Wissenschaftler auf der ganzen Welt sind sich einig, dass der Klimawandel bereits Realität ist und jenseits einer Erwärmung von 1,5 Grad bis Ende des Jahrhunderts katastrophalen Folgen für Mensch und Umwelt drohen. Warum also werden nicht längst alle Weichen auf »Änderung« gestellt? Schließlich stehen der Europäischen Union mächtige Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, um die globale Erwärmung zu bekämpfen.»Die Energiewende« liefert einen Blick hinter die Kulissen und zeichnet die erbitterten politischen Kämpfe nach, die in Europa in den letzten 15 Jahren im Dienst der Energiewende und der europäischen Bürger geführt wurden: auf der einen Seite die Architekten - jene, die Lösungen gegen die schweren Auswirkungen der globalen Erwärmung entwickeln - und auf der anderen Seite die Saboteure und Konzernlobbyisten, die die höchsten Ebenen der europäischen Entscheidungsträger infiltrieren, um die Energiewende zu verlangsamen.Claude Turmes, langjähriges Mitglied des Europaparlaments, zeichnet die von Fortschritten und Rückschlägen geprägte Geschichte der europäischen Energiewende nach - vom Enthusiasmus der frühen 2000er bis zum Rückfall nach der Wirtschaftskrise im Jahr 2008.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2018Energie für Europa
Der Kampf eines Grünen
Die Grünen verfolgen seit langem das Ziel einer Energiewende, darunter Claude Turmes, der seit dem Jahre 1999 als Abgeordneter im Europäischen Parlament sitzt. Turmes ist ein kluger und engagierter Kopf, der in Brüssel viel für seine Sache erreicht hat. Man sollte ihn jedenfalls nicht unterschätzen. In seinem Buch "Die Energiewende" berichtet er nun, wie er in den letzten Jahrzehnten Gesetzesvorschläge verfasst, Allianzen gebildet und die Öffentlichkeit mobilisiert hat.
"Dieses Buch ist keines, das vorgibt, objektiv zu sein", schreibt Turmes: "Vielleicht ist der Zugang etwas schwierig, jedenfalls versucht es, die komplexe Welt der Energie und die nicht minder komplexe Welt der europäischen Politik begreiflich zu machen." In der Tat lernt der Leser viel über die Entscheidungsfindungen in Europa. "Das Europäische Parlament ist ein faszinierender Ort, eine atypische Volksvertretung mit wechselnden Mehrheiten." Turmes findet Verbündete an Stellen, wo er sie nicht erwartet hätte. So ist der Bereich erneuerbarer Energien in Spanien eine Domäne vermögender konservativer Familien. Ein ehemaliger Franco-Anhänger hat die politische Rechte schon vor langer Zeit im Lager der Erneuerbaren-Befürworter verankert.
"Ein großer Unterschied zu anderen Ländern wie Deutschland oder Frankreich, die in dieser Frage politisch gespalten sind", schreibt der Verfasser. Die Briten konnten in letzter Minute von der Erneuerbare-Energien-Richtlinie überzeugt werden, weil das gigantische Gezeitenkraftwerk in der Severn-Mündung, obwohl noch in Planung, als Beitrag für die Erreichung der Ziele für das Jahr einberechnet wurde. Dadurch konnte der junge Minister Ed Miliband grünes Licht geben, obwohl er sich über die Haltung seiner eigenen Administration hinwegsetzte. Miliband erhoffte sich Rückenwind für eine große politische Karriere. Beide Pläne scheiterten: Miliband verlor die Unterhauswahlen 2015, und das Kraftwerk wurde nie gebaut.
Die Energieeffizienzrichtlinie war im Jahre 2012 Anlass für eine weitere "homerische Schlacht", diesmal zwischen Parlament und Rat. Die Richtlinie ist doppelt angelegt: Einerseits gibt sie den allgemeinen Rahmen für sämtliche Bemühungen der Europäischen Union auf diesem Gebiet vor (Normen für Fahrzeuge, Haushaltsgeräte und Gebäude), andererseits verpflichtet sie die Regierungen dazu, Maßnahmen gegen Energieverschwendung zu ergreifen. Schon das war Grund von Streitigkeiten: absolut oder relativ, in welcher Energieeinheit, auf der Grundlage des Primärverbrauchs oder des Endverbrauchs? Turmes erreichte, dass jedes Land sein jeweiliges Ziel in Primärenergie umrechnen muss, in einen absoluten, in Megajoule angegebenen Wert für Energieeinsparungen.
Im Parlament bildeten Christdemokraten, britische Tories und Kommunisten eine Front gegen den Vorschlag. Auf Seiten der Grünen standen nur Sozialdemokraten und Liberale - bis die italienische Lega Nord (heute: Lega) aus dem konservativen Block ausscherte und "aus heiterem Himmel" die Richtlinie unterstützte. Damit erhielt diese eine knappe Mehrheit. Über solch unvermutete Allianzen freut sich Turmes. Mehrheiten erkämpft er über Parteigrenzen hinweg - gerne auch mal mit irischen Konservativen oder deutschen Christdemokraten.
