Eine transkulturell und epochenübergreifend arbeitende Medienwissenschaft kann weder das neuzeitliche europäische Kultur- und Geschichtskonzept noch dessen Kommunikationsmodell übernehmen. Die hier übliche radikale Orientierung an technischen Medien, an Menschen als ausschließlichen Kommunikatoren, an Standardschriftsprachen als Leitcode, am Buch als Spiegel der Kultur, am Entweder- Oder-Denken, an Homogenität und Standardisierung als Unterpfand erfolgreicher Kommunikation, Politik und Wissenschaft erweist sich als eine kulturspezifische Voraussetzung, nicht aber als allgemeingültiger Theorierahmen.
Demgegenüber versuchen die Arbeiten, die in diesem Band versammelt sind, eine alternative triadische Epistemologie und Kommunikationstheorie zu entwerfen. Dabei werden ausgewählte Kapitel der Mediengeschichte Europas, Japans, Indiens und weiterer Kulturen verglichen und der Wandel neu beschrieben.
Demgegenüber versuchen die Arbeiten, die in diesem Band versammelt sind, eine alternative triadische Epistemologie und Kommunikationstheorie zu entwerfen. Dabei werden ausgewählte Kapitel der Mediengeschichte Europas, Japans, Indiens und weiterer Kulturen verglichen und der Wandel neu beschrieben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2007Wir brauchen beide Kulturen
Die "Pisa"-Hysterie lässt viele Eltern bangen, ob ihre Kinder überhaupt noch richtig lesen, schreiben und rechnen lernen. Sind dies doch nach allgemeiner Ansicht die Grundqualifikationen, die nötig sind, um in einer "Wissensgesellschaft" zu bestehen. Wer Lehrbücher nicht versteht, hat demnach ein Problem: Er sieht seine natürliche, technische und soziale Umwelt nicht genauso wie diejenigen, die durch Bücher "wahres" Wissen erworben haben. Analphabeten verpassen den Anschluss an Wissenschaft und Technik, die letzte Hoffnung einer rohstoffarmen, alternden Gesellschaft.
Gegen die Fraglosigkeit dieser Ansicht nimmt der Medienhistoriker Michael Giesecke Stellung ("Die Entdeckung der kommunikativen Welt". Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 534 S., br., 17,- [Euro]). Giesecke möchte aus der Pisa-Studie sogar den provokativ optimistischen Schluss ziehen, dass "Deutschland im Ablösungsprozess von der Buch- und Industriekultur weiter fortgeschritten ist als andere Nationen".
Er stellt den Buch-Absolutismus der Neuzeit in die Perspektive anderer Möglichkeiten. Am Beispiel etwa der "Naturgeschichte" des Plinius untersucht Giesecke den "multimedialen" Unterricht der Antike. Wissenschaftliche Bücher unterstützen hier den Dialog zwischen Lehrern und Schülern, haben aber keineswegs die Aufgabe, Wissen über die Dinge in Form wiederholbarer Beschreibungen weiterzugeben. Giesecke beschreibt den Bedeutungswandel von Widmungsvorreden - die Bedeutung ändert sich, je nachdem, ob die Widmungen an bestimmten kommunikativen Orten, etwa Universitäten, verlesen wurden oder ob sie gedruckt und verkauft wurden. Verglichen werden Programme kulturrevolutionärer Erwachsenen-Alphabetisierung im westafrikanischen Benin im späten zwanzigsten und in Deutschland im frühen sechzehnten Jahrhundert. Insgesamt ergibt sich ein Bild jeweils unterschiedlicher Gewichtungen von Formen der Kommunikation: ob stärker "interaktiv" oder unpersönlich, ob vermittelt durch menschliche Medien, reguliert durch kirchliche oder staatliche Institutionen oder gleichgeschaltet durch kapitalistisch bewirtschaftete technische Massenmedien.
Medienkritiker verteufeln das Fernsehen, Bibliothekare beklagen den Niedergang der traditionellen Institutionen des Wissens, Lobredner der Neuen Medien erhoffen sich von "E Learning" und interaktiven Computerspielen den Neuen Menschen. Anders Giesecke. Sein historischer Zugang lindert unseren Drang, bestimmte Medienformen einseitig zu bevorzugen. Die Hierarchisierung der Medien und Wahrnehmungsformen in verschiedenen Hochkulturen, die "Prämierung" mal der leiblichen Medien (etwa der Tanz als Leitmedium in Indien), mal der eher technischen (die Schrift als Informationsmedium im alten Ägypten, die Rede in der Antike, das Kommunikationsmedium Buchdruck in der Neuzeit) folgt keinem Zwang.
