Zwei Entdeckerteams hetzen sich und ihre Maulesel dem "Entlegensten Punkt der Welt" entgegen, im Wettlauf gegen die Kontrahenten und die Widrigkeiten der spröden Natur. Die wortkargen Männer um die Forscher Johns und Tostig, rauhbeinige Kerle allesamt, erweisen sich im Laufe der Expedition allerdings kaum als heroische Naturbezwinger. Es handelt sich vielmehr um jene verschrobenen bis mimosenhaften Typen des britischen Angestellten- und Arbeiterkosmos, wie sie bereits Mills' ersten Roman Die Herren der Zäune bevölkern. Wen scheren schon glorreiche Missionsziele, wenn Zeltnachbarn schnarchen und egozentrische Anführer den Feierabend in der Wildnis stören?
Was als handfeste Abenteuer- und Entdeckergeschichte beginnt, entpuppt sich Seite um Seite, spätestens, wenn die Maultiere zu sprechen beginnen, als eine ebenso groteske wie grandiose Überdrehung des Genres.Mit der ganzen Kraft des Lakonischen entfaltet Mills erneut ein tiefschwarzes "Männer unter sich"-Szenario und treibt seine herbe englische Komik ins Absurde. Am Ende lassen die Maultiere selbst die Gesetze der Schwerkraft hinter sich, aller Ballast des Realistischen schwindet, und die untergegangenen Entdeckerwelten des vorletzten Jahrhunderts funkeln im irrwitzigen Licht der Millsschen Erzählkunst.
Was als handfeste Abenteuer- und Entdeckergeschichte beginnt, entpuppt sich Seite um Seite, spätestens, wenn die Maultiere zu sprechen beginnen, als eine ebenso groteske wie grandiose Überdrehung des Genres.Mit der ganzen Kraft des Lakonischen entfaltet Mills erneut ein tiefschwarzes "Männer unter sich"-Szenario und treibt seine herbe englische Komik ins Absurde. Am Ende lassen die Maultiere selbst die Gesetze der Schwerkraft hinter sich, aller Ballast des Realistischen schwindet, und die untergegangenen Entdeckerwelten des vorletzten Jahrhunderts funkeln im irrwitzigen Licht der Millsschen Erzählkunst.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2008Und die Männer trugen die Eselin in einer Sänfte
Magnus Mills schickt eine Expedition ans Ende der Welt
Von Jochen Schimmang
Zuletzt hatte uns Magnus Mills in dem Roman "Ganze Arbeit" ein System der Vollbeschäftigung ausgemalt und anschließend höchst unterhaltsam ad absurdum geführt. Am Ende mussten die Helden der Arbeit begreifen, dass sie nicht mehr gebraucht wurden, eine Mitteilung, die übrigens von einer Frau unterzeichnet wurde. Frauen kommen in Mills' neuem Roman erst auf der vorletzten Seite vor. Man sieht sie kurz durchs Fenster einer Blockhütte, bekleidet nur mit einem Lendenschurz, wie sie sich hinter einem ebenso spärlich bekleideten Mann drängen. Es ist der letzte Moment im Leben dieses Mannes.
So weit zur Geschlechterverteilung. Vorher sind rauhe Männer unterwegs, in zwei Entdeckerteams auf ihrem Weg und Wettlauf zum ÄEP: zum Äußersten Erreichbaren Punkt der Welt. Die größere Gruppe wird von Johns angeführt, der offenbar Brite ist, was auch die Namen seiner Mannschaftsmitglieder belegen, die kleinere von Tostig, der eher aus dem skandinavischen Raum stammt. Es gibt noch ein paar weitere Parallelen zu Scotts und Amundsens Wettlauf zum Südpol. Die Entdecker sind äußerst unwirtlichen Bedingungen ausgesetzt, Teammitglieder gehen verloren oder kommen um, es gibt Verluste an Material und Tieren, in diesem Fall Maulesel (von denen noch zu sprechen sein wird). Doch wenn Magnus Mills einen Abenteuer- und Entdeckerroman schreibt, wird natürlich viel mehr daraus.
Auf jeden Fall, wie schon in den früheren Büchern, eine äußerst differenzierte und amüsante Schilderung zwischenmenschlicher, pardon: zwischenmännlicher Beziehungen. Mills' Männer sind mit ausgeprägten Eigenheiten ausgestattet; über jeden von ihnen ließe sich das englische Diktum prägen: "He's quite a character." Im Team - und zumal unter den Extrembedingungen einer Expedition - reiben sich solche Eigenheiten naturgemäß aneinander. Es geht etwa darum, ob man eine Zipfelmütze tragen darf oder gefälligst wie alle eine Wollmütze aufhaben sollte. Solche Streitpunkte werden aber meist nicht ausgesprochen, sondern ausagiert, indem man um den heißen Brei herumtanzt. Johns mag den Abweichler, ein leicht snobistisch (und misanthropisch) veranlagtes Mitglied des Teams namens Plover, nicht auf seine Zipfelmütze ansprechen, sondern delegiert das an seine rechte Hand Scagg, und Scagg wiederum antwortet auf die Frage, ob er Plover schon angesprochen habe, regelmäßig, er sei noch nicht dazu gekommen.
Um solche und ähnliche Fragen geht es also rein zwischenmännlich. Was aber ist der Zweck der Expedition? Erst nach und nach wird klar, dass es vor allem um die Maultiere geht und um die praktische Probe auf das Buch "Die Theorie der Verschickung" von Professor F. E. Childish. Der Äußerste Erreichbare Punkt wird angestrebt, um zu testen, ob man die Maultiere insgesamt in dieser entlegenen Landschaft ansiedeln kann. Denn Maultiere und Menschen können einfach nicht zusammen leben: Die Ersteren sind einfach anders. Expeditionsführer Johns erklärt es seinem Teammitglied Summerfield so: "Ich wäre der Erste, der die Hand dafür ins Feuer legt, dass der Großteil von ihnen ehrliche und harmlose Geschöpfe sind. Ihre angeborene Schwäche liegt vielmehr in allem, was ihnen fehlt: die Fähigkeit, rationale Urteile zu fällen, die Vorstellung von Eigentum, die Macht der Selbstdisziplin . . . Außerdem tun sie nichts Nützliches. Sie sind nicht für die Industrie zu gebrauchen. Sie machen keine Erfindungen." Da verschlägt es einem schon den Atem, wenn man an die Geschichte und Realität von "Umsiedlungen" in jüngerer Vergangenheit denkt.
Gut fünfzig Seiten später bringt es Summerfield in einer der sich zufällig ergebenden Theoriediskussionen auf den Punkt: "Geben wir es ruhig zu: Die Theorie hält einer genaueren Überprüfung kaum stand. Bei näherem Hinsehen entpuppt sie sich als eine Reihe von harten Maßnahmen, die von einem wohlmeinenden Professor ideologisch verschleiert worden sind. Ich meine, was erhofft sich die Gesellschaft eigentlich genau davon, alle Maultiere zusammenzutreiben und sie in die wildesten Gebiete der Erde zu verschiffen?" Dazu wird es auch nicht kommen, weil die Maultiere teilweise fliehen oder rebellieren und eines davon, Gribble mit Namen (doch noch eine Frau in diesem Roman!), gegen Ende immer klarere Bedingungen stellt und schließlich von den Entdeckern in einer Sänfte getragen wird. Denn wie bei Kafka ist es bei Mills völlig natürlich und überhaupt nicht albern, dass Tiere sprechen und vernunftbegabt argumentieren.
Magnus Mills glaubt man ohnehin alles, was er erzählt. Der "Daily Telegraph" urteilte einmal, er sei der "raffinierteste Vertreter des schwarzen britischen Humors". Schon recht. Mills ist aber inzwischen viel mehr: eine unverwechselbare Stimme und insofern kein Vertreter von irgendetwas. Das nächste Buch, bitte!
- Magnus Mills: "Die Entdecker des Jahrhunderts". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Böhmer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 195 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Magnus Mills schickt eine Expedition ans Ende der Welt
Von Jochen Schimmang
Zuletzt hatte uns Magnus Mills in dem Roman "Ganze Arbeit" ein System der Vollbeschäftigung ausgemalt und anschließend höchst unterhaltsam ad absurdum geführt. Am Ende mussten die Helden der Arbeit begreifen, dass sie nicht mehr gebraucht wurden, eine Mitteilung, die übrigens von einer Frau unterzeichnet wurde. Frauen kommen in Mills' neuem Roman erst auf der vorletzten Seite vor. Man sieht sie kurz durchs Fenster einer Blockhütte, bekleidet nur mit einem Lendenschurz, wie sie sich hinter einem ebenso spärlich bekleideten Mann drängen. Es ist der letzte Moment im Leben dieses Mannes.
So weit zur Geschlechterverteilung. Vorher sind rauhe Männer unterwegs, in zwei Entdeckerteams auf ihrem Weg und Wettlauf zum ÄEP: zum Äußersten Erreichbaren Punkt der Welt. Die größere Gruppe wird von Johns angeführt, der offenbar Brite ist, was auch die Namen seiner Mannschaftsmitglieder belegen, die kleinere von Tostig, der eher aus dem skandinavischen Raum stammt. Es gibt noch ein paar weitere Parallelen zu Scotts und Amundsens Wettlauf zum Südpol. Die Entdecker sind äußerst unwirtlichen Bedingungen ausgesetzt, Teammitglieder gehen verloren oder kommen um, es gibt Verluste an Material und Tieren, in diesem Fall Maulesel (von denen noch zu sprechen sein wird). Doch wenn Magnus Mills einen Abenteuer- und Entdeckerroman schreibt, wird natürlich viel mehr daraus.
Auf jeden Fall, wie schon in den früheren Büchern, eine äußerst differenzierte und amüsante Schilderung zwischenmenschlicher, pardon: zwischenmännlicher Beziehungen. Mills' Männer sind mit ausgeprägten Eigenheiten ausgestattet; über jeden von ihnen ließe sich das englische Diktum prägen: "He's quite a character." Im Team - und zumal unter den Extrembedingungen einer Expedition - reiben sich solche Eigenheiten naturgemäß aneinander. Es geht etwa darum, ob man eine Zipfelmütze tragen darf oder gefälligst wie alle eine Wollmütze aufhaben sollte. Solche Streitpunkte werden aber meist nicht ausgesprochen, sondern ausagiert, indem man um den heißen Brei herumtanzt. Johns mag den Abweichler, ein leicht snobistisch (und misanthropisch) veranlagtes Mitglied des Teams namens Plover, nicht auf seine Zipfelmütze ansprechen, sondern delegiert das an seine rechte Hand Scagg, und Scagg wiederum antwortet auf die Frage, ob er Plover schon angesprochen habe, regelmäßig, er sei noch nicht dazu gekommen.
Um solche und ähnliche Fragen geht es also rein zwischenmännlich. Was aber ist der Zweck der Expedition? Erst nach und nach wird klar, dass es vor allem um die Maultiere geht und um die praktische Probe auf das Buch "Die Theorie der Verschickung" von Professor F. E. Childish. Der Äußerste Erreichbare Punkt wird angestrebt, um zu testen, ob man die Maultiere insgesamt in dieser entlegenen Landschaft ansiedeln kann. Denn Maultiere und Menschen können einfach nicht zusammen leben: Die Ersteren sind einfach anders. Expeditionsführer Johns erklärt es seinem Teammitglied Summerfield so: "Ich wäre der Erste, der die Hand dafür ins Feuer legt, dass der Großteil von ihnen ehrliche und harmlose Geschöpfe sind. Ihre angeborene Schwäche liegt vielmehr in allem, was ihnen fehlt: die Fähigkeit, rationale Urteile zu fällen, die Vorstellung von Eigentum, die Macht der Selbstdisziplin . . . Außerdem tun sie nichts Nützliches. Sie sind nicht für die Industrie zu gebrauchen. Sie machen keine Erfindungen." Da verschlägt es einem schon den Atem, wenn man an die Geschichte und Realität von "Umsiedlungen" in jüngerer Vergangenheit denkt.
Gut fünfzig Seiten später bringt es Summerfield in einer der sich zufällig ergebenden Theoriediskussionen auf den Punkt: "Geben wir es ruhig zu: Die Theorie hält einer genaueren Überprüfung kaum stand. Bei näherem Hinsehen entpuppt sie sich als eine Reihe von harten Maßnahmen, die von einem wohlmeinenden Professor ideologisch verschleiert worden sind. Ich meine, was erhofft sich die Gesellschaft eigentlich genau davon, alle Maultiere zusammenzutreiben und sie in die wildesten Gebiete der Erde zu verschiffen?" Dazu wird es auch nicht kommen, weil die Maultiere teilweise fliehen oder rebellieren und eines davon, Gribble mit Namen (doch noch eine Frau in diesem Roman!), gegen Ende immer klarere Bedingungen stellt und schließlich von den Entdeckern in einer Sänfte getragen wird. Denn wie bei Kafka ist es bei Mills völlig natürlich und überhaupt nicht albern, dass Tiere sprechen und vernunftbegabt argumentieren.
Magnus Mills glaubt man ohnehin alles, was er erzählt. Der "Daily Telegraph" urteilte einmal, er sei der "raffinierteste Vertreter des schwarzen britischen Humors". Schon recht. Mills ist aber inzwischen viel mehr: eine unverwechselbare Stimme und insofern kein Vertreter von irgendetwas. Das nächste Buch, bitte!
- Magnus Mills: "Die Entdecker des Jahrhunderts". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Böhmer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 195 S., geb., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Jutta Person ist begeistert von diesem fiktiven Reisebericht des britischen Autors Magnus Mills. Zwei konkurrierende Expeditionsgruppen, so lässt uns die Rezensentin wissen, begeben sich hierin auf die beschwerliche Suche nach dem "äußersten erreichbaren Punkt" der Welt. Die Protagonisten unterhalten sich dabei in einem höflich-lakonischen Umgangston, den Person "umwerfend komisch" findet, das abstruse Umherirren durch unwegsames Gelände erinnert sie derweil an Monty Python oder Beckett. Viel passiert hier nicht, erfahren wir, langsam allerdings rücken die Maultiere der Expediteure in den Fokus des Interesses. Die verkörpern, weiß Person, "alles, was nicht Vernunft ist", das möglichst aus dem Blickfeld der Menschen entfernt werden soll. Ihre menschlichen Mitreisenden, so findet die Rezensentin, degradieren sie damit zu Witzfiguren. Das Ganze findet Person komisch und abgründig zugleich, auch wenn ihr Mills am Ende mit seiner Ideologiekritik etwas zu plakativ wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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