Vielleicht gehört dieses Verhandlungsgeschick zum Wesen der Luxemburger. Seine Parteikollegin Carole Dieschbourg, die an der Universität Trier studiert hat, konnte als Umweltministerin während der luxemburgischen EU-Präsidentschaft den Klimagipfel von Paris mit zum Erfolg führen. Ihr beider Landsmann Jean-Claude Juncker wird im Buch ambivalent behandelt. Positiv bewertet Turmes den "Juncker-Plan", der Investitionen ankurbeln soll. Viel Geld fließt hier in grüne Projekte.
In weiten Strecken ist das Buch jedoch eine Anklage gegen Politiker mit anderen Auffassungen (die auch namentlich genannt werden) und die Lobbyarbeit großer Energieunternehmen. Turmes wirft ihnen Falschinformationen und Rückwärtsgewandtheit vor. "Einige von ihnen flirten mit Klimaskeptikern jeglicher Couleur und lassen sich auch nicht nehmen, konservativste amerikanische Senatoren zu finanzieren", wird mit Hinweis auf einen Artikel im englischen "Guardian" behauptet. "Sie unterhalten enge Beziehungen zu Bjørn Lomborg, einem militanten Klimaskeptiker", schreibt Turmes weiter.
Allerdings ist Lomborg, schaut man seine neuesten Veröffentlichungen an, alles andere als ein Klimaskeptiker. Er favorisiert nur andere Lösungsansätze als die Grünen. Ein eigenes Kapitel widmet Turmes dem Abgasskandal. "Dieselgate" ist für ihn der "wohl größte Industriebetrug der europäischen Geschichte", er nennt es - in Anspielung auf italienische Mafiaclans - "Car-morra". Ein Autobauer dürfe ein Fahrzeug auf den Markt bringen, das mehr als doppelt so viel Abgas ausstößt wie von der Norm vorgegeben. "Man stelle sich vor, das würde auch für Geschwindigkeitsbegrenzungen gelten!", lautet Turmes etwas abwegiger Vergleich.
Bei der Dämmung von Wohngebäuden ist immerhin schon Skepsis vor Styropor und Polystyrol zu erkennen, von deren Lobbyverbänden sich manche Grüne jahrelang haben blenden lassen. Nun fragt Turmes nach den langfristigen Umweltfolgen dieser Materialien. Allerdings gibt es dazu schon eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen. Trotz dieser Schwächen und seiner - nicht verschwiegenen - Subjektivität ist das Buch eine lesenswerte Darstellung von grünen Bemühungen zur Energiewende. Turmes zeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit in der EU ist und wie notwendig auch das ist, was allgemein als Bürokratie bezeichnet wird. Man kann Turmes Ansichten teilen oder nicht, unbestritten ist: Er kämpft für ein politisches Ziel, verfolgt große Linien und kennt dabei die inhaltlichen Details. In seinem Heimatland Luxemburg wird Turmes' immer wieder mit phantastischen Ergebnissen ins Europaparlament gewählt.
JOCHEN ZENTHÖFER
Claude Turmes: Die Energiewende - eine Chance für Europa. oekom, München 2018. 384 Seiten. 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Kampf eines Grünen
Die Grünen verfolgen seit langem das Ziel einer Energiewende, darunter Claude Turmes, der seit dem Jahre 1999 als Abgeordneter im Europäischen Parlament sitzt. Turmes ist ein kluger und engagierter Kopf, der in Brüssel viel für seine Sache erreicht hat. Man sollte ihn jedenfalls nicht unterschätzen. In seinem Buch "Die Energiewende" berichtet er nun, wie er in den letzten Jahrzehnten Gesetzesvorschläge verfasst, Allianzen gebildet und die Öffentlichkeit mobilisiert hat.
"Dieses Buch ist keines, das vorgibt, objektiv zu sein", schreibt Turmes: "Vielleicht ist der Zugang etwas schwierig, jedenfalls versucht es, die komplexe Welt der Energie und die nicht minder komplexe Welt der europäischen Politik begreiflich zu machen." In der Tat lernt der Leser viel über die Entscheidungsfindungen in Europa. "Das Europäische Parlament ist ein faszinierender Ort, eine atypische Volksvertretung mit wechselnden Mehrheiten." Turmes findet Verbündete an Stellen, wo er sie nicht erwartet hätte. So ist der Bereich erneuerbarer Energien in Spanien eine Domäne vermögender konservativer Familien. Ein ehemaliger Franco-Anhänger hat die politische Rechte schon vor langer Zeit im Lager der Erneuerbaren-Befürworter verankert.
"Ein großer Unterschied zu anderen Ländern wie Deutschland oder Frankreich, die in dieser Frage politisch gespalten sind", schreibt der Verfasser. Die Briten konnten in letzter Minute von der Erneuerbare-Energien-Richtlinie überzeugt werden, weil das gigantische Gezeitenkraftwerk in der Severn-Mündung, obwohl noch in Planung, als Beitrag für die Erreichung der Ziele für das Jahr einberechnet wurde. Dadurch konnte der junge Minister Ed Miliband grünes Licht geben, obwohl er sich über die Haltung seiner eigenen Administration hinwegsetzte. Miliband erhoffte sich Rückenwind für eine große politische Karriere. Beide Pläne scheiterten: Miliband verlor die Unterhauswahlen 2015, und das Kraftwerk wurde nie gebaut.