Erhellend ist in dem Buch vor allem die gemeinsam mit Shiro Yukawa verfasste Studie zur Geschichte graphischer Kommunikationsmedien in Japan und Deutschland. Die einseitige Prämierung des Buchdrucks, die wir für quasi natürlich halten, erweist sich in dieser Perspektive als keineswegs historisch unausweichlich. Alle Bestandteile der Gutenberg-Technologie standen auch im Japan der Edo-Zeit, vom frühen siebzehnten Jahrhundert bis zum späten neunzehnten Jahrhundert, zur Verfügung. Doch die kulturell besondere Gewichtung der Medien, Sinne und Informationstypen hat die Abwertung der Hände und Handwerkszeuge, die mit der industriellen, technisierten Vervielfältigung von Bildern und lautsprachlichen Informationen einhergegangen wäre, nicht zugelassen. "Ganzheitliche" Werte, die den Körper und leibliches Handeln stärker berücksichtigen, verhindern einen Medienabsolutismus europäischen Zuschnitts. Technisch vervielfältigte Texte gewinnen keine Vormacht gegenüber anderen Formen der Verständigung, die Japaner weisen sie zurück.
Japan hat sich seit der Meiji-Reformation in eine kapitalistische Eigentumswirtschaft nach westlichem Vorbild gewandelt, und damit ist auch die "Medienökologie" der feudalen Edo-Zeit aus dem Gleichgewicht geraten. An dieser Stelle hinkt Gieseckes Vergleich mit dem Medienabsolutismus des Buchdrucks: Die Marktwirtschaft erzwingt Wachstum und prämiert Effizienz sowohl in der Güterproduktion wie in der Informationsverarbeitung. Ob es unter heutigen Wirtschaftsbedingungen eine Wahlfreiheit gibt zwischen "Medienökologie" und "Medienabsolutismus", bleibt insofern zweifelhaft. Unzweifelhaft hingegen ist gerade deshalb die Notwendigkeit, die Potentiale der Neuen Medien zu nutzen und nicht aus Liebe zur "Buchkultur" an 500 Jahre alten Lernmodellen festzuhalten. Wir brauchen beide Medienkulturen: die des Buches und die der Neuen Medien. Gieseckes historische Studien und seine Suche nach "posttypographischen Bildungsidealen" zeigen, warum.
CHRISTOPH ALBRECHT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die "Pisa"-Hysterie lässt viele Eltern bangen, ob ihre Kinder überhaupt noch richtig lesen, schreiben und rechnen lernen. Sind dies doch nach allgemeiner Ansicht die Grundqualifikationen, die nötig sind, um in einer "Wissensgesellschaft" zu bestehen. Wer Lehrbücher nicht versteht, hat demnach ein Problem: Er sieht seine natürliche, technische und soziale Umwelt nicht genauso wie diejenigen, die durch Bücher "wahres" Wissen erworben haben. Analphabeten verpassen den Anschluss an Wissenschaft und Technik, die letzte Hoffnung einer rohstoffarmen, alternden Gesellschaft.
Gegen die Fraglosigkeit dieser Ansicht nimmt der Medienhistoriker Michael Giesecke Stellung ("Die Entdeckung der kommunikativen Welt". Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 534 S., br., 17,- [Euro]). Giesecke möchte aus der Pisa-Studie sogar den provokativ optimistischen Schluss ziehen, dass "Deutschland im Ablösungsprozess von der Buch- und Industriekultur weiter fortgeschritten ist als andere Nationen".
