Produktdetails
- suhrkamp taschenbuch 6698
- Verlag: Suhrkamp
- Deutsch
- Abmessung: 35mm x 110mm x 180mm
- Gewicht: 465g
- ISBN-13: 9783518066980
- ISBN-10: 3518066986
- Artikelnr.: 11351878
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.08.1999Nach der Stunde der wahren Empfindungen
Norbert Gstreins schicksalsferner Roman "Die englischen Jahre" · Von Eberhard Rathgeb
Man darf, ja man muss sagen, dass dieser Roman zu den interessantesten Büchern der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahre zählt. Norbert Gstrein hatte mit seiner ersten Erzählung "Einer" auf sich aufmerksam gemacht. Als seine anderen Bücher erschienen, zwei Erzählungen, eine Novelle und ein Roman, hatte er neben Lob auch Kritik einstecken müssen. Für ein Kapitel aus dem Manuskript "Die englischen Jahre" erhielt er in diesem Jahr den Alfred-Döblin-Preis, und zwar, wie man feststellen kann, völlig zu Recht. Denn der fertige Roman bestätigt, ja übertrifft alle Erwartungen an diesen Autor.
In einem Lager in England, auf der Isle of Man, wo Gefangene während des Zweiten Weltkrieges untergebracht sind, darunter auch Juden, die aus Deutschland flüchten konnten, sitzen am Abend des 29. Juni 1940 vier junge Männer beim Kartenspiel. Es ist kein gewöhnliches Spiel. In den letzten Tagen waren die Gefangenen zum Appell angetreten, und der Zufall beim Abzählen hatte entschieden, wer das Lager verlassen und sich einschiffen, auf eine Fahrt gehen musste, deren Ziele weit weg lagen, zum Beispiel in Neufundland, wo ein Arbeitseinsatz auf sie wartete. Nur wenige hatten sich freiwillig gemeldet. Die Gefangenen mussten auf der Insel nicht befürchten, von deutschen Flugzeugen angegriffen zu werden. Nun sollte man diesen Schutzraum verlassen und sich auf das Meer wagen, wo deutsche Unterseeboote warteten.
Die vier sitzen auf ihren Pritschen und rauchen, "der Blasse", "der mit der Narbe", "der Neue" und Hirschfelder. Der Neue soll am nächsten Tag das Lager verlassen und sucht nach einer Möglichkeit, bleiben zu können. Also legt er Geldbündel als Einsatz bereit. Die Karten werden gemischt. Die drei haben Hirschfelder hinzugezogen, ja regelrecht hineingezogen. Hirschfelder ist feige, fürchtet, dass die Mitgefangenen ihn, wenn er nicht mitspielt, schneiden und ihm das Leben im Lager nicht angenehmer machen werden. Die vier sind sich einig, dass sich morgen unter der Identität des Neuen zum Abmarsch melden solle, wer verliert. Hirschfelder merkt zu spät, dass die drei gegen ihn zusammenhalten.
Schon am 2. Juli 1940 befindet er sich an Bord der S. S. Arandora Spar, die Kurs auf Neufundland nimmt. Vor der irischen Küste wird das Schiff von einem Unterseeboot torpediert und sinkt. Ein kanadischer Zerstörer trifft bei den im Meer trudelnden Rettungsbooten ein. Doch die Hälfte der rund eintausendsiebenhundert Menschen an Bord ertrinkt. Hirschfelder ist unter den Opfern.
Der andere Mann, der Neue aus dem Lager, an dessen Stelle Hirschfelder die Reise antritt, lebt unter dessen Namen weiter. Das kommt erst Jahrzehnte später bei Recherchen ans Tageslicht. Der echte Hirschfelder war achtzehn Jahre alt gewesen, als er, ein Jude aus Österreich, ins englische Exil ging. Er hatte mit seinen Eltern in Wien gelebt, mit seiner Mutter und deren Mann, der nicht sein leiblicher Vater war. Als die Mutter mit ihm schwanger gewesen war, hatte einer, der Jude war, sie vor der damaligen Schande bewahrt und sie kurz vor der Geburt des Kindes geheiratet. Seinen leiblichen Vater kannte Hirschfelder nicht. Er hörte nur, dass er ein Zuhälter und von der ersten Stunde an in der Partei gewesen sei. In England wohnte der junge Hirschfelder in der Familie eines Richters. Dort verliebte er sich in die Haushaltsgehilfin Clara, ebenfalls eine geflohene Jüdin. Am 17. Mai 1940 wurde er, weil er aus Feindesland kam und als ein Sicherheitsrisiko eingestuft wurde, interniert.