Die Energieeffizienzrichtlinie war im Jahre 2012 Anlass für eine weitere "homerische Schlacht", diesmal zwischen Parlament und Rat. Die Richtlinie ist doppelt angelegt: Einerseits gibt sie den allgemeinen Rahmen für sämtliche Bemühungen der Europäischen Union auf diesem Gebiet vor (Normen für Fahrzeuge, Haushaltsgeräte und Gebäude), andererseits verpflichtet sie die Regierungen dazu, Maßnahmen gegen Energieverschwendung zu ergreifen. Schon das war Grund von Streitigkeiten: absolut oder relativ, in welcher Energieeinheit, auf der Grundlage des Primärverbrauchs oder des Endverbrauchs? Turmes erreichte, dass jedes Land sein jeweiliges Ziel in Primärenergie umrechnen muss, in einen absoluten, in Megajoule angegebenen Wert für Energieeinsparungen.
Im Parlament bildeten Christdemokraten, britische Tories und Kommunisten eine Front gegen den Vorschlag. Auf Seiten der Grünen standen nur Sozialdemokraten und Liberale - bis die italienische Lega Nord (heute: Lega) aus dem konservativen Block ausscherte und "aus heiterem Himmel" die Richtlinie unterstützte. Damit erhielt diese eine knappe Mehrheit. Über solch unvermutete Allianzen freut sich Turmes. Mehrheiten erkämpft er über Parteigrenzen hinweg - gerne auch mal mit irischen Konservativen oder deutschen Christdemokraten.
Vielleicht gehört dieses Verhandlungsgeschick zum Wesen der Luxemburger. Seine Parteikollegin Carole Dieschbourg, die an der Universität Trier studiert hat, konnte als Umweltministerin während der luxemburgischen EU-Präsidentschaft den Klimagipfel von Paris mit zum Erfolg führen. Ihr beider Landsmann Jean-Claude Juncker wird im Buch ambivalent behandelt. Positiv bewertet Turmes den "Juncker-Plan", der Investitionen ankurbeln soll. Viel Geld fließt hier in grüne Projekte.
In weiten Strecken ist das Buch jedoch eine Anklage gegen Politiker mit anderen Auffassungen (die auch namentlich genannt werden) und die Lobbyarbeit großer Energieunternehmen. Turmes wirft ihnen Falschinformationen und Rückwärtsgewandtheit vor. "Einige von ihnen flirten mit Klimaskeptikern jeglicher Couleur und lassen sich auch nicht nehmen, konservativste amerikanische Senatoren zu finanzieren", wird mit Hinweis auf einen Artikel im englischen "Guardian" behauptet. "Sie unterhalten enge Beziehungen zu Bjørn Lomborg, einem militanten Klimaskeptiker", schreibt Turmes weiter.
Allerdings ist Lomborg, schaut man seine neuesten Veröffentlichungen an, alles andere als ein Klimaskeptiker. Er favorisiert nur andere Lösungsansätze als die Grünen. Ein eigenes Kapitel widmet Turmes dem Abgasskandal. "Dieselgate" ist für ihn der "wohl größte Industriebetrug der europäischen Geschichte", er nennt es - in Anspielung auf italienische Mafiaclans - "Car-morra". Ein Autobauer dürfe ein Fahrzeug auf den Markt bringen, das mehr als doppelt so viel Abgas ausstößt wie von der Norm vorgegeben. "Man stelle sich vor, das würde auch für Geschwindigkeitsbegrenzungen gelten!", lautet Turmes etwas abwegiger Vergleich.
Bei der Dämmung von Wohngebäuden ist immerhin schon Skepsis vor Styropor und Polystyrol zu erkennen, von deren Lobbyverbänden sich manche Grüne jahrelang haben blenden lassen. Nun fragt Turmes nach den langfristigen Umweltfolgen dieser Materialien. Allerdings gibt es dazu schon eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen. Trotz dieser Schwächen und seiner - nicht verschwiegenen - Subjektivität ist das Buch eine lesenswerte Darstellung von grünen Bemühungen zur Energiewende. Turmes zeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit in der EU ist und wie notwendig auch das ist, was allgemein als Bürokratie bezeichnet wird. Man kann Turmes Ansichten teilen oder nicht, unbestritten ist: Er kämpft für ein politisches Ziel, verfolgt große Linien und kennt dabei die inhaltlichen Details. In seinem Heimatland Luxemburg wird Turmes' immer wieder mit phantastischen Ergebnissen ins Europaparlament gewählt.
JOCHEN ZENTHÖFER
Claude Turmes: Die Energiewende - eine Chance für Europa. oekom, München 2018. 384 Seiten. 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»(...) uneingeschränkt zu empfehlen.« Die Zeit