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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.02.2011

Süddeutsche Zeitung Junge Bibliothek
Band 20

Ohne Schuhe, ohne
Seife, ohne Strom
„Die endlose Steppe“,
von Esther Hautzig
Eigentlich ist es erstaunlich, dass Esther Hautzigs 1968 in den USA publiziertes wunderbares Buch erst 1986 auf Deutsch erschien. Erklären lässt sich das vielleicht damit, dass die Verlage deutschen Kindern Stoffe der Zeitgeschichte nicht zumuten wollten. Das Buch handelt vom Schicksal einer jüdischen Familie, die auf sowjetischen Befehl nach Sibirien verschleppt wurde. Esther Hautzig erzählt die Geschichte ihrer Kindheit.
Die Familie besitzt ein Kaufhaus in Wilna. Die Bombardierungen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs haben Esther große Angst gemacht, aber dann passiert etwas noch Schlimmeres: Sowjetische Soldaten kommen und zwingen die Familie in Eisenbahnwaggons. Esther erfährt, dass alle „Kapitalisten“ Unrecht tun und in den Osten fahren müssen.
Was ein Kapitalist ist, weiß Esther nicht so genau, und auf der langen Zugreise lernt sie es auch nicht: Wenn sie um sich schaut, sieht sie nur Bauern. Esthers Schilderung der langen Zugfahrt beschreibt genau das, was man wissen will: Was man aß in dem Waggon, wie man aufs Klo ging, wie man an den Haltestationen den Bauern Esswaren abkaufte. Und weil bei aller gruseligen Grässlichkeit der Reise Mutter und Vater stets da sind, verzweifelt Esther nicht.
Endgültig hält der Zug in einer desolaten Ortschaft mitten in Sibirien. Esthers Verwandte müssen Zwangsarbeit leisten. Die Familie hungert. Im Sommer ist die Hitze kaum erträglich, im Winter fehlt es an Brennholz. Esther hat keine Schuhe, es gibt keine Seife und keinen Strom, dafür aber Bettwanzen.
Immerhin: Esther darf zur Volksschule gehen, und sie ist verwundert, dass sie – obzwar fremd, obzwar eine Jüdin – von den Mitschülern nicht gehänselt wird. Allmählich begreift sie den Grund: Etwas lernen zu können ist für die bitterarmen Menschen so viel wert, dass es den Kindern nicht einfiele, mit Hänseleien eines Klassenkameraden den Tadel eines Lehrers auf sich zu ziehen.
Esther lernt Russisch, sie findet Freunde. Die ungeheure, weite sibirische Landschaft gefällt ihr zunehmend. Wirklich heimisch fühlt sie sich nie, aber doch so sehr, dass sie stolz ist, als sie endlich eine gesteppte Jacke hat, wie ihre Mitschüler sie tragen. Erst nach Kriegsende, als die Familie aus der Verbannung entlassen wurde, begriff Esther Hautzig, dass sie vermutlich in einem KZ den Tod gefunden hätte, wenn sie nicht deportiert worden wäre (ab 11 Jahre).
FRANZISKA AUGSTEIN
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