Er stellt den Buch-Absolutismus der Neuzeit in die Perspektive anderer Möglichkeiten. Am Beispiel etwa der "Naturgeschichte" des Plinius untersucht Giesecke den "multimedialen" Unterricht der Antike. Wissenschaftliche Bücher unterstützen hier den Dialog zwischen Lehrern und Schülern, haben aber keineswegs die Aufgabe, Wissen über die Dinge in Form wiederholbarer Beschreibungen weiterzugeben. Giesecke beschreibt den Bedeutungswandel von Widmungsvorreden - die Bedeutung ändert sich, je nachdem, ob die Widmungen an bestimmten kommunikativen Orten, etwa Universitäten, verlesen wurden oder ob sie gedruckt und verkauft wurden. Verglichen werden Programme kulturrevolutionärer Erwachsenen-Alphabetisierung im westafrikanischen Benin im späten zwanzigsten und in Deutschland im frühen sechzehnten Jahrhundert. Insgesamt ergibt sich ein Bild jeweils unterschiedlicher Gewichtungen von Formen der Kommunikation: ob stärker "interaktiv" oder unpersönlich, ob vermittelt durch menschliche Medien, reguliert durch kirchliche oder staatliche Institutionen oder gleichgeschaltet durch kapitalistisch bewirtschaftete technische Massenmedien.
Medienkritiker verteufeln das Fernsehen, Bibliothekare beklagen den Niedergang der traditionellen Institutionen des Wissens, Lobredner der Neuen Medien erhoffen sich von "E Learning" und interaktiven Computerspielen den Neuen Menschen. Anders Giesecke. Sein historischer Zugang lindert unseren Drang, bestimmte Medienformen einseitig zu bevorzugen. Die Hierarchisierung der Medien und Wahrnehmungsformen in verschiedenen Hochkulturen, die "Prämierung" mal der leiblichen Medien (etwa der Tanz als Leitmedium in Indien), mal der eher technischen (die Schrift als Informationsmedium im alten Ägypten, die Rede in der Antike, das Kommunikationsmedium Buchdruck in der Neuzeit) folgt keinem Zwang.
Erhellend ist in dem Buch vor allem die gemeinsam mit Shiro Yukawa verfasste Studie zur Geschichte graphischer Kommunikationsmedien in Japan und Deutschland. Die einseitige Prämierung des Buchdrucks, die wir für quasi natürlich halten, erweist sich in dieser Perspektive als keineswegs historisch unausweichlich. Alle Bestandteile der Gutenberg-Technologie standen auch im Japan der Edo-Zeit, vom frühen siebzehnten Jahrhundert bis zum späten neunzehnten Jahrhundert, zur Verfügung. Doch die kulturell besondere Gewichtung der Medien, Sinne und Informationstypen hat die Abwertung der Hände und Handwerkszeuge, die mit der industriellen, technisierten Vervielfältigung von Bildern und lautsprachlichen Informationen einhergegangen wäre, nicht zugelassen. "Ganzheitliche" Werte, die den Körper und leibliches Handeln stärker berücksichtigen, verhindern einen Medienabsolutismus europäischen Zuschnitts. Technisch vervielfältigte Texte gewinnen keine Vormacht gegenüber anderen Formen der Verständigung, die Japaner weisen sie zurück.
Japan hat sich seit der Meiji-Reformation in eine kapitalistische Eigentumswirtschaft nach westlichem Vorbild gewandelt, und damit ist auch die "Medienökologie" der feudalen Edo-Zeit aus dem Gleichgewicht geraten. An dieser Stelle hinkt Gieseckes Vergleich mit dem Medienabsolutismus des Buchdrucks: Die Marktwirtschaft erzwingt Wachstum und prämiert Effizienz sowohl in der Güterproduktion wie in der Informationsverarbeitung. Ob es unter heutigen Wirtschaftsbedingungen eine Wahlfreiheit gibt zwischen "Medienökologie" und "Medienabsolutismus", bleibt insofern zweifelhaft. Unzweifelhaft hingegen ist gerade deshalb die Notwendigkeit, die Potentiale der Neuen Medien zu nutzen und nicht aus Liebe zur "Buchkultur" an 500 Jahre alten Lernmodellen festzuhalten. Wir brauchen beide Medienkulturen: die des Buches und die der Neuen Medien. Gieseckes historische Studien und seine Suche nach "posttypographischen Bildungsidealen" zeigen, warum.
CHRISTOPH ALBRECHT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.05.2007Wissensmoleküle
Ohne Mitleid: Michael Giesecke am Totenbett der Buchkultur
Liebe Leser, was Sie hier gerade machen, nämlich sich einfach so einen Text vorsetzen zu lassen, den Sie dann auch noch ohne nennenswerte eigene Aktivität einfach so zu sich nehmen – das ist wirklich von gestern. Jedenfalls wenn es nach dem Erfurter Medienhistoriker und Medientheoretiker Michael Giesecke geht, bewegen wir, also Leser und Schreiber, uns mit unserer auslaufenden Lesekultur in einem „Gebilde von sehr begrenzter Dauer und Reichweite – wenn wir historische Maßstäbe anlegen”.
Michael Giesecke hat Anfang der neunziger Jahre ein umfassendes und erhellendes Buch über den „Buchdruck in der frühen Neuzeit” vorgelegt. Das war ein guter Zeitpunkt, um sich aus der historischen Medienrevolution des Abendlandes ein Polster von beinahe 1000 Seiten zu bauen, von dem aus sich die globale elektronische Medienrevolution des folgenden Jahrzehnts kundig und bequem verfolgen ließ. Doch Giesecke, Jahrgang 1949, ließ sich nicht im Gutenberg-Sofa hängen. Er wollte und will vielmehr selbst dabei sein und beobachten, wie sich das Buch im Netz verfängt. Dass die neueste Auflage seiner Buchdruck-Studie jetzt mit beigelegtem pdf-Volltext herauskommt, und dass er heute einen aufwendigen Internet-Auftritt hat, der seine Bücher „transmedial” ergänzen soll, ist da noch das Geringste; vor allem ist es Michael Gieseckes Anliegen, die Veränderungen der Kommunikation nicht zu bejammern, sondern analysierend und appellierend mitzugestalten.
Das liest sich beispielsweise so: „Viele Indizien, nicht zuletzt die Abnahme der Alphabetisierungsrate und -qualität in den Industrienationen, sprechen dafür, dass die bisherigen Hierarchien aufgelöst und neue Balancen gefunden werden müssen. Es geht also um eine Neubestimmung des Verhältnisses der Sinne, Programme, Medien usw. in der kulturellen Informationsverarbeitung. Diese wird erleichtert, wenn allgemein deutlich wird, dass das herrschende Verhältnis nur eine Option unter vielen (gewesen) ist.” Oder so: „Die Prämierung zeit-, personen- und raumunabhängiger (objektiver) Wahrheiten, die für die Buchkultur sinnvoll war, wird zugunsten funktional angemessener Informationen, themen-, personen- und/oder professionsbezogenen, pragmatischen Wissens zurückgefahren. Der Geltungsbereich von Aussagen kann eingeschränkt werden. Allgemeingültigkeit ist nicht mehr oberstes Ziel. Die geeignete Form für die Speicherung und Kommunikation dieser Wissensmoleküle sind mehrdimensionale Datenbanken.”
Nur eine Episode
Dies und Ähnliches steht in einer Sammlung teils publizierter, teils neu geschriebener Beiträge, die Giesecke zu seinem jetzt erschienenen Buch „Die Entdeckung der kommunikativen Welt” zusammengefasst hat. In Fallstudien und Modellen wird hier ausgearbeitet, was der Autor vor fünf Jahren unter dem Titel „Mythen der Buchkultur” proklamiert hat: nämlich, dass die neuzeitliche Wissensvermittlung und Schriftkultur eine „typographische Monokultur” bedeute, welche die Kommunikation einseitig homogenisiert und standardisiert habe; dass auf diese Weise interaktivere und durch die Vielfalt mehrerer Sinne ablaufende Formen des Austausches diskriminiert würden, wie sie in anderen Epochen und anderen Kulturen geherrscht hätten oder herrschten; und dass eine bewusste Annahme des Übergangs zur „posttypographischen” Ära im Bildungswesen wie in der gesamten Kultur uns „den anstehenden Ablösungsprozess erleichtern” werde, was zudem „unter den Bedingungen der Globalisierung” ohnehin unausweichlich sei. Kurz: Fünfhundert Jahre Buchkultur waren medienhistorisch bloß eine Episode.
„Die Entdeckung der kommunikativen Welt”: Das wäre auch eine passende Überschrift über die Entwicklung der Geisteswissenschaften der vergangenen Jahrzehnte. Nicht zuletzt die philologischen und historischen Fächer fragten nicht mehr isoliert nach literarischer Gestaltung, nach großen Taten und geistesgeschichtlichen Entwicklungen; das Publikum trat auf den Plan und mit ihm die Rezeptionsformen, die Interessen, die Medien. Es wäre ausgesprochen unfair, in dieser Bewegung der Forschung nichts als eine Reaktion auf den Aufstieg des Fernsehens, der Propaganda-Macht und des Computers im 20. Jahrhundert zu erