Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz hat in den letzten Jahren erstaunliche Fortschritte gemacht, wozu die Erforschung der biologischen Grundlagen intelligenten Verhaltens von Tieren wesentlich beigetragen hat. Die Beantwortung von Fragen wie "Was steuert die Bewegung der Gliedmaßen?" oder "Wie funktioniert das Gedächtnis?" und das Verständnis der diesen Fähigkeiten zugrundeliegenden neuronalen Strukturen haben zu verblüffenden Einsichten in die Natur des "Denkenkönnens" geführt. Das vorliegende Buch beschreibt die überraschenden Forschungsergebnisse auf dem Weg von der natürlichen zur künstlichen Intelligenz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.1999Was denkt sich dieser Geist bloß?
Wer einen Roboter abstellt, kann zum Mörder werden
An Erklärungen, was Geist sei, herrscht gewiß kein Mangel. Sie reichen von der Vorstellung einer nichtmateriellen, unsterblichen Gegebenheit, die sich auf Zeit einen Körper als Wohnstatt ausgesucht hat, bis zur geringschätzigen Meinung, er sei nichts weiter als eine Begleiterscheinung der Gehirntätigkeit, eine "bio-elektrische Täuschung" gewissermaßen und damit so etwas wie eine innere Fata Morgana. Auf jeden Fall brachte er aber einen großen "Erfolg" in der Entwicklungsgeschichte des Lebens, denn der Träger dieses Geistes, der sich selbst Homo sapiens nennt, brachte es damit in vergleichsweise kurzer Zeit fertig, sich über alle anderen Lebewesen zu erheben. Er sieht sich als "Krone der Schöpfung" und ist stolz darauf.
Dieser Stolz wurde zweimal grundlegend verletzt. Jahrtausendelang wähnte sich der Mensch als Zentrum der Welt, in der alles für ihn (vor)bestimmt sei. Die Erkenntnis, unwiderlegbar und unanfechtbar, daß seine Heimaterde aber weder das Zentrum des Universums noch irgendetwas Besonderes darin ist, traf ihn hart. Noch schlimmer fiel der nächste Schlag aus: Der Mensch ist etwas natürlicherweise Gewordenes; wie alle anderen Lebewesen dieser Erde ist er das Produkt der Evolution. Schimpansen und Gorillas sind unsere nächsten Verwandten und stehen uns so nahe, daß wir ihnen ein Denken und Fühlen zubilligen müssen und auch ein gewisses Maß an Intelligenz.
Dessenungeachtet schien eine Bastion lange unantastbar: unser Geist. Selbstbewußt nutzen wir unser Selbstbewußtsein aus, um uns damit nicht nur an die Spitze aller Lebewesen zu stellen, sondern über das Leben hinaus zu erheben. Wir gehören einer neuen Sphäre an, meinen wir, der Sphäre des Geistes. Es mag ja zutreffen, daß unser Körper eine jahrmillionenlange Evolution hinter sich hat, aber unser Geist nicht. Er ist nicht "von dieser Welt" und vielleicht sogar unsterblich.
Nun bahnt sich ein dritter Absturz an: Der Geist ist doch von dieser Welt und keinesfalls unser alleiniger Besitz. Neurophysiologen und Kybernetiker dringen ein in seine Sphäre und zeigen "Intelligenz" als eine buchstäblich automatische Eigenschaft von neuronalen Netzwerken, die Informationen austauschen. Damit beschäftigt sich das vorliegende Buch in seinem Hauptteil. Die drei Verfasser, Biologen an der Universität Bielefeld, arbeiten nicht mit den uns nächststehenden Affen, sondern mit eher fernstehenden, "einfachen" Tieren und Robotern. Sie legen dar, daß "intelligentes Verhalten" bei Ameisen im Prinzip genauso funktioniert wie bei fast primitiv zu bezeichnenden Robotern. Es liegt an der Art der Verschaltung der Nerven und der elektrischen Verdrahtungen, ob undifferenzierte Reaktionen oder "einsichtig" wirkende zustande kommen.
Intelligenz, das belegen die Autoren, ist eine "emergente Eigenschaft", die sich nicht aus den Bestand- oder Bauteilen direkt ableiten läßt. Sie entsteht "neu", wenn sich die dazu passenden Strukturen und Vernetzungen entwickelt haben. Natürliche, biologische Systeme (Lebewesen) und künstliche gleichen sich darin so sehr, daß sie sich vom Ergebnis her betrachtet gar nicht mehr wesentlich unterscheiden. Deshalb, so die Autoren, könne auch gar kein Zweifel daran sein, daß Ameisen "denken".
Neuronale Netzwerke bilden die Voraussetzung für das Denken. Je komplexer sie sind, desto mehr Denkfähigkeit und Intelligenz kommen daraus hervor. Ausschlaggebend ist folglich der Grad der Entwicklung und nicht die Trägersubstanz. So hat eine befruchtete Eizelle, auch wenn es sich dabei um eine menschliche handelt, mangels solcher neuronaler Strukturen auch keinen Geist und keine eigenständige Individualität. Erst mit ausreichend komplex gewordener Strukturierung des Gehirns und Nervensystems taucht diese neue Eigenschaft auf. In der Entwicklungsgeschichte war dies nicht anders. Und jedesmal, wenn der Geist "schläft", schaltet sich der Vergleich von "bekannt" und "neu" ab und entzieht sich somit dem Bewußtsein.
Was wären oder sind die Konsequenzen? Eine Schlußfolgerung besteht darin, daß Maschinenintelligenz kein Hirngespinst ist. Die Autoren gehen sogar einen Schritt weiter und fragen, ob derjenige möglicherweise einen Mord begeht, der einen intelligenten Roboter abschaltet? Ethische Entscheidungen, die Vorstellung von Willensfreiheit oder einer selbständigen Seele sind ja doch auch nichts weiter als Folgen der intelligenten Netzwerke, die das Gehirn in jahrmillionenlanger Entwicklung ausgebildet hat. Ist das ein zu dreister Angriff auf den Geist? Folgt man der Struktur des Buches und der Darlegung, wie Geist "emergent" entsteht, so ist es eigentlich auch nicht verwunderlich, daß nach längeren, recht konzentriert dargebotenen Textpassagen, die sehr technisch-wissenschaftlich wirken, solche Schlußfolgerungen "emergent" werden.
Doch zum Ende suchen die Autoren ihr Heil dann doch in der Beschwichtigung und relativieren die neue, die totale Freiheit des Geistes: In kritischen Momenten, schreiben sie, sei "die Abhängigkeit jedes Systems, auch des Menschen, von der Umwelt total": "Der Mensch ist intimer Teil der Welt. Eine gedankliche Trennung zwischen Mensch und seiner Umwelt ist zwar meist zweckmäßig, aber dies darf uns nicht zu einem unerlaubten Humanchauvinismus verleiten." Denn nicht "ich denke" (daher bin ich), sondern "es denkt" - und daher sind wir (Menschen).
JOSEF H. REICHHOLF
Holk Cruse, Jeffrey Dean, Helge Ritter: "Die Entdeckung der Intelligenz oder Können Ameisen denken?" Intelligenz bei Tieren und Maschinen. Verlag C. H. Beck, München 1998. 279 S., 71 Abb., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer einen Roboter abstellt, kann zum Mörder werden
An Erklärungen, was Geist sei, herrscht gewiß kein Mangel. Sie reichen von der Vorstellung einer nichtmateriellen, unsterblichen Gegebenheit, die sich auf Zeit einen Körper als Wohnstatt ausgesucht hat, bis zur geringschätzigen Meinung, er sei nichts weiter als eine Begleiterscheinung der Gehirntätigkeit, eine "bio-elektrische Täuschung" gewissermaßen und damit so etwas wie eine innere Fata Morgana. Auf jeden Fall brachte er aber einen großen "Erfolg" in der Entwicklungsgeschichte des Lebens, denn der Träger dieses Geistes, der sich selbst Homo sapiens nennt, brachte es damit in vergleichsweise kurzer Zeit fertig, sich über alle anderen Lebewesen zu erheben. Er sieht sich als "Krone der Schöpfung" und ist stolz darauf.
Dieser Stolz wurde zweimal grundlegend verletzt. Jahrtausendelang wähnte sich der Mensch als Zentrum der Welt, in der alles für ihn (vor)bestimmt sei. Die Erkenntnis, unwiderlegbar und unanfechtbar, daß seine Heimaterde aber weder das Zentrum des Universums noch irgendetwas Besonderes darin ist, traf ihn hart. Noch schlimmer fiel der nächste Schlag aus: Der Mensch ist etwas natürlicherweise Gewordenes; wie alle anderen Lebewesen dieser Erde ist er das Produkt der Evolution. Schimpansen und Gorillas sind unsere nächsten Verwandten und stehen uns so nahe, daß wir ihnen ein Denken und Fühlen zubilligen müssen und auch ein gewisses Maß an Intelligenz.
Dessenungeachtet schien eine Bastion lange unantastbar: unser Geist. Selbstbewußt nutzen wir unser Selbstbewußtsein aus, um uns damit nicht nur an die Spitze aller Lebewesen zu stellen, sondern über das Leben hinaus zu erheben. Wir gehören einer neuen Sphäre an, meinen wir, der Sphäre des Geistes. Es mag ja zutreffen, daß unser Körper eine jahrmillionenlange Evolution hinter sich hat, aber unser Geist nicht. Er ist nicht "von dieser Welt" und vielleicht sogar unsterblich.
Nun bahnt sich ein dritter Absturz an: Der Geist ist doch von dieser Welt und keinesfalls unser alleiniger Besitz. Neurophysiologen und Kybernetiker dringen ein in seine Sphäre und zeigen "Intelligenz" als eine buchstäblich automatische Eigenschaft von neuronalen Netzwerken, die Informationen austauschen. Damit beschäftigt sich das vorliegende Buch in seinem Hauptteil. Die drei Verfasser, Biologen an der Universität Bielefeld, arbeiten nicht mit den uns nächststehenden Affen, sondern mit eher fernstehenden, "einfachen" Tieren und Robotern. Sie legen dar, daß "intelligentes Verhalten" bei Ameisen im Prinzip genauso funktioniert wie bei fast primitiv zu bezeichnenden Robotern. Es liegt an der Art der Verschaltung der Nerven und der elektrischen Verdrahtungen, ob undifferenzierte Reaktionen oder "einsichtig" wirkende zustande kommen.
Intelligenz, das belegen die Autoren, ist eine "emergente Eigenschaft", die sich nicht aus den Bestand- oder Bauteilen direkt ableiten läßt. Sie entsteht "neu", wenn sich die dazu passenden Strukturen und Vernetzungen entwickelt haben. Natürliche, biologische Systeme (Lebewesen) und künstliche gleichen sich darin so sehr, daß sie sich vom Ergebnis her betrachtet gar nicht mehr wesentlich unterscheiden. Deshalb, so die Autoren, könne auch gar kein Zweifel daran sein, daß Ameisen "denken".
Neuronale Netzwerke bilden die Voraussetzung für das Denken. Je komplexer sie sind, desto mehr Denkfähigkeit und Intelligenz kommen daraus hervor. Ausschlaggebend ist folglich der Grad der Entwicklung und nicht die Trägersubstanz. So hat eine befruchtete Eizelle, auch wenn es sich dabei um eine menschliche handelt, mangels solcher neuronaler Strukturen auch keinen Geist und keine eigenständige Individualität. Erst mit ausreichend komplex gewordener Strukturierung des Gehirns und Nervensystems taucht diese neue Eigenschaft auf. In der Entwicklungsgeschichte war dies nicht anders. Und jedesmal, wenn der Geist "schläft", schaltet sich der Vergleich von "bekannt" und "neu" ab und entzieht sich somit dem Bewußtsein.
Was wären oder sind die Konsequenzen? Eine Schlußfolgerung besteht darin, daß Maschinenintelligenz kein Hirngespinst ist. Die Autoren gehen sogar einen Schritt weiter und fragen, ob derjenige möglicherweise einen Mord begeht, der einen intelligenten Roboter abschaltet? Ethische Entscheidungen, die Vorstellung von Willensfreiheit oder einer selbständigen Seele sind ja doch auch nichts weiter als Folgen der intelligenten Netzwerke, die das Gehirn in jahrmillionenlanger Entwicklung ausgebildet hat. Ist das ein zu dreister Angriff auf den Geist? Folgt man der Struktur des Buches und der Darlegung, wie Geist "emergent" entsteht, so ist es eigentlich auch nicht verwunderlich, daß nach längeren, recht konzentriert dargebotenen Textpassagen, die sehr technisch-wissenschaftlich wirken, solche Schlußfolgerungen "emergent" werden.
Doch zum Ende suchen die Autoren ihr Heil dann doch in der Beschwichtigung und relativieren die neue, die totale Freiheit des Geistes: In kritischen Momenten, schreiben sie, sei "die Abhängigkeit jedes Systems, auch des Menschen, von der Umwelt total": "Der Mensch ist intimer Teil der Welt. Eine gedankliche Trennung zwischen Mensch und seiner Umwelt ist zwar meist zweckmäßig, aber dies darf uns nicht zu einem unerlaubten Humanchauvinismus verleiten." Denn nicht "ich denke" (daher bin ich), sondern "es denkt" - und daher sind wir (Menschen).
JOSEF H. REICHHOLF
Holk Cruse, Jeffrey Dean, Helge Ritter: "Die Entdeckung der Intelligenz oder Können Ameisen denken?" Intelligenz bei Tieren und Maschinen. Verlag C. H. Beck, München 1998. 279 S., 71 Abb., geb., 48,- DM.
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