Birgit ist zu Kaspar in den Westen geflohen, für die Liebe und die Freiheit. Erst nach ihrem Tod entdeckt er, welchen Preis sie dafür bezahlt hat. Er spürt ihrem Geheimnis nach, begegnet im Osten den Menschen, die für sie zählten, erlebt ihre Bedrückung und ihren Eigensinn. Seine Suche führt ihn zu einer völkischen Gemeinschaft auf dem Land - und zu einem jungen Mädchen, das in ihm den Großvater und in dem er die Enkelin sieht. Ihre Welten könnten nicht fremder sein. Er ringt um sie.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Dorothea Westphal ist von Bernhard Schlinks neuem Roman "Die Enkelin" nicht ganz überzeugt. Der Autor erzählt darin vom siebzigjährigen Buchhändler Kaspar, der erst nach dem überraschenden Tod seiner depressiven und alkoholabhängigen Frau von ihren Geheimnissen erfährt, darunter das schwerwiegendste, dass sie vor ihrer Flucht aus der DDR mit einem dortigen Funktionär ein Kind bekommen hat, der mittlerweile ziemlich rechten Svenja, deren 14-jährige Tochter Sigrun gegen Geld über die Ferien dem Protagonisten als Enkelin überlassen wird, wie Westphal erklärt. Die Dialoge zwischen Kaspar und Sigrun empfindet die Rezensentin als steif, die Figuren wirken ihr zufolge dadurch eher unauthentisch, auch wenn die Beschreibungen des rechten Milieus sie durchaus interessieren. Am Ende ist Westphal in ihrer Beurteilung des Buches hin- und hergerissen. Immerhin sind die beschriebenen Konfliktlösungen und Antriebe nicht allzu naiv, schließt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.2021Musikalisch gegen völkisch
Deutschland-Didaktik: Bernhard Schlinks neuer Roman "Die Enkelin" sucht nach den Verlorenen in Ost und West.
Als der Buchhändler Kaspar Wettner an diesem Abend nach Hause in die schöne Berliner Jugendstilwohnung kommt, ist zunächst alles wie erwartet: Die Einkäufe seiner Frau Birgit stehen unausgepackt im Flur, Schuhe und Mantel liegen wüst herum, in der Küche stapelt sich das gebrauchte Geschirr, im Wohnzimmer ist eine Vase umgefallen und auch ein Glas Rotwein: "Er würde alles aufwischen und abwaschen und aufräumen." So wie immer.
Doch der Abend stellt sich als dramatischer Einschnitt in Wettners Leben heraus. Denn auf der Suche nach Birgit kommt er schließlich ins Bad, wo sie ertrunken in der Wanne liegt. Ob es ein Unfall im Rausch war oder Selbstmord, ist zunächst nicht klar. Notarzt und Polizei wissen nicht, was sie von dem äußerlich gefassten Wettner halten sollen, aber immerhin hat der Buchhändler durch seine Beschäftigung im Laden ein Alibi. Und nach dem ersten Schock macht er sich daran, die Hinterlassenschaften seiner Frau durchzugehen - durchaus auch im Bewusstsein, trotz langer Ehejahre manche Seiten Birgits kaum zu kennen.
"Die Enkelin", der neue Roman des Juristen und Bestsellerautors Bernhard Schlink, beginnt ganz klassisch als Eheroman, in dem das Verschwinden des einen Protagonisten den anderen dazu motiviert, eine Bilanz der aufgehobenen Gemeinschaft zu ziehen. Dabei wird die Eingangsszene zum Ausgangspunkt einer langen Erzählung aus Wettners Perspektive, die das Kennenlernen der beiden etwa Zwanzigjährigen 1964 in Ostberlin schildert - er ist Westberliner Student, sie trägt das blaue Hemd der FDJ und diskutiert auf dem Bebelplatz mit den RCDS-Mitgliedern von jenseits der Mauer. Sie freunden sich an, verlieben sich, und irgendwann überrascht Kaspar Birgit damit, um ihretwillen in die DDR übersiedeln zu wollen. Damit ist sie nicht einverstanden; am Ende beschließen sie, dass Birgit mit Kaspars Hilfe über Prag und Wien nach Westberlin fliehen wird.
So weit Kaspars Erinnerung aus der Perspektive von ungefähr 2015; die Romanhandlung wird sich dann noch über etwa drei weitere Jahre erstrecken, bis der Buchhändler, der mit dem Autor Schlink das Geburtsjahr 1944 teilt, Mitte siebzig ist. Die Ausgangslage ist also klar, wenigstens was denjenigen betrifft, der nun die für ihn noch unzugänglichen Seiten der Verstorbenen ergründen muss. Praktischerweise hatte sich Birgit, die mit ihm die Buchhandlung geführt und das dann plötzlich nicht mehr gewollt hatte, nach Stationen als Sannyasin in Indien, als Goldschmiedin und Köchin nun als Autorin verstanden. In ihrer Schreibstube findet Kaspar einen Computer, dem er mithilfe eines IT-Spezialisten unter anderem ein Romanmanuskript entnimmt.
Es verdankt sich offenbar der Frage, die Birgit an sich selbst richtet: Was, wenn sie damals im Osten geblieben wäre? Es folgt die flüssige und strukturierte Geschichte einer ersten Liebe zu einem verheirateten Funktionär, eine heimliche Schwangerschaft und die folgende Geburt, die Flucht, die erste Zeit in Westberlin mit Kaspar, ihre Unruhe und schließlich der Vorsatz, nach ihrer Tochter Svenja zu forschen, die sie damals zurückgelassen hatte, ohne sie je richtig angeschaut zu haben.
Sprachlich unterscheiden sich diese beiden Rückblicke, Kaspars und Birgits, kaum voneinander. Eine sonderlich eigenständige Stimme bekommt Birgit nicht. Überhaupt scheint es mehr um Klarheit als um sprachliche Prägnanz zu gehen, und verbrauchte Bilder oder Redewendungen werden dabei nicht gescheut: Da lernt Kaspar Birgit "kennen und lieben", später fühlt er sich, als hätte sein "Leben den Boden verloren", und die schwangere Birgit kommentiert die Blicke der Männer mit den Worten: "Sie konnten die Augen nicht von mir lassen. Sie begehrten mich. Ich war das Leben."
Dass sie die verlorene Tochter, die bei der Wende 25 Jahre alt war, finden will, um sich dabei selbst zu finden, schreibt sie auch, nur dass sie sich bis zu ihrem Tod nicht dazu entschließen kann, einen Fuß auf das Gebiet der untergegangenen DDR zu setzen. Kaspar dagegen hegte schon vor der Begegnung mit Birgit ein ausgeprägtes Interesse am anderen Deutschland und an dem, was beide Teile verbindet, Sprache und Literatur allem voran.
"Die Enkelin" zielt unübersehbar darauf, in den privaten Schicksalen auch die Zeit der deutschen Teilung und die nach der Wiedervereinigung zu schildern und zugleich zu deuten - in Schlinks literarischem Werk ist das ein wesentliches Thema (F.A.Z. vom 22. Juli 2020). So wie Birgit alles ernst nimmt, "was ernst war", ist sie darin "ein Kind der DDR, der proletarischen Welt, die mit preußischem sozialistischen Eifer bürgerlich werden wollte und Kultur und Politik ernst nahm, wie das Bürgertum es einst getan und inzwischen verlernt hatte". Und Kaspar? Der kommt ausgerechnet während eines Besuchs auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof auf den Gedanken, Buchhändler zu werden, denn so wie in den Gräbern alle möglichen früheren Gegner nebeneinander liegen, so kommen auch deren Werke in den Regalen der Buchhandlungen zusammen, vermittelt von demjenigen, der dieses Geschäft führt.
Dass Kaspar, der professionelle Vermittler zwischen den Gegensätzen, als stummer, klagloser Aufräumer in den Roman eingeführt wird, ist kein Zufall, und in der Folge wird er nicht nur ungefragt die Arztpraxis eines Wildfremden nach der Sprechstunde in Ordnung bringen. Er sieht es als seine Aufgabe an, dasjenige zu vollenden, was Birgit in ihrer Schreibstube nicht einmal anfangen mochte. Unter ihren Hinterlassenschaften ist ein Exposé für den weiteren Verlauf ihres Romans - er sollte die Suche und am Ende die Begegnung zwischen Mutter und Tochter enthalten. Literarisch imaginieren wird er das nicht, aber mithilfe einiger Zufälle kommt er Birgits Tochter auf die Spur, die in einer völkischen Siedlung in Nordostdeutschland lebt. Er lernt Svenjas halbwüchsige Tochter Sigrun kennen und versucht beharrlich, ihrer völkischen Erziehung etwas anderes entgegenzusetzen, indem er sie zum Selbstdenken und zum Ausleben ihrer beachtlichen Musikalität ermutigt.
Dieses Emanzipationswerk nimmt etwa die zweite Hälfte des knapp vierhundertseitigen Romans ein, und spätestens hier bekommt der Text Schlagseite ins Didaktische. Die Dialoge zwischen der von ihrer Familie geprägten Sigrun und Kaspar, der auf die horizonterweiternde Kraft der Kultur und des Gesprächs vertraut, wirken in sprachlich recht homogener Rede und Gegenrede ganz so, als sollte hier nicht nur Sigrun überzeugt werden, sondern als könnte auch eine Schulklasse im Unterricht von der Lektüre profitieren. Etwa von der eineinhalb Druckseiten langen Ansprache Kaspars, in der er Sigrun den Kopf zurechtrückt: "Niemand holt Ostpreußen und Schlesien zurück. Deutschland wird nicht größer, aber es ist nicht zu klein und platzt auch mit den Ausländern nicht aus allen Nähten. Und sie werden gebraucht, wer sonst will noch Spargel stechen und Wein lesen und Schweine schlachten?"
Seine Stärken hat der Roman dagegen in der Abbildung familiärer Strukturen, in seiner Suche nach den Ursachen für Brüche in den Lebensläufen, die er nicht selten in der spezifischen Kommunikation der Generationen untereinander findet. Und so verweist er am Ende wieder zurück auf den Anfang, wenn nach der Mühe, die Kaspar an seine Stiefenkelin wendet, naturgemäß die Frage aufkommt, warum er mit all seinem Hinterherputzen und Kümmern der eigenen Frau nicht helfen konnte, warum sich das Paar immer weiter voneinander entfernte. Dass Schlink diese Frage nun offenlässt, wird man ihm hoch anrechnen. TILMAN SPRECKELSEN
Bernhard Schlink: "Die Enkelin". Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2021. 368 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutschland-Didaktik: Bernhard Schlinks neuer Roman "Die Enkelin" sucht nach den Verlorenen in Ost und West.
Als der Buchhändler Kaspar Wettner an diesem Abend nach Hause in die schöne Berliner Jugendstilwohnung kommt, ist zunächst alles wie erwartet: Die Einkäufe seiner Frau Birgit stehen unausgepackt im Flur, Schuhe und Mantel liegen wüst herum, in der Küche stapelt sich das gebrauchte Geschirr, im Wohnzimmer ist eine Vase umgefallen und auch ein Glas Rotwein: "Er würde alles aufwischen und abwaschen und aufräumen." So wie immer.
Doch der Abend stellt sich als dramatischer Einschnitt in Wettners Leben heraus. Denn auf der Suche nach Birgit kommt er schließlich ins Bad, wo sie ertrunken in der Wanne liegt. Ob es ein Unfall im Rausch war oder Selbstmord, ist zunächst nicht klar. Notarzt und Polizei wissen nicht, was sie von dem äußerlich gefassten Wettner halten sollen, aber immerhin hat der Buchhändler durch seine Beschäftigung im Laden ein Alibi. Und nach dem ersten Schock macht er sich daran, die Hinterlassenschaften seiner Frau durchzugehen - durchaus auch im Bewusstsein, trotz langer Ehejahre manche Seiten Birgits kaum zu kennen.
"Die Enkelin", der neue Roman des Juristen und Bestsellerautors Bernhard Schlink, beginnt ganz klassisch als Eheroman, in dem das Verschwinden des einen Protagonisten den anderen dazu motiviert, eine Bilanz der aufgehobenen Gemeinschaft zu ziehen. Dabei wird die Eingangsszene zum Ausgangspunkt einer langen Erzählung aus Wettners Perspektive, die das Kennenlernen der beiden etwa Zwanzigjährigen 1964 in Ostberlin schildert - er ist Westberliner Student, sie trägt das blaue Hemd der FDJ und diskutiert auf dem Bebelplatz mit den RCDS-Mitgliedern von jenseits der Mauer. Sie freunden sich an, verlieben sich, und irgendwann überrascht Kaspar Birgit damit, um ihretwillen in die DDR übersiedeln zu wollen. Damit ist sie nicht einverstanden; am Ende beschließen sie, dass Birgit mit Kaspars Hilfe über Prag und Wien nach Westberlin fliehen wird.
So weit Kaspars Erinnerung aus der Perspektive von ungefähr 2015; die Romanhandlung wird sich dann noch über etwa drei weitere Jahre erstrecken, bis der Buchhändler, der mit dem Autor Schlink das Geburtsjahr 1944 teilt, Mitte siebzig ist. Die Ausgangslage ist also klar, wenigstens was denjenigen betrifft, der nun die für ihn noch unzugänglichen Seiten der Verstorbenen ergründen muss. Praktischerweise hatte sich Birgit, die mit ihm die Buchhandlung geführt und das dann plötzlich nicht mehr gewollt hatte, nach Stationen als Sannyasin in Indien, als Goldschmiedin und Köchin nun als Autorin verstanden. In ihrer Schreibstube findet Kaspar einen Computer, dem er mithilfe eines IT-Spezialisten unter anderem ein Romanmanuskript entnimmt.
Es verdankt sich offenbar der Frage, die Birgit an sich selbst richtet: Was, wenn sie damals im Osten geblieben wäre? Es folgt die flüssige und strukturierte Geschichte einer ersten Liebe zu einem verheirateten Funktionär, eine heimliche Schwangerschaft und die folgende Geburt, die Flucht, die erste Zeit in Westberlin mit Kaspar, ihre Unruhe und schließlich der Vorsatz, nach ihrer Tochter Svenja zu forschen, die sie damals zurückgelassen hatte, ohne sie je richtig angeschaut zu haben.
Sprachlich unterscheiden sich diese beiden Rückblicke, Kaspars und Birgits, kaum voneinander. Eine sonderlich eigenständige Stimme bekommt Birgit nicht. Überhaupt scheint es mehr um Klarheit als um sprachliche Prägnanz zu gehen, und verbrauchte Bilder oder Redewendungen werden dabei nicht gescheut: Da lernt Kaspar Birgit "kennen und lieben", später fühlt er sich, als hätte sein "Leben den Boden verloren", und die schwangere Birgit kommentiert die Blicke der Männer mit den Worten: "Sie konnten die Augen nicht von mir lassen. Sie begehrten mich. Ich war das Leben."
Dass sie die verlorene Tochter, die bei der Wende 25 Jahre alt war, finden will, um sich dabei selbst zu finden, schreibt sie auch, nur dass sie sich bis zu ihrem Tod nicht dazu entschließen kann, einen Fuß auf das Gebiet der untergegangenen DDR zu setzen. Kaspar dagegen hegte schon vor der Begegnung mit Birgit ein ausgeprägtes Interesse am anderen Deutschland und an dem, was beide Teile verbindet, Sprache und Literatur allem voran.
"Die Enkelin" zielt unübersehbar darauf, in den privaten Schicksalen auch die Zeit der deutschen Teilung und die nach der Wiedervereinigung zu schildern und zugleich zu deuten - in Schlinks literarischem Werk ist das ein wesentliches Thema (F.A.Z. vom 22. Juli 2020). So wie Birgit alles ernst nimmt, "was ernst war", ist sie darin "ein Kind der DDR, der proletarischen Welt, die mit preußischem sozialistischen Eifer bürgerlich werden wollte und Kultur und Politik ernst nahm, wie das Bürgertum es einst getan und inzwischen verlernt hatte". Und Kaspar? Der kommt ausgerechnet während eines Besuchs auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof auf den Gedanken, Buchhändler zu werden, denn so wie in den Gräbern alle möglichen früheren Gegner nebeneinander liegen, so kommen auch deren Werke in den Regalen der Buchhandlungen zusammen, vermittelt von demjenigen, der dieses Geschäft führt.
Dass Kaspar, der professionelle Vermittler zwischen den Gegensätzen, als stummer, klagloser Aufräumer in den Roman eingeführt wird, ist kein Zufall, und in der Folge wird er nicht nur ungefragt die Arztpraxis eines Wildfremden nach der Sprechstunde in Ordnung bringen. Er sieht es als seine Aufgabe an, dasjenige zu vollenden, was Birgit in ihrer Schreibstube nicht einmal anfangen mochte. Unter ihren Hinterlassenschaften ist ein Exposé für den weiteren Verlauf ihres Romans - er sollte die Suche und am Ende die Begegnung zwischen Mutter und Tochter enthalten. Literarisch imaginieren wird er das nicht, aber mithilfe einiger Zufälle kommt er Birgits Tochter auf die Spur, die in einer völkischen Siedlung in Nordostdeutschland lebt. Er lernt Svenjas halbwüchsige Tochter Sigrun kennen und versucht beharrlich, ihrer völkischen Erziehung etwas anderes entgegenzusetzen, indem er sie zum Selbstdenken und zum Ausleben ihrer beachtlichen Musikalität ermutigt.
Dieses Emanzipationswerk nimmt etwa die zweite Hälfte des knapp vierhundertseitigen Romans ein, und spätestens hier bekommt der Text Schlagseite ins Didaktische. Die Dialoge zwischen der von ihrer Familie geprägten Sigrun und Kaspar, der auf die horizonterweiternde Kraft der Kultur und des Gesprächs vertraut, wirken in sprachlich recht homogener Rede und Gegenrede ganz so, als sollte hier nicht nur Sigrun überzeugt werden, sondern als könnte auch eine Schulklasse im Unterricht von der Lektüre profitieren. Etwa von der eineinhalb Druckseiten langen Ansprache Kaspars, in der er Sigrun den Kopf zurechtrückt: "Niemand holt Ostpreußen und Schlesien zurück. Deutschland wird nicht größer, aber es ist nicht zu klein und platzt auch mit den Ausländern nicht aus allen Nähten. Und sie werden gebraucht, wer sonst will noch Spargel stechen und Wein lesen und Schweine schlachten?"
Seine Stärken hat der Roman dagegen in der Abbildung familiärer Strukturen, in seiner Suche nach den Ursachen für Brüche in den Lebensläufen, die er nicht selten in der spezifischen Kommunikation der Generationen untereinander findet. Und so verweist er am Ende wieder zurück auf den Anfang, wenn nach der Mühe, die Kaspar an seine Stiefenkelin wendet, naturgemäß die Frage aufkommt, warum er mit all seinem Hinterherputzen und Kümmern der eigenen Frau nicht helfen konnte, warum sich das Paar immer weiter voneinander entfernte. Dass Schlink diese Frage nun offenlässt, wird man ihm hoch anrechnen. TILMAN SPRECKELSEN
Bernhard Schlink: "Die Enkelin". Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2021. 368 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.11.2021Maßlose
Toleranz
Eine West-Ost-Liebesgeschichte und
die Suche nach einer Familie, die es nie gab:
Bernhard Schlinks neuer Roman
„Die Enkelin“ führt ins Milieu völkischer Siedler
VON CHRISTIAN MAYER
Für einen kurzen Moment scheint alles möglich zu sein, damals im Mai 1964. Es sind heitere Frühlingstage beim Deutschlandtreffen der Jugend in Ost-Berlin, weil die Veranstaltung zwar gewohnt straff von der FDJ organisiert ist, aber eben doch einige Freiräume bietet, die man mit etwas Kreativität nutzen kann. Um Frieden und Völkerfreundschaft soll es gehen, um die Strahlkraft des Sozialismus, deshalb kommen auch viele junge Besucher aus dem Westen. Noch heute blickt man etwas ungläubig auf die Fotos, die an jenem Pfingstsonntag vor dem Berliner Café Warschau in der Karl-Marx-Allee oder auf dem Alexanderplatz entstanden – Bilder von Tänzern aus zwei deutschen Staaten, die einen gemeinsamen Rhythmus gefunden haben, von Musikern, die mit ihrer Gitarrenmusik den Beatles nacheifern, von Liebespaaren, die Grenzen und Barrieren überwinden wollen.
Natürlich war das eine Illusion. Die SED-Führung zog schon bald darauf wieder die Zügel an, setzte erneut auf Repression und unterdrückte jede Form einer wirklich freien Meinungsäußerung. Die Anhänger der „Gitarrenbewegung“ waren bald ebenso verdächtig wie die kritischen Filmemacher und die aufmüpfigen Schriftsteller – das war das Ende vom Beat.
Bernhard Schlink erzählt in seinem neuem Roman „Die Enkelin“ von diesem kurzen Frühling der Unbeschwertheit. Der Geschichtsstudent Kaspar ist einer der Besucher von drüben, die während des Deutschlandtreffens die DDR mit eigenen Augen erleben wollen. Vor der Humboldt-Universität trifft er auf Birgit, die von ihrem FDJ-Sekretär Instruktionen bekommen hat, wie man mit Westdeutschen diskutiert. Aber Politik spielt bald keine Rolle mehr, Birgit und Kaspar ziehen in diesem Mai 1964, als alle den Radiosender DT 64 hören und von kleinen Freiheiten träumen, um die Häuser. Bald werden sie ein Paar sein, denn die eloquente Birgit hält nichts mehr in der DDR, sie flüchtet über Prag und Wien in die Bundesrepublik, zum etwas unbeholfenen, aber liebevollen Kaspar, der so schön Gedichte der deutschen Romantik zitieren kann.
Eine Liebesgeschichte ist das aber nicht, sondern wie so oft bei Schlink eine Erzählung über die destruktive Macht der Lebenslügen und der Geheimnisse. Denn Birgit ist, als sie sich in Kaspar verliebt, schwanger von einem anderen Mann, einem SED-Funktionär. Birgit fängt an, diese Affäre samt der Folgen zu verdrängen, auch Kaspar erfährt davon nie etwas. Während eines Sommerurlaubs an der Ostsee bekommt sie das ungewollte Kind, sie wähnt sich sicher, dass ihre beste Freundin das Baby im Waisenhaus abgegeben hat.
Schlink erzählt das ganze Drama aus der Rückschau. Im Berlin der Gegenwart ist aus Birgit und Kaspar eines dieser kinderlosen, kultivierten Paare geworden, bei denen man nie so ganz weiß, wann sie das Lachen verlernt haben. Während Kaspar seit Jahrzehnten in seinem Buchladen Erfüllung findet, hat sich Birgit, die heimlich Gedichte schreibt, weiter eingekapselt. Es fällt ihr immer schwerer, ihre Alkoholsucht zu überspielen. Eines Abends findet Kaspar seine Frau ertrunken in der Badewanne. Ein Unfall?
Seit seinem Welterfolg mit „Der Vorleser“ haben die Bestseller des 1944 geborenen Schlink immer eine historische Komponente und oft etwas leicht Didaktisches; seine Bücher handeln von den Katastrophen der neueren deutschen Geschichte vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Auch „Die Enkelin“ zeigt die Zerrissenheit der Menschen, die sich weder im Osten noch im Westen Deutschlands heimisch fühlen. Doch in diesem Buch gibt es zugleich eine sehr präsente Erzählerfigur, die Gemeinsamkeiten mit dem Autor aufweist: Auch Schlink diskutierte 1964 beim Jugendtreffen in Ost-Berlin mit. Er verhalf einer jungen Frau, in die er sich verliebt hatte, sogar mit gefälschten Papieren zur Flucht aus der DDR. Weil man diese Unmittelbarkeit der persönlichen Erfahrung gut nachvollziehen kann, entwickelt der Roman hier große Sogwirkung.
Nach Birgits Tod findet Kaspar auf der Festplatte ihres Computers ein Manuskript – der Beginn einer Autobiografie. In diesem Text liest er erstmals von Birgits Tochter, die kurz nach dem Pfingsttreffen zur Welt kam, er erfährt auch sonst einiges über ihre Fluchten und ihr Unvermögen, sich endlich auf die Suche nach ihrem Kind zu machen. Und auf einmal hat Kaspars Leben wieder einen Sinn. Der von Trauer und Ohnmacht betäubte Witwer will das schaffen, woran seine Frau gescheitert ist: noch einmal in die Vergangenheit eintauchen und die richtige Abzweigung nehmen.
Schlink schickt seinen Kaspar übers Land, in die mecklenburgische Provinz, zu den völkischen Siedlern, wo er die verlorene Tochter schließlich ausfindig macht. Svenja ist bei ihrem leiblichen Vater aufgewachsen, verbrachte ihre schlimmste Zeit im berüchtigten Jugendwerkhof Torgau, wo die Insassen gezielt gebrochen wurden, und landete dann auf der Straße. Nun führt sie mit ihrem Mann und ihrer 14-jährigen Tochter Sigrun ein Leben in einer Parallelwelt jenseits der bürgerlichen Gesellschaft.
Wie Kaspar diese unverhoffte Enkelin umwirbt, wie er sie befreien will aus dem dumpfen, fremdenfeindlichen Milieu: Darum geht es im zweiten Teil des Buches, das die Schwierigkeiten beschreibt, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die in ihrem Weltbild gefangen sind. Schlink hat erkennbar viel recherchiert über die Rechtsradikalen auf ihren abgeschotteten Höfen und die sich autark fühlenden Blut-und-Boden-Gemeinschaften. Aber letztlich scheitert auch er mit dem Versuch, halbwegs plausible Szenefiguren jenseits aller Thor-Steinar-Klischees zu entwerfen. Es geht ihm da nicht anders als Juli Zeh, die in ihrem Bestseller „Unter Menschen“ von der Begegnung einer Berliner Werbetexterin mit einem Neonazi-Nachbarn erzählt, der mindestens genauso nah am Wasser wie am Bier gebaut ist und am Ende nicht von Gutmenschen, sondern von einer tödlichen Krankheit niedergerungen wird.
Im Grunde zeigt sich Schlink in seinem neuen Buch als Romantiker alter Schule: Kaspar versucht die Enkelin mit seinem ganzen Bildungs- und Erfahrungsschatz, vor allem mit klassischer Musik, an sich zu binden. Es hat schon etwas Berührendes, wie er sie, als sie ihn endlich in Berlin besucht, jeden Abend mit einer anderen Komposition in den Schlaf wiegt. Er wolle sich ihr „anbieten“, heißt es im Roman, genauso wie sich die verstorbene Birgit ihrer Tochter „anbieten“ wollte. Diese Demutshaltung passt zu der von Schlink bewusst ambivalent gehaltenen Figur: Kaspar will ganz viel geben, aber nie genau hinschauen. Weil er fürchtet, dann alles zu verlieren. Aber ist jemand, der beim Dorffest der Möchtegern-Germanen die guten alten Volkslieder mitsingt und die dumpfe Nazi-Rhetorik bewusst überhört, nicht prinzipienlos und feige? Eine Frage, die der Jurist und Autor Schlink nicht eindeutig beantwortet.
Kaspars maßlose Toleranz, alles verstehen, alles verzeihen zu wollen und nie eine Tür zuzuschlagen, steht prototypisch für die Haltung des linksliberalen Bürgertums, die manchmal mehr mit Ignoranz zu tun hat; man ahnt, dass hier auch ein Grund für Birgits Verzweiflung liegt. Weil ihr Mann nie den Mut hatte, aufs Ganze zu gehen und endlich die Wahrheit ans Licht zu bringen. Manche Menschen sind ja geradezu dankbar dafür, von der Last eines Geheimnisses befreit zu werden.
Kaspar weiß um seine größte Schwäche, er kämpft bewusst dagegen an. Er wäre gern ein mutigerer Mann. Doch letztlich kann er nicht aus seiner Haut. So wie der Romanautor Bernhard Schlink, Sohn eines protestantischen Theologen, der ganz fest daran glaubt, dass sich Menschen bessern können, wenn sie nur die Gelegenheit bekommen – mit Glaube, Liebe, Hoffnung.
Das Buch hat Probleme, die
auch Juli Zeh in „Unter
Menschen“ nicht lösen konnte
Verliert man alles,
wenn man zu
genau hinschaut?
Bernhard Schlink:
Die Enkelin. Roman. Diogenes, Zürich 2021. 368 Seiten, 25 Euro.
Kurzer Frühling: Beim Deutschlandtreffen der FDJ 1964 in Ost-Berlin tanzen Jugendliche aus Westdeutschland mit. Bald darauf zog die SED-Führung die Zügel an und die Angehörigen der „Gitarrenbewegung“ wurden verdächtig.
Foto: Klaus Rose/imago
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Toleranz
Eine West-Ost-Liebesgeschichte und
die Suche nach einer Familie, die es nie gab:
Bernhard Schlinks neuer Roman
„Die Enkelin“ führt ins Milieu völkischer Siedler
VON CHRISTIAN MAYER
Für einen kurzen Moment scheint alles möglich zu sein, damals im Mai 1964. Es sind heitere Frühlingstage beim Deutschlandtreffen der Jugend in Ost-Berlin, weil die Veranstaltung zwar gewohnt straff von der FDJ organisiert ist, aber eben doch einige Freiräume bietet, die man mit etwas Kreativität nutzen kann. Um Frieden und Völkerfreundschaft soll es gehen, um die Strahlkraft des Sozialismus, deshalb kommen auch viele junge Besucher aus dem Westen. Noch heute blickt man etwas ungläubig auf die Fotos, die an jenem Pfingstsonntag vor dem Berliner Café Warschau in der Karl-Marx-Allee oder auf dem Alexanderplatz entstanden – Bilder von Tänzern aus zwei deutschen Staaten, die einen gemeinsamen Rhythmus gefunden haben, von Musikern, die mit ihrer Gitarrenmusik den Beatles nacheifern, von Liebespaaren, die Grenzen und Barrieren überwinden wollen.
Natürlich war das eine Illusion. Die SED-Führung zog schon bald darauf wieder die Zügel an, setzte erneut auf Repression und unterdrückte jede Form einer wirklich freien Meinungsäußerung. Die Anhänger der „Gitarrenbewegung“ waren bald ebenso verdächtig wie die kritischen Filmemacher und die aufmüpfigen Schriftsteller – das war das Ende vom Beat.
Bernhard Schlink erzählt in seinem neuem Roman „Die Enkelin“ von diesem kurzen Frühling der Unbeschwertheit. Der Geschichtsstudent Kaspar ist einer der Besucher von drüben, die während des Deutschlandtreffens die DDR mit eigenen Augen erleben wollen. Vor der Humboldt-Universität trifft er auf Birgit, die von ihrem FDJ-Sekretär Instruktionen bekommen hat, wie man mit Westdeutschen diskutiert. Aber Politik spielt bald keine Rolle mehr, Birgit und Kaspar ziehen in diesem Mai 1964, als alle den Radiosender DT 64 hören und von kleinen Freiheiten träumen, um die Häuser. Bald werden sie ein Paar sein, denn die eloquente Birgit hält nichts mehr in der DDR, sie flüchtet über Prag und Wien in die Bundesrepublik, zum etwas unbeholfenen, aber liebevollen Kaspar, der so schön Gedichte der deutschen Romantik zitieren kann.
Eine Liebesgeschichte ist das aber nicht, sondern wie so oft bei Schlink eine Erzählung über die destruktive Macht der Lebenslügen und der Geheimnisse. Denn Birgit ist, als sie sich in Kaspar verliebt, schwanger von einem anderen Mann, einem SED-Funktionär. Birgit fängt an, diese Affäre samt der Folgen zu verdrängen, auch Kaspar erfährt davon nie etwas. Während eines Sommerurlaubs an der Ostsee bekommt sie das ungewollte Kind, sie wähnt sich sicher, dass ihre beste Freundin das Baby im Waisenhaus abgegeben hat.
Schlink erzählt das ganze Drama aus der Rückschau. Im Berlin der Gegenwart ist aus Birgit und Kaspar eines dieser kinderlosen, kultivierten Paare geworden, bei denen man nie so ganz weiß, wann sie das Lachen verlernt haben. Während Kaspar seit Jahrzehnten in seinem Buchladen Erfüllung findet, hat sich Birgit, die heimlich Gedichte schreibt, weiter eingekapselt. Es fällt ihr immer schwerer, ihre Alkoholsucht zu überspielen. Eines Abends findet Kaspar seine Frau ertrunken in der Badewanne. Ein Unfall?
Seit seinem Welterfolg mit „Der Vorleser“ haben die Bestseller des 1944 geborenen Schlink immer eine historische Komponente und oft etwas leicht Didaktisches; seine Bücher handeln von den Katastrophen der neueren deutschen Geschichte vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Auch „Die Enkelin“ zeigt die Zerrissenheit der Menschen, die sich weder im Osten noch im Westen Deutschlands heimisch fühlen. Doch in diesem Buch gibt es zugleich eine sehr präsente Erzählerfigur, die Gemeinsamkeiten mit dem Autor aufweist: Auch Schlink diskutierte 1964 beim Jugendtreffen in Ost-Berlin mit. Er verhalf einer jungen Frau, in die er sich verliebt hatte, sogar mit gefälschten Papieren zur Flucht aus der DDR. Weil man diese Unmittelbarkeit der persönlichen Erfahrung gut nachvollziehen kann, entwickelt der Roman hier große Sogwirkung.
Nach Birgits Tod findet Kaspar auf der Festplatte ihres Computers ein Manuskript – der Beginn einer Autobiografie. In diesem Text liest er erstmals von Birgits Tochter, die kurz nach dem Pfingsttreffen zur Welt kam, er erfährt auch sonst einiges über ihre Fluchten und ihr Unvermögen, sich endlich auf die Suche nach ihrem Kind zu machen. Und auf einmal hat Kaspars Leben wieder einen Sinn. Der von Trauer und Ohnmacht betäubte Witwer will das schaffen, woran seine Frau gescheitert ist: noch einmal in die Vergangenheit eintauchen und die richtige Abzweigung nehmen.
Schlink schickt seinen Kaspar übers Land, in die mecklenburgische Provinz, zu den völkischen Siedlern, wo er die verlorene Tochter schließlich ausfindig macht. Svenja ist bei ihrem leiblichen Vater aufgewachsen, verbrachte ihre schlimmste Zeit im berüchtigten Jugendwerkhof Torgau, wo die Insassen gezielt gebrochen wurden, und landete dann auf der Straße. Nun führt sie mit ihrem Mann und ihrer 14-jährigen Tochter Sigrun ein Leben in einer Parallelwelt jenseits der bürgerlichen Gesellschaft.
Wie Kaspar diese unverhoffte Enkelin umwirbt, wie er sie befreien will aus dem dumpfen, fremdenfeindlichen Milieu: Darum geht es im zweiten Teil des Buches, das die Schwierigkeiten beschreibt, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die in ihrem Weltbild gefangen sind. Schlink hat erkennbar viel recherchiert über die Rechtsradikalen auf ihren abgeschotteten Höfen und die sich autark fühlenden Blut-und-Boden-Gemeinschaften. Aber letztlich scheitert auch er mit dem Versuch, halbwegs plausible Szenefiguren jenseits aller Thor-Steinar-Klischees zu entwerfen. Es geht ihm da nicht anders als Juli Zeh, die in ihrem Bestseller „Unter Menschen“ von der Begegnung einer Berliner Werbetexterin mit einem Neonazi-Nachbarn erzählt, der mindestens genauso nah am Wasser wie am Bier gebaut ist und am Ende nicht von Gutmenschen, sondern von einer tödlichen Krankheit niedergerungen wird.
Im Grunde zeigt sich Schlink in seinem neuen Buch als Romantiker alter Schule: Kaspar versucht die Enkelin mit seinem ganzen Bildungs- und Erfahrungsschatz, vor allem mit klassischer Musik, an sich zu binden. Es hat schon etwas Berührendes, wie er sie, als sie ihn endlich in Berlin besucht, jeden Abend mit einer anderen Komposition in den Schlaf wiegt. Er wolle sich ihr „anbieten“, heißt es im Roman, genauso wie sich die verstorbene Birgit ihrer Tochter „anbieten“ wollte. Diese Demutshaltung passt zu der von Schlink bewusst ambivalent gehaltenen Figur: Kaspar will ganz viel geben, aber nie genau hinschauen. Weil er fürchtet, dann alles zu verlieren. Aber ist jemand, der beim Dorffest der Möchtegern-Germanen die guten alten Volkslieder mitsingt und die dumpfe Nazi-Rhetorik bewusst überhört, nicht prinzipienlos und feige? Eine Frage, die der Jurist und Autor Schlink nicht eindeutig beantwortet.
Kaspars maßlose Toleranz, alles verstehen, alles verzeihen zu wollen und nie eine Tür zuzuschlagen, steht prototypisch für die Haltung des linksliberalen Bürgertums, die manchmal mehr mit Ignoranz zu tun hat; man ahnt, dass hier auch ein Grund für Birgits Verzweiflung liegt. Weil ihr Mann nie den Mut hatte, aufs Ganze zu gehen und endlich die Wahrheit ans Licht zu bringen. Manche Menschen sind ja geradezu dankbar dafür, von der Last eines Geheimnisses befreit zu werden.
Kaspar weiß um seine größte Schwäche, er kämpft bewusst dagegen an. Er wäre gern ein mutigerer Mann. Doch letztlich kann er nicht aus seiner Haut. So wie der Romanautor Bernhard Schlink, Sohn eines protestantischen Theologen, der ganz fest daran glaubt, dass sich Menschen bessern können, wenn sie nur die Gelegenheit bekommen – mit Glaube, Liebe, Hoffnung.
Das Buch hat Probleme, die
auch Juli Zeh in „Unter
Menschen“ nicht lösen konnte
Verliert man alles,
wenn man zu
genau hinschaut?
Bernhard Schlink:
Die Enkelin. Roman. Diogenes, Zürich 2021. 368 Seiten, 25 Euro.
Kurzer Frühling: Beim Deutschlandtreffen der FDJ 1964 in Ost-Berlin tanzen Jugendliche aus Westdeutschland mit. Bald darauf zog die SED-Führung die Zügel an und die Angehörigen der „Gitarrenbewegung“ wurden verdächtig.
Foto: Klaus Rose/imago
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»Bernhard Schlink gehört zu den größten Begabungen der deutschen Gegenwartsliteratur. Er ist ein einfühlsamer, scharf beobachtender und überaus intelligenter Erzähler. Seine Prosa ist klar, präzise und von schöner Eleganz.« Michael Kluger / Frankfurter Neue Presse Frankfurter Neue Presse