Chaos begriffen wird - als sich bahnende Struktur von Emotion und Kognitionen erkennbar. Luc Ciompi fügt in diesem Buch zusammen, was sich in überkommenen Bildern vom Menschen der Zusammenschau widersetzt hat. Aus Angst vor dem Chaos haben wir menschliches Denken in der materiellen Welt uns immer nur beherrschend oder als höchst abhängig vorzustellen vermocht. Ciompi vollzieht den Schritt in ein neues Zeitalter: Wenn wir das Chaos akzeptieren als elementare Gegebenheit unseres Fühlens, Denkens und Handelns, können wir deren Logik erfassen, eine Logik höherer Ordnung. Es ist eine kreative Erkenntnis: Selbstschöpferisch und lustvoll ist der Mensch in seinem Fühlen und Denken, und gleichfalls voller Lust und Kreativität ist es, ihn darin zu begreifen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997Edle Gefühle im Rührfix der Forschung
Die fröhliche Wissenschaft vollbringt wahre Wunder: Drei Bücher ziehen ihre Energie aus Emotionen / Von Michael Jeismann
Der Verstand funktioniert nur, wenn auch das Gefühl beteiligt ist, das habe ich gelesen", erklärt Marta. Marta ist die Geliebte des Schneiders von Panama. In dem jüngst auf deutsch erschienenen gleichnamigen Roman von John le Carré muß der Held eine schwere Entscheidung treffen. Das Gefühl rät dem Schneider, einen dubiosen Ausweg besser nicht zu nutzen. Marta rät dem Schneider unter Berufung auf ihre Lektüre, auf sein Gefühl zu achten. Wie die Sache ausgeht, kann man nachlesen. Nur eins muß der Leser selbst herausfinden: Welches Buch hat der freundliche panamesische Buchhändler Marta ans Herz gelegt?
Es war sicher nicht die "Emotionale Intelligenz" von Daniel Goleman, die hierzulande ein Bestseller ist - ein Buch, das von beiden Titelingredienzen wenig bietet. Unser Gefühl sagt, daß Marta reinere und jüngere Quellen der Erkenntnis nutzt und vermutlich von der modernen Hirnforschung gelesen hat und weiß, daß es keine strikte Trennung von Kognition und Emotion gibt, sondern zwischen beide eine notwendige Durchdringung herrscht. Wer mehr darüber erfahren will, hat derzeit reichlich Gelegenheiten. Der Buchmarkt in den Vereinigten Staaten ebenso wie in England, Frankreich oder Deutschland ist heute eine einzige große sensitive Zone, urteilt man nach der Vielzahl von Titeln mit "Gefühlen" oder "Emotionen". In Amerika haben die Autoren Robert Cooper und Ayman Sawaf soeben den "Executive EQ" erfunden, der den Managern zeigt, wie man "emotional intelligence in business" einsetzt. In liebenswerter hermeneutischer Versunkenheit brachten in England Keith Oatley und Jennifer M. Jenkins ein Buch mit dem Titel "Understanding Emotions" heraus. Während man in der angelsächsischen Welt offenbar gerne zu zweit über Emotionen schreibt, entwickelt die französische Psychoanalytikerin Isabelle Filliozat ihre "Intelligence du coeur" in Form von "rudiments de grammaire émotionnelle" im Alleingang. Wir stehen also mitten in der Frühlingsblüte der Gefühle.
Die "Emotionen" sind Mode; sie sind aber, wenn die Zeichen nicht täuschen, darüber hinaus auch Bestandteil einer epistemologischen Neuorientierung in Folge der kulturalistischen Wende. Denn wo nach Kultur statt nach Klasse und Interesse, wo nach dem Wesen und Eigenart statt nach Funktion gefragt wird, wo das Selbstverständnis erkenntnisleitend wird, da kann man ohne den Begriff des Gefühls kaum auskommen. Es ist eine wissenschaftsgeschichtliche Wende, für die es eine Reihe von lebensweltlichen, zumal politischen Entsprechungen und Korrespondenzen gibt. Daß man mit den "Emotionen" in einer Zone großer und langfristiger tektonischer Verschiebungen steht, ist auch daran ablesbar, daß die Wissenschaft diesmal der Mode voraus war, sie vielleicht sogar angestoßen hat. In den Vereinigten Staaten setzte die "Rehabilitierung des Gefühls" (Richard Rorty) bereits in den achtziger Jahren ein. Auch in Europa wandten sich verschiedene geisteswissenschaftliche Disziplinen und namentlich feministisch orientierte Studien einige Jahre vor der jetzt ausgebrochenen Gefühlsmode dem Thema der Emotionen zu.
Dem Zusammenhang von "Gefühl und Urteilskraft" kann der deutsche Leser in dem "Plädoyer für die emotionale Vernunft" der Psychotherapeutin Carola Meier-Seethaler nachgehen. Er wird dabei als erstes bemerken, daß wie in vielen anderen ähnlichen Titeln die "Vernünftigkeit" oder "Intelligenz" der Gefühle betont wird. Man möchte die Behauptung gar nicht bestreiten, aber es macht stutzig, daß den Gefühlen ausdrücklich der Adel der Nützlichkeit oder der Vernunft zugesprochen wird. Von einer Schönheit der Gefühle ist nicht die Rede - ebensowenig wie von ihrer Nutzlosigkeit oder Einfalt. Sollten die Gefühle weniger Varianten haben und vernünftiger sein als die Vernunft selbst?
In der Tat ist die geradezu utilitaristische Sicht der Gefühle, die hier herrscht, kein Zufall. Denn von der Brauchbarkeit der Gefühle hängt einiges ab - für die Verbindung zwischen Gefühlen und Urteilskraft zunächst sodann für die Menschheit schlechthin. Ihr ehrgeiziges Plädoyer macht schnell klar, daß es ihr nicht um eine bloße Korrektur oder Ergänzung der rationalistischen Vernunft geht. Denn, so die Autorin, nachdem die "klassischen Versuche einer apriorischen Moralbegründung zum Scheitern verurteilt sind, verlagert sich die Frage nach der Universalisierbarkeit ethischer Normen auf die Ebene intersubjektiver und interkultureller Verständigung im Blick auf moralische Urteile und Übereinkünfte". Wo Vernunft war, soll Gefühl werden. Während Philosophen wie John Rawls oder Jürgen Habermas die Rationalität mit Hilfe "universeller Fairneßregeln" "konstruktivistisch" sichern möchten, legen die Vertreter eines von der Autorin favorisierten "konziliationistischen Ansatzes", zu denen unter anderen Hans Jonas, Ernst Tugendhat und Ronald de Sousa zählen sollen, den Akzent eher auf emotionale Erfahrungen, die den verbindenden Sinn konstituieren sollen.
Wenn die moralische Wertsetzung bisher so fragil und partikular fragmentiert war, dann deshalb, so die Autorin, weil sich Philosophie und Psychologie im Zustand einer "emotionalen Anästhesie" befunden haben. Selbst die Psychoanalyse sei in dem Grundirrtum befangen gewesen, nur Triebe und keine Gefühle zu kennen. Blockiert durch eine "male bias", also durch eine männlich-geschlechtsspezifisch gesetzte Trennung von Subjekt und Objekt, müsse nun ein Weg gefunden werden, die Emotionen am Erkenntnisprozeß teilnehmen zu lassen.
Die Autorin geht mit dem Leser zurück zu jenem Moment der westlichen Philosophiegeschichte, in dem der Begriff der Rationalität entsteht und sein Gegenüber, die Emotionalität, hervorbringt. Der historische Rückblick verfolgt die Spur der emotionalen Philosophie, angefangen bei Blaise Pascal über Rousseau, Dilthey bis zu Karl Jaspers und Susanne K. Langer. Natürlich kann ein solcher Abriß auf knapp siebzig Seiten nicht anders als kursorisch sein. Man würde aber der Linie, die Meier-Seethaler herauspräpariert, mit mehr Gewinn folgen, wenn sie die Tradition, auf die sie sich beruft, nicht als eng geschnürtes Strategiepaket präsentierte. Es ist verräterisch, daß beim historischen Durchlauf häufig davon die Rede ist, daß dieser oder jener philosophische Ansatz Vorläufer einer der großen psychoanalytischen Theorien gewesen sei. Solche teleologisch getrimmten Traditionen haben meist den Nachteil, daß sie erkenntnistheoretisch stumm bleiben, weil allein der Traditionsstifter das Sagen hat.
Insbesondere die psychoanalytisch unterlegte Kant-Kritik unter dem Titel "Das Gefühl als heimliche Erkenntnisquelle" ist wenig überzeugend, die knappe Ausführung zur Aufklärung nicht akzeptabel. Von einer "heimlichen" Erkenntnisquelle der Gefühle kann bei Kant tatsächlich keine Rede sein. Im Gegenteil: In seiner frühen Preisschrift von 1763 "Über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral" hebt Kant hervor, daß "das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntnis, dasjenige aber, das Gute zu empfinden, das Gefühl" sei. Das Verhältnis von Denken und Fühlen, von "Kopf und Herz" ist ein zentrales Thema der Aufklärung. Man sieht eine ihrer Hauptleistungen darin, das Gefühl als ein Organ erkannt zu haben, das zur moralischen Orientierung der Menschen in der Welt dienlich sei. Die Rationalität der Aufklärung nur im rationalistischen Zerrbild oder als rein instrumentelle Vernunft im Sinn von Horkheimer und Adorno zu betrachten, wird sich für den weiteren Gang der Untersuchung als mißliche Weichenstellung erweisen. Denn die Gefühle werden bei Carola Meier-Seethaler nun ebenso einseitig, wie es die kognitive Rationalität sein soll.
Als politisch lebensweltliche Konsequenz schließlich wird im Namen der Gefühle nicht nur eine Einkehr der Humanmedizin gefordert oder die Befreiung der Arbeit von den Zwängen der Automatisierung und des Gewinndrucks. Das eigentlich Neue, was das Buch in seiner Denkrichtung symptomatisch macht, ist die Darstellung des Gefühls als Grundlage sozialer Beziehungen in Zeiten der Deregulierung, der Massenarbeitslosigkeit und der Entstehung neuartig bewerteter, gesellschaftlich relevanter Arbeit. Von Nachbarschaftshilfe bis zu partnerschaftlichen Lösungen auf allen Ebenen. Diese Gesellschaft der Gefühle muß natürlich eine Gesellschaft der richtigen Gefühle sein; ein unangenehmer Gedanke, falls man nicht bereit ist, zu vergessen, welche Möglichkeiten des Drucks und der Manipulation damit eröffnet werden.
Das "Plädoyer für die emotionale Vernunft" ist sicher nicht das beste Buch, was der Leser zum Thema heranziehen kann; es zeigt aber besonders deutlich, wie die Auswirkungen der Globalisierung und die Veränderung der Arbeitswelt kurzgeschlossen werden können mit einer gutgemeinten, aber in den Konsequenzen nicht unbedenklichen Philosophie der Gefühle. Man sollte das im Auge behalten, wenn die Emotionen zur Abwehr oder Ergänzung des reinen Kapitalismus eingesetzt werden. Man darf zur "Kritik der instrumentellen Emotionalität" aufrufen.
Eine philosophische Korrektur dieses allzu selbstgewissen Plädoyers für die Emotionen bringt Ronald de Sousa, der die "Rationalität des Gefühls" ungleich differenzierter auffaßt und trotz aller Bedeutung, die er den Gefühlen zuschreibt, skeptisch bleibt und eher einer selbstbewußt-tragischen Lebensphilosophie anhängt, als daß er in der Brauchbarkeit der Gefühle einen sozialen oder politischen Heilsweg sieht. Sehr lohnend ist die Lektüre vor allem im Hinblick auf seine Ausführungen zur philosophischen Tradition der Empfindungslehre, in der auch Descartes seinen Platz findet. De Sousa ist mit großer argumentativer Behutsamkeit darum bemüht, nachzuweisen, daß uns die Gefühle tatsächlich mit der objektiven Welt verbinden.
Sein Buch endet mit den "drei Grundtragödien des Lebens". Die erste Grundtragödie ist, daß die Vergesellschaftung die Bedingung der Individualität und Gefühlsausprägung ist, diese Individualität aber mit dem Gesellschaftlichen im Konflikt liegt. Die zweite Tragödie ist die der individuellen Biographie. Nach de Sousa strebt das Individuum Werte an, die universell sind, muß aber erkennen, daß er diese Werte in bloß individuellen "Schlüsselszenarien" erfährt. Ohne solche Erlebnisse gebe es kein Wertbewußtsein. Dagegen ist dieser individuelle Modus aber für die Verschiedenheit der Menschen, ihre Anziehung oder Abstoßung von zentraler Bedeutung. Verständigung kann nur auf die Überzeugung der uneinsehbaren Verschiedenheit und auf dem Respekt vor dieser Gleichheit gegründet werden. Die dritte Tragödie ist der Tod als Beendigung aller Erfahrung. In der kontemplativen Erfassung des Todes liegt nach de Sousa eine der Quelle des Gefühlslebens, die entscheidend zu den Standards der Rationalität beitragen können.
Daß die drei Grundtragödien voller Ambivalenzen sind und es auch keine emotional herzustellende definitive sozial und moralisch feststellende Beruhigung gibt, da das Begehren im weitesten Sinn zu den emotionalen Grundlagen des Menschen gehört, steht für de Sousa fest. Am Ende hält er ein anrührendes Plädoyer für die Kunst der angemessenen Gefühlsreaktion - keine neue Weisheit also, aber eine, die doch immer erneuert werden muß.
Sie verträgt sich auch recht gut mit den neuesten Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften und der Sozialpsychiatrie. Hierfür steht Luc Ciompis Buch über die "emotionalen Grundlagen des Denkens". Was Jean Piaget für die genetische Epistemologie geleistet hat, indem er zeigte, daß mentale Strukturen im wesentlichen aus Aktion, aus senso-motorischen Abläufen oder "Schemata" hervorgehen, das hat sich Luc Ciompi für die Theorie der Affektlogik vorgenommen. Er hat ein Buch geschrieben, von dem sich die geisteswissenschaftliche Studien zu kollektivem Verhalten und politischem Handeln mit Gewinn inspirieren lassen könnten. Ciompi führt aus, daß durch Aktion nicht allein kognitive, sondern auch ganze Netze von emotionalen Komponenten generiert und als Energieträger abrufbar werden. In der sogenannten neuronalen Plastizität verbin-
den sich nun "senso-motorische und kognitive Abläufe über repetitive Aktivität mit zugehörigen affektiven, hormonalen und vegetativen Komponenten zu funktionell integrierten neuronalen Assoziationssystemen". Ciompis chaostheoretischer Ansatz ist im einzelnen nicht annähernd zu umreißen. Er behandelt "Affekte als kontinuitätsstiftende Öffner und Schließer von kollektiven Gedächtnispforten" und erklärt den "Mann, der nie nein sagen kann".
Vor allem aber stellt er ein Grundgesetz (das komplementäre Zusammenwirken des Affekt- mit dem Kognitionssystem), fünf Grundgefühle (Interesse, Angst, Wut, Trauer, Freude) und eine unendliche Anzahl kognitiver Modulationen vor, mit deren Hilfe er auf recht überzeugende Weise feststellen kann, "daß tatsächlich auf allen untersuchten mikro- und makrosozialen Ebenen prinzipiell ähnliche Schaltwirkungen von Affekten auf Denken und Verhalten am Werk sind". Daher gelingt auch der Nachweis, daß kognitive Elemente emotional besetzt sind, wie schon wissenschaftliche und Alltagserfahrung nahelegen. Was im Funktionalismus und in der Modernisierungstheorie die Krise war, erfährt hier eine Affektbegründung: Das Neue tritt in die Welt, wenn das Niveau von affektiven Spannungen einen bestimmten kritischen Wert erreicht hat. Die Gemeinsamkeit von Individuellem und Kollektivem in der emotionalen Logik gezeigt zu haben ist vielleicht das größte Verdienst dieser Arbeit, die für eine Reihe von Disziplinen äußerst anregend sein kann - und damit im Sinne der Affektlogik das Neue generiert.
-fmt-ffa>C iompi zeigt auch, warum psychosoziale Prozesse so unberechenbar
sind. Für den Erkenntniswillen liegt darin kein geringer Trost - angesichts zweier eigentümlicher kollektiver Affektbewegungen der jüngsten Zeit: die Debatte um die Thesen Daniel Goldhagens und die Betroffenheit, die der Tod von Prinzessin Diana ausgelöst hat. Im ersten Fall wird jetzt deutlicher, wie ein affektives Schlüsselerlebnis in Form von kognitiven Kategorien in die Geschichtswissenschaft überführt wurde und sich dabei gegen Einwände immunisierte, weil die affektbesetzte Erkenntnisbahn, nach Ciompi, so breitgewalzt war, daß für den Autor andere Möglichkeiten nicht in Betracht kamen. Die Kritiker hingegen waren dieser neuartigen Kombination eher hilflos ausgesetzt, weil sie die Affektenergie des Ansatzes allenfalls benennen, nicht aber mindern oder in andere Schemata zurückführen konnten. Im Fall von Prinzessin Diana hat sich die Anteilnahme als Erlebnis von interesseloser Kollektivität selbst geschaffen. Diese forcierte Selbstreferentialität kann man als nachdrücklichen Hinweis auf das Ausmaß des Umbruchs verstehen, in dem sich die psycho-soziale Welt befindet. Der Schillersche "Kaltsinn" zwischen Individuum und gesellschaftlicher Verfaßtheit fordert seinen Tribut.
Carola Meier-Seethaler: "Gefühl und Urteilskraft." Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft. Verlag C. H. Beck, München 1997. 454 S., br., 29,80 DM.
Ronald de Sousa: "Die Rationalität des Gefühls". Übersetzt von Helmut Pape unter Mitarbeit von Astrid Pape und Ilse Grien. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 568 S., geb., 76,- DM.
Luc Ciompi: "Die emotionalen Grundlagen des Denkens". Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997. 371 S., br., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die fröhliche Wissenschaft vollbringt wahre Wunder: Drei Bücher ziehen ihre Energie aus Emotionen / Von Michael Jeismann
Der Verstand funktioniert nur, wenn auch das Gefühl beteiligt ist, das habe ich gelesen", erklärt Marta. Marta ist die Geliebte des Schneiders von Panama. In dem jüngst auf deutsch erschienenen gleichnamigen Roman von John le Carré muß der Held eine schwere Entscheidung treffen. Das Gefühl rät dem Schneider, einen dubiosen Ausweg besser nicht zu nutzen. Marta rät dem Schneider unter Berufung auf ihre Lektüre, auf sein Gefühl zu achten. Wie die Sache ausgeht, kann man nachlesen. Nur eins muß der Leser selbst herausfinden: Welches Buch hat der freundliche panamesische Buchhändler Marta ans Herz gelegt?
Es war sicher nicht die "Emotionale Intelligenz" von Daniel Goleman, die hierzulande ein Bestseller ist - ein Buch, das von beiden Titelingredienzen wenig bietet. Unser Gefühl sagt, daß Marta reinere und jüngere Quellen der Erkenntnis nutzt und vermutlich von der modernen Hirnforschung gelesen hat und weiß, daß es keine strikte Trennung von Kognition und Emotion gibt, sondern zwischen beide eine notwendige Durchdringung herrscht. Wer mehr darüber erfahren will, hat derzeit reichlich Gelegenheiten. Der Buchmarkt in den Vereinigten Staaten ebenso wie in England, Frankreich oder Deutschland ist heute eine einzige große sensitive Zone, urteilt man nach der Vielzahl von Titeln mit "Gefühlen" oder "Emotionen". In Amerika haben die Autoren Robert Cooper und Ayman Sawaf soeben den "Executive EQ" erfunden, der den Managern zeigt, wie man "emotional intelligence in business" einsetzt. In liebenswerter hermeneutischer Versunkenheit brachten in England Keith Oatley und Jennifer M. Jenkins ein Buch mit dem Titel "Understanding Emotions" heraus. Während man in der angelsächsischen Welt offenbar gerne zu zweit über Emotionen schreibt, entwickelt die französische Psychoanalytikerin Isabelle Filliozat ihre "Intelligence du coeur" in Form von "rudiments de grammaire émotionnelle" im Alleingang. Wir stehen also mitten in der Frühlingsblüte der Gefühle.
Die "Emotionen" sind Mode; sie sind aber, wenn die Zeichen nicht täuschen, darüber hinaus auch Bestandteil einer epistemologischen Neuorientierung in Folge der kulturalistischen Wende. Denn wo nach Kultur statt nach Klasse und Interesse, wo nach dem Wesen und Eigenart statt nach Funktion gefragt wird, wo das Selbstverständnis erkenntnisleitend wird, da kann man ohne den Begriff des Gefühls kaum auskommen. Es ist eine wissenschaftsgeschichtliche Wende, für die es eine Reihe von lebensweltlichen, zumal politischen Entsprechungen und Korrespondenzen gibt. Daß man mit den "Emotionen" in einer Zone großer und langfristiger tektonischer Verschiebungen steht, ist auch daran ablesbar, daß die Wissenschaft diesmal der Mode voraus war, sie vielleicht sogar angestoßen hat. In den Vereinigten Staaten setzte die "Rehabilitierung des Gefühls" (Richard Rorty) bereits in den achtziger Jahren ein. Auch in Europa wandten sich verschiedene geisteswissenschaftliche Disziplinen und namentlich feministisch orientierte Studien einige Jahre vor der jetzt ausgebrochenen Gefühlsmode dem Thema der Emotionen zu.
Dem Zusammenhang von "Gefühl und Urteilskraft" kann der deutsche Leser in dem "Plädoyer für die emotionale Vernunft" der Psychotherapeutin Carola Meier-Seethaler nachgehen. Er wird dabei als erstes bemerken, daß wie in vielen anderen ähnlichen Titeln die "Vernünftigkeit" oder "Intelligenz" der Gefühle betont wird. Man möchte die Behauptung gar nicht bestreiten, aber es macht stutzig, daß den Gefühlen ausdrücklich der Adel der Nützlichkeit oder der Vernunft zugesprochen wird. Von einer Schönheit der Gefühle ist nicht die Rede - ebensowenig wie von ihrer Nutzlosigkeit oder Einfalt. Sollten die Gefühle weniger Varianten haben und vernünftiger sein als die Vernunft selbst?
In der Tat ist die geradezu utilitaristische Sicht der Gefühle, die hier herrscht, kein Zufall. Denn von der Brauchbarkeit der Gefühle hängt einiges ab - für die Verbindung zwischen Gefühlen und Urteilskraft zunächst sodann für die Menschheit schlechthin. Ihr ehrgeiziges Plädoyer macht schnell klar, daß es ihr nicht um eine bloße Korrektur oder Ergänzung der rationalistischen Vernunft geht. Denn, so die Autorin, nachdem die "klassischen Versuche einer apriorischen Moralbegründung zum Scheitern verurteilt sind, verlagert sich die Frage nach der Universalisierbarkeit ethischer Normen auf die Ebene intersubjektiver und interkultureller Verständigung im Blick auf moralische Urteile und Übereinkünfte". Wo Vernunft war, soll Gefühl werden. Während Philosophen wie John Rawls oder Jürgen Habermas die Rationalität mit Hilfe "universeller Fairneßregeln" "konstruktivistisch" sichern möchten, legen die Vertreter eines von der Autorin favorisierten "konziliationistischen Ansatzes", zu denen unter anderen Hans Jonas, Ernst Tugendhat und Ronald de Sousa zählen sollen, den Akzent eher auf emotionale Erfahrungen, die den verbindenden Sinn konstituieren sollen.
Wenn die moralische Wertsetzung bisher so fragil und partikular fragmentiert war, dann deshalb, so die Autorin, weil sich Philosophie und Psychologie im Zustand einer "emotionalen Anästhesie" befunden haben. Selbst die Psychoanalyse sei in dem Grundirrtum befangen gewesen, nur Triebe und keine Gefühle zu kennen. Blockiert durch eine "male bias", also durch eine männlich-geschlechtsspezifisch gesetzte Trennung von Subjekt und Objekt, müsse nun ein Weg gefunden werden, die Emotionen am Erkenntnisprozeß teilnehmen zu lassen.
Die Autorin geht mit dem Leser zurück zu jenem Moment der westlichen Philosophiegeschichte, in dem der Begriff der Rationalität entsteht und sein Gegenüber, die Emotionalität, hervorbringt. Der historische Rückblick verfolgt die Spur der emotionalen Philosophie, angefangen bei Blaise Pascal über Rousseau, Dilthey bis zu Karl Jaspers und Susanne K. Langer. Natürlich kann ein solcher Abriß auf knapp siebzig Seiten nicht anders als kursorisch sein. Man würde aber der Linie, die Meier-Seethaler herauspräpariert, mit mehr Gewinn folgen, wenn sie die Tradition, auf die sie sich beruft, nicht als eng geschnürtes Strategiepaket präsentierte. Es ist verräterisch, daß beim historischen Durchlauf häufig davon die Rede ist, daß dieser oder jener philosophische Ansatz Vorläufer einer der großen psychoanalytischen Theorien gewesen sei. Solche teleologisch getrimmten Traditionen haben meist den Nachteil, daß sie erkenntnistheoretisch stumm bleiben, weil allein der Traditionsstifter das Sagen hat.
Insbesondere die psychoanalytisch unterlegte Kant-Kritik unter dem Titel "Das Gefühl als heimliche Erkenntnisquelle" ist wenig überzeugend, die knappe Ausführung zur Aufklärung nicht akzeptabel. Von einer "heimlichen" Erkenntnisquelle der Gefühle kann bei Kant tatsächlich keine Rede sein. Im Gegenteil: In seiner frühen Preisschrift von 1763 "Über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral" hebt Kant hervor, daß "das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntnis, dasjenige aber, das Gute zu empfinden, das Gefühl" sei. Das Verhältnis von Denken und Fühlen, von "Kopf und Herz" ist ein zentrales Thema der Aufklärung. Man sieht eine ihrer Hauptleistungen darin, das Gefühl als ein Organ erkannt zu haben, das zur moralischen Orientierung der Menschen in der Welt dienlich sei. Die Rationalität der Aufklärung nur im rationalistischen Zerrbild oder als rein instrumentelle Vernunft im Sinn von Horkheimer und Adorno zu betrachten, wird sich für den weiteren Gang der Untersuchung als mißliche Weichenstellung erweisen. Denn die Gefühle werden bei Carola Meier-Seethaler nun ebenso einseitig, wie es die kognitive Rationalität sein soll.
Als politisch lebensweltliche Konsequenz schließlich wird im Namen der Gefühle nicht nur eine Einkehr der Humanmedizin gefordert oder die Befreiung der Arbeit von den Zwängen der Automatisierung und des Gewinndrucks. Das eigentlich Neue, was das Buch in seiner Denkrichtung symptomatisch macht, ist die Darstellung des Gefühls als Grundlage sozialer Beziehungen in Zeiten der Deregulierung, der Massenarbeitslosigkeit und der Entstehung neuartig bewerteter, gesellschaftlich relevanter Arbeit. Von Nachbarschaftshilfe bis zu partnerschaftlichen Lösungen auf allen Ebenen. Diese Gesellschaft der Gefühle muß natürlich eine Gesellschaft der richtigen Gefühle sein; ein unangenehmer Gedanke, falls man nicht bereit ist, zu vergessen, welche Möglichkeiten des Drucks und der Manipulation damit eröffnet werden.
Das "Plädoyer für die emotionale Vernunft" ist sicher nicht das beste Buch, was der Leser zum Thema heranziehen kann; es zeigt aber besonders deutlich, wie die Auswirkungen der Globalisierung und die Veränderung der Arbeitswelt kurzgeschlossen werden können mit einer gutgemeinten, aber in den Konsequenzen nicht unbedenklichen Philosophie der Gefühle. Man sollte das im Auge behalten, wenn die Emotionen zur Abwehr oder Ergänzung des reinen Kapitalismus eingesetzt werden. Man darf zur "Kritik der instrumentellen Emotionalität" aufrufen.
Eine philosophische Korrektur dieses allzu selbstgewissen Plädoyers für die Emotionen bringt Ronald de Sousa, der die "Rationalität des Gefühls" ungleich differenzierter auffaßt und trotz aller Bedeutung, die er den Gefühlen zuschreibt, skeptisch bleibt und eher einer selbstbewußt-tragischen Lebensphilosophie anhängt, als daß er in der Brauchbarkeit der Gefühle einen sozialen oder politischen Heilsweg sieht. Sehr lohnend ist die Lektüre vor allem im Hinblick auf seine Ausführungen zur philosophischen Tradition der Empfindungslehre, in der auch Descartes seinen Platz findet. De Sousa ist mit großer argumentativer Behutsamkeit darum bemüht, nachzuweisen, daß uns die Gefühle tatsächlich mit der objektiven Welt verbinden.
Sein Buch endet mit den "drei Grundtragödien des Lebens". Die erste Grundtragödie ist, daß die Vergesellschaftung die Bedingung der Individualität und Gefühlsausprägung ist, diese Individualität aber mit dem Gesellschaftlichen im Konflikt liegt. Die zweite Tragödie ist die der individuellen Biographie. Nach de Sousa strebt das Individuum Werte an, die universell sind, muß aber erkennen, daß er diese Werte in bloß individuellen "Schlüsselszenarien" erfährt. Ohne solche Erlebnisse gebe es kein Wertbewußtsein. Dagegen ist dieser individuelle Modus aber für die Verschiedenheit der Menschen, ihre Anziehung oder Abstoßung von zentraler Bedeutung. Verständigung kann nur auf die Überzeugung der uneinsehbaren Verschiedenheit und auf dem Respekt vor dieser Gleichheit gegründet werden. Die dritte Tragödie ist der Tod als Beendigung aller Erfahrung. In der kontemplativen Erfassung des Todes liegt nach de Sousa eine der Quelle des Gefühlslebens, die entscheidend zu den Standards der Rationalität beitragen können.
Daß die drei Grundtragödien voller Ambivalenzen sind und es auch keine emotional herzustellende definitive sozial und moralisch feststellende Beruhigung gibt, da das Begehren im weitesten Sinn zu den emotionalen Grundlagen des Menschen gehört, steht für de Sousa fest. Am Ende hält er ein anrührendes Plädoyer für die Kunst der angemessenen Gefühlsreaktion - keine neue Weisheit also, aber eine, die doch immer erneuert werden muß.
Sie verträgt sich auch recht gut mit den neuesten Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften und der Sozialpsychiatrie. Hierfür steht Luc Ciompis Buch über die "emotionalen Grundlagen des Denkens". Was Jean Piaget für die genetische Epistemologie geleistet hat, indem er zeigte, daß mentale Strukturen im wesentlichen aus Aktion, aus senso-motorischen Abläufen oder "Schemata" hervorgehen, das hat sich Luc Ciompi für die Theorie der Affektlogik vorgenommen. Er hat ein Buch geschrieben, von dem sich die geisteswissenschaftliche Studien zu kollektivem Verhalten und politischem Handeln mit Gewinn inspirieren lassen könnten. Ciompi führt aus, daß durch Aktion nicht allein kognitive, sondern auch ganze Netze von emotionalen Komponenten generiert und als Energieträger abrufbar werden. In der sogenannten neuronalen Plastizität verbin-
den sich nun "senso-motorische und kognitive Abläufe über repetitive Aktivität mit zugehörigen affektiven, hormonalen und vegetativen Komponenten zu funktionell integrierten neuronalen Assoziationssystemen". Ciompis chaostheoretischer Ansatz ist im einzelnen nicht annähernd zu umreißen. Er behandelt "Affekte als kontinuitätsstiftende Öffner und Schließer von kollektiven Gedächtnispforten" und erklärt den "Mann, der nie nein sagen kann".
Vor allem aber stellt er ein Grundgesetz (das komplementäre Zusammenwirken des Affekt- mit dem Kognitionssystem), fünf Grundgefühle (Interesse, Angst, Wut, Trauer, Freude) und eine unendliche Anzahl kognitiver Modulationen vor, mit deren Hilfe er auf recht überzeugende Weise feststellen kann, "daß tatsächlich auf allen untersuchten mikro- und makrosozialen Ebenen prinzipiell ähnliche Schaltwirkungen von Affekten auf Denken und Verhalten am Werk sind". Daher gelingt auch der Nachweis, daß kognitive Elemente emotional besetzt sind, wie schon wissenschaftliche und Alltagserfahrung nahelegen. Was im Funktionalismus und in der Modernisierungstheorie die Krise war, erfährt hier eine Affektbegründung: Das Neue tritt in die Welt, wenn das Niveau von affektiven Spannungen einen bestimmten kritischen Wert erreicht hat. Die Gemeinsamkeit von Individuellem und Kollektivem in der emotionalen Logik gezeigt zu haben ist vielleicht das größte Verdienst dieser Arbeit, die für eine Reihe von Disziplinen äußerst anregend sein kann - und damit im Sinne der Affektlogik das Neue generiert.
-fmt-ffa>C iompi zeigt auch, warum psychosoziale Prozesse so unberechenbar
sind. Für den Erkenntniswillen liegt darin kein geringer Trost - angesichts zweier eigentümlicher kollektiver Affektbewegungen der jüngsten Zeit: die Debatte um die Thesen Daniel Goldhagens und die Betroffenheit, die der Tod von Prinzessin Diana ausgelöst hat. Im ersten Fall wird jetzt deutlicher, wie ein affektives Schlüsselerlebnis in Form von kognitiven Kategorien in die Geschichtswissenschaft überführt wurde und sich dabei gegen Einwände immunisierte, weil die affektbesetzte Erkenntnisbahn, nach Ciompi, so breitgewalzt war, daß für den Autor andere Möglichkeiten nicht in Betracht kamen. Die Kritiker hingegen waren dieser neuartigen Kombination eher hilflos ausgesetzt, weil sie die Affektenergie des Ansatzes allenfalls benennen, nicht aber mindern oder in andere Schemata zurückführen konnten. Im Fall von Prinzessin Diana hat sich die Anteilnahme als Erlebnis von interesseloser Kollektivität selbst geschaffen. Diese forcierte Selbstreferentialität kann man als nachdrücklichen Hinweis auf das Ausmaß des Umbruchs verstehen, in dem sich die psycho-soziale Welt befindet. Der Schillersche "Kaltsinn" zwischen Individuum und gesellschaftlicher Verfaßtheit fordert seinen Tribut.
Carola Meier-Seethaler: "Gefühl und Urteilskraft." Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft. Verlag C. H. Beck, München 1997. 454 S., br., 29,80 DM.
Ronald de Sousa: "Die Rationalität des Gefühls". Übersetzt von Helmut Pape unter Mitarbeit von Astrid Pape und Ilse Grien. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 568 S., geb., 76,- DM.
Luc Ciompi: "Die emotionalen Grundlagen des Denkens". Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997. 371 S., br., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main