Man kann eine Geschichte erzählen, und diese Geschichte kann einen bewegen und anrühren, wenn man in sie hineingezogen wird, wenn man zum Begleiter eines Schicksals wird und wenn man von diesem Schicksal eine lebendige Vorstellung bekommt, weil der Erzähler oder die Figuren ein Leben haben. Das aber wird man nicht erwarten dürfen, wenn man eine Geschichte von Norbert Gstrein aufschlägt. Seine Figuren lassen einen auf seltsame Weise kalt. Sogar Jakob aus der Erzählung "Einer" konnte einen nur interessieren, aber nicht wirklich bewegen. Norbert Gstrein möchte nicht durch Schicksale wirken. Wirkung allein soll die Erzählweise entfalten, der Stil. Das ist ihm in den "Englischen Jahren" außerordentlich gut geglückt. Das Sujet kommt ihm dabei entgegen, die Suche nach einem Mann, dessen Identität sich beim vorsichtigen Herantasten auflöst, eine Recherche, auf die Aussagen von anderen angewiesen, die aus dem Nebel der Erinnerungen auftauchen.
Der neue, der falsche Hirschfelder meldet sich, nachdem er freigelassen worden ist, zu einem Pioniercorps. Er stammt aus dem Salzkammergut. Dort betrieben seine Eltern eine Gastwirtschaft an einem See. Eines Tages war ein Dozent mit seiner Tochter im Gasthaus aufgetaucht, die man aus glücklicheren Tagen kannte, hatten die beiden Juden doch oft im Sommer hier einige Tage verbracht. Sie baten die Gastwirte um Unterschlupf. Der Vater bemühte sich in Wien um Ausreisepapiere. Eines Tages aber kehrte er nicht mehr an den See zurück. Man konnte ahnen, was mit ihm geschehen war. Die Tochter sei dann von der Dorfpolizei abgeholt worden. So erzählte es der Neue, wenn er Hirschfelder im Lager das Bild des jüdischen Mädchens zeigte. Später, nach den Recherchen, stellt sich heraus, daß das jüdische Mädchen krank im Zimmer gelegen hatte, dass die Familie und vor allem er selbst, der Neue und spätere falsche Hirschfelder, zu feige gewesen war, einen Arzt zu holen, und dass das Mädchen gestorben und drei Tage tot im Bett gelegen war, bis die gastfreundliche Familie sie zum See hinuntergeschleppt und dort liegen gelassen hatte. Die Eltern hatten daraufhin den Jungen bedrängt, er solle, warum nicht, nach England gehen, um dort zu vergessen, was hier geschehen war.
Dort hatte der neue, der falsche Hirschfelder, dessen wahrer Name Harrassar war, wie man im Zuge der Recherchen herausfindet, den alten, echten Hirschfelder getroffen. Beide müssen fast gleichen Alters gewesen sein. Der neue Hirschfelder lebte nach seinem Lageraufenthalt zurückgezogen in England. Vor seiner Internierung hatte er eine Frau mit Namen Catherine kennengelernt, doch das war nur eine kurze, wenn auch leidenschaftliche Begegnung gewesen, der Briefe folgten und Jahre später, als sie schon verheiratet war und eine Tochter hatte, regelmäßige Besuche.
Nach seiner Freilassung trifft Hirschfelder eine Frau mit Namen Madeleine, und die beiden bleiben zusammen, auch wenn das Zusammenleben mit Hirschfelder, der sich jeden Tag für Stunden in ein Zimmer im recht heruntergekommenen Palace Hotel zum Schreiben zurückzieht, alles andere als einfach ist. Hirschfelder veröffentlicht in den Nachkriegsjahren ein einziges Buch, aber dieses Buch macht ihn berühmt. Er trägt sich über dreißig Jahre lang mit dem Gedanken, sein Leben aufzuschreiben, ja er versteift sich darauf und erklärt, die Zeit für erfundene Geschichten sei vorbei, er müsse erzählen, wie es gewesen sei. Von diesem Manuskript, wenn es denn eines gegeben hat, existiert kein einziges Blatt mehr. Er habe aber, so berichtet seine Frau nach dem Tod Hirschfelders, immer davon gesprochen und es "Die englischen Jahre" genannt.
Das alles erfährt Margaret bei ihrer Recherche, die sie zu den drei Frauen Hirschfelders führte. Keine der drei Frauen, mit denen Hirschfelder, ob kurz oder lang zusammen gewesen war, hatte gewusst, dass dieser Mann sich seinen Namen nur zugelegt hatte und sich die Biographie der ersten Jahrzehnte von einem anderen geliehen hatte. Margaret hatte von Hirschfelder zum erstenmal durch ihren Mann Max gehört, der ebenfalls ein Schriftsteller war, Hirschfelder bewunderte und seinem Leben nachspürte. Max gab seine Suche nach Hirschfelder schließlich auf, weil man ihm lauthals vorwarf, er wüsste doch nicht, was es hieß, als Jude im Exil zu leben. Er solle lieber bei seinen Dorfgeschichten bleiben als sich mit Schicksalen zu beschäftigen, von denen er keine Ahnung habe.
Erst am Ende der Recherche, als ihm Margaret erzählt, was sie herausgefunden hat, und ihm damit die Geschichte von Hirschfelder wieder zurückgibt, weil es ja im Grunde seine Geschichte sei, erst da hat Max sich wieder mit dem Gedanken befreunden können, über Hirschfelder zu schreiben, keine Hommage, sondern einen Roman, wenn auch nicht unter seinem Namen, weil er immer noch die Vorwürfe im Ohr hat, die ihn damals trafen. Ob er dieses Buch über Hirschfelder schreiben werde, dessen ist sich Margaret, als sie sich von ihm verabschiedet, nicht sicher, sei doch Max "ein unzuverlässiger Zeitgenosse".
Acht Kapitel hat der Roman, vier tragen den Namen der erzählenden, der sich erinnernden, der mit Hirschfelder verbundenen Frauen im Titel, Margaret, Catherine, Clara, Madeleine. Die anderen vier Kapitel sind Teile einer Biographie Hirschfelders, keine Tagebucheintragungen aus der Hand Hirschfelders, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, denn hier schreibt kein "Ich", sondern es wird von einem "Du" berichtet, und die letzte biographische Geschichte erzählt sogar vom Tod Hirschfelders im Meer.
Unbestimmt und diffus flackert Hirschfelders Leben und seine Identität aus den Berichten und Gesprächen auf, und was den Leser hineinzieht, ist ein erzählerischer Sog, ein Blinde-Kuh-Spiel, ein Tasten mit den Händen bei verbundenen Augen, das man nicht aufgeben möchte, bevor man erspürt hat, wen man vor sich hat oder was. Es ist mehr als Handwerk, mehr als Talent, so schicksalsfern erzählen zu können. Hier hat ein Schriftsteller bewiesen, wie man schreiben kann, wenn man nicht mehr alles auf eine Karte, auf das Erleben setzt. Hier hat sich einer, weil er sich ganz der Erzählweise anvertraute, aus dem Dilemma der Geschichte gezogen, entweder aus sich selbst heraus, aus der eigenen wahren Empfindung zu erzählen, oder aus dem unwahren Hineinempfinden in einen anderen. Norbert Gstrein hat mit diesem Roman bravourös gezeigt, dass man noch eine Geschichte erzählen kann. Man kann es, wenn man dem eigenen Erzählen gewachsen ist und nicht einem fremden, angemaßten Schicksal unterliegt.
Norbert Gstrein: "Die englischen Jahre". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 389 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Norbert Gstreins schicksalsferner Roman "Die englischen Jahre" · Von Eberhard Rathgeb
Man darf, ja man muss sagen, dass dieser Roman zu den interessantesten Büchern der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahre zählt. Norbert Gstrein hatte mit seiner ersten Erzählung "Einer" auf sich aufmerksam gemacht. Als seine anderen Bücher erschienen, zwei Erzählungen, eine Novelle und ein Roman, hatte er neben Lob auch Kritik einstecken müssen. Für ein Kapitel aus dem Manuskript "Die englischen Jahre" erhielt er in diesem Jahr den Alfred-Döblin-Preis, und zwar, wie man feststellen kann, völlig zu Recht. Denn der fertige Roman bestätigt, ja übertrifft alle Erwartungen an diesen Autor.
In einem Lager in England, auf der Isle of Man, wo Gefangene während des Zweiten Weltkrieges untergebracht sind, darunter auch Juden, die aus Deutschland flüchten konnten, sitzen am Abend des 29. Juni 1940 vier junge Männer beim Kartenspiel. Es ist kein gewöhnliches Spiel. In den letzten Tagen waren die Gefangenen zum Appell angetreten, und der Zufall beim Abzählen hatte entschieden, wer das Lager verlassen und sich einschiffen, auf eine Fahrt gehen musste, deren Ziele weit weg lagen, zum Beispiel in Neufundland, wo ein Arbeitseinsatz auf sie wartete. Nur wenige hatten sich freiwillig gemeldet. Die Gefangenen mussten auf der Insel nicht befürchten, von deutschen Flugzeugen angegriffen zu werden. Nun sollte man diesen Schutzraum verlassen und sich auf das Meer wagen, wo deutsche Unterseeboote warteten.
Die vier sitzen auf ihren Pritschen und rauchen, "der Blasse", "der mit der Narbe", "der Neue" und Hirschfelder. Der Neue soll am nächsten Tag das Lager verlassen und sucht nach einer Möglichkeit, bleiben zu können. Also legt er Geldbündel als Einsatz bereit. Die Karten werden gemischt. Die drei haben Hirschfelder hinzugezogen, ja regelrecht hineingezogen. Hirschfelder ist feige, fürchtet, dass die Mitgefangenen ihn, wenn er nicht mitspielt, schneiden und ihm das Leben im Lager nicht angenehmer machen werden. Die vier sind sich einig, dass sich morgen unter der Identität des Neuen zum Abmarsch melden solle, wer verliert. Hirschfelder merkt zu spät, dass die drei gegen ihn zusammenhalten.
Schon am 2. Juli 1940 befindet er sich an Bord der S. S. Arandora Spar, die Kurs auf Neufundland nimmt. Vor der irischen Küste wird das Schiff von einem Unterseeboot torpediert und sinkt. Ein kanadischer Zerstörer trifft bei den im Meer trudelnden Rettungsbooten ein. Doch die Hälfte der rund eintausendsiebenhundert Menschen an Bord ertrinkt. Hirschfelder ist unter den Opfern.
Der andere Mann, der Neue aus dem Lager, an dessen Stelle Hirschfelder die Reise antritt, lebt unter dessen Namen weiter. Das kommt erst Jahrzehnte später bei Recherchen ans Tageslicht. Der echte Hirschfelder war achtzehn Jahre alt gewesen, als er, ein Jude aus Österreich, ins englische Exil ging. Er hatte mit seinen Eltern in Wien gelebt, mit seiner Mutter und deren Mann, der nicht sein leiblicher Vater war. Als die Mutter mit ihm schwanger gewesen war, hatte einer, der Jude war, sie vor der damaligen Schande bewahrt und sie kurz vor der Geburt des Kindes geheiratet. Seinen leiblichen Vater kannte Hirschfelder nicht. Er hörte nur, dass er ein Zuhälter und von der ersten Stunde an in der Partei gewesen sei. In England wohnte der junge Hirschfelder in der Familie eines Richters. Dort verliebte er sich in die Haushaltsgehilfin Clara, ebenfalls eine geflohene Jüdin. Am 17. Mai 1940 wurde er, weil er aus Feindesland kam und als ein Sicherheitsrisiko eingestuft wurde, interniert.
Man kann eine Geschichte erzählen, und diese Geschichte kann einen bewegen und anrühren, wenn man in sie hineingezogen wird, wenn man zum Begleiter eines Schicksals wird und wenn man von diesem Schicksal eine lebendige Vorstellung bekommt, weil der Erzähler oder die Figuren ein Leben haben. Das aber wird man nicht erwarten dürfen, wenn man eine Geschichte von Norbert Gstrein aufschlägt. Seine Figuren lassen einen auf seltsame Weise kalt. Sogar Jakob aus der Erzählung "Einer" konnte einen nur interessieren, aber nicht wirklich bewegen. Norbert Gstrein möchte nicht durch Schicksale wirken. Wirkung allein soll die Erzählweise entfalten, der Stil. Das ist ihm in den "Englischen Jahren" außerordentlich gut geglückt. Das Sujet kommt ihm dabei entgegen, die Suche nach einem Mann, dessen Identität sich beim vorsichtigen Herantasten auflöst, eine Recherche, auf die Aussagen von anderen angewiesen, die aus dem Nebel der Erinnerungen auftauchen.
Der neue, der falsche Hirschfelder meldet sich, nachdem er freigelassen worden ist, zu einem Pioniercorps. Er stammt aus dem Salzkammergut. Dort betrieben seine Eltern eine Gastwirtschaft an einem See. Eines Tages war ein Dozent mit seiner Tochter im Gasthaus aufgetaucht, die man aus glücklicheren Tagen kannte, hatten die beiden Juden doch oft im Sommer hier einige Tage verbracht. Sie baten die Gastwirte um Unterschlupf. Der Vater bemühte sich in Wien um Ausreisepapiere. Eines Tages aber kehrte er nicht mehr an den See zurück. Man konnte ahnen, was mit ihm geschehen war. Die Tochter sei dann von der Dorfpolizei abgeholt worden. So erzählte es der Neue, wenn er Hirschfelder im Lager das Bild des jüdischen Mädchens zeigte. Später, nach den Recherchen, stellt sich heraus, daß das jüdische Mädchen krank im Zimmer gelegen hatte, dass die Familie und vor allem er selbst, der Neue und spätere falsche Hirschfelder, zu feige gewesen war, einen Arzt zu holen, und dass das Mädchen gestorben und drei Tage tot im Bett gelegen war, bis die gastfreundliche Familie sie zum See hinuntergeschleppt und dort liegen gelassen hatte. Die Eltern hatten daraufhin den Jungen bedrängt, er solle, warum nicht, nach England gehen, um dort zu vergessen, was hier geschehen war.
Dort hatte der neue, der falsche Hirschfelder, dessen wahrer Name Harrassar war, wie man im Zuge der Recherchen herausfindet, den alten, echten Hirschfelder getroffen. Beide müssen fast gleichen Alters gewesen sein. Der neue Hirschfelder lebte nach seinem Lageraufenthalt zurückgezogen in England. Vor seiner Internierung hatte er eine Frau mit Namen Catherine kennengelernt, doch das war nur eine kurze, wenn auch leidenschaftliche Begegnung gewesen, der Briefe folgten und Jahre später, als sie schon verheiratet war und eine Tochter hatte, regelmäßige Besuche.
Nach seiner Freilassung trifft Hirschfelder eine Frau mit Namen Madeleine, und die beiden bleiben zusammen, auch wenn das Zusammenleben mit Hirschfelder, der sich jeden Tag für Stunden in ein Zimmer im recht heruntergekommenen Palace Hotel zum Schreiben zurückzieht, alles andere als einfach ist. Hirschfelder veröffentlicht in den Nachkriegsjahren ein einziges Buch, aber dieses Buch macht ihn berühmt. Er trägt sich über dreißig Jahre lang mit dem Gedanken, sein Leben aufzuschreiben, ja er versteift sich darauf und erklärt, die Zeit für erfundene Geschichten sei vorbei, er müsse erzählen, wie es gewesen sei. Von diesem Manuskript, wenn es denn eines gegeben hat, existiert kein einziges Blatt mehr. Er habe aber, so berichtet seine Frau nach dem Tod Hirschfelders, immer davon gesprochen und es "Die englischen Jahre" genannt.
Das alles erfährt Margaret bei ihrer Recherche, die sie zu den drei Frauen Hirschfelders führte. Keine der drei Frauen, mit denen Hirschfelder, ob kurz oder lang zusammen gewesen war, hatte gewusst, dass dieser Mann sich seinen Namen nur zugelegt hatte und sich die Biographie der ersten Jahrzehnte von einem anderen geliehen hatte. Margaret hatte von Hirschfelder zum erstenmal durch ihren Mann Max gehört, der ebenfalls ein Schriftsteller war, Hirschfelder bewunderte und seinem Leben nachspürte. Max gab seine Suche nach Hirschfelder schließlich auf, weil man ihm lauthals vorwarf, er wüsste doch nicht, was es hieß, als Jude im Exil zu leben. Er solle lieber bei seinen Dorfgeschichten bleiben als sich mit Schicksalen zu beschäftigen, von denen er keine Ahnung habe.
Erst am Ende der Recherche, als ihm Margaret erzählt, was sie herausgefunden hat, und ihm damit die Geschichte von Hirschfelder wieder zurückgibt, weil es ja im Grunde seine Geschichte sei, erst da hat Max sich wieder mit dem Gedanken befreunden können, über Hirschfelder zu schreiben, keine Hommage, sondern einen Roman, wenn auch nicht unter seinem Namen, weil er immer noch die Vorwürfe im Ohr hat, die ihn damals trafen. Ob er dieses Buch über Hirschfelder schreiben werde, dessen ist sich Margaret, als sie sich von ihm verabschiedet, nicht sicher, sei doch Max "ein unzuverlässiger Zeitgenosse".
Acht Kapitel hat der Roman, vier tragen den Namen der erzählenden, der sich erinnernden, der mit Hirschfelder verbundenen Frauen im Titel, Margaret, Catherine, Clara, Madeleine. Die anderen vier Kapitel sind Teile einer Biographie Hirschfelders, keine Tagebucheintragungen aus der Hand Hirschfelders, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, denn hier schreibt kein "Ich", sondern es wird von einem "Du" berichtet, und die letzte biographische Geschichte erzählt sogar vom Tod Hirschfelders im Meer.
Unbestimmt und diffus flackert Hirschfelders Leben und seine Identität aus den Berichten und Gesprächen auf, und was den Leser hineinzieht, ist ein erzählerischer Sog, ein Blinde-Kuh-Spiel, ein Tasten mit den Händen bei verbundenen Augen, das man nicht aufgeben möchte, bevor man erspürt hat, wen man vor sich hat oder was. Es ist mehr als Handwerk, mehr als Talent, so schicksalsfern erzählen zu können. Hier hat ein Schriftsteller bewiesen, wie man schreiben kann, wenn man nicht mehr alles auf eine Karte, auf das Erleben setzt. Hier hat sich einer, weil er sich ganz der Erzählweise anvertraute, aus dem Dilemma der Geschichte gezogen, entweder aus sich selbst heraus, aus der eigenen wahren Empfindung zu erzählen, oder aus dem unwahren Hineinempfinden in einen anderen. Norbert Gstrein hat mit diesem Roman bravourös gezeigt, dass man noch eine Geschichte erzählen kann. Man kann es, wenn man dem eigenen Erzählen gewachsen ist und nicht einem fremden, angemaßten Schicksal unterliegt.
Norbert Gstrein: "Die englischen Jahre". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 389 S., geb., 39,80 DM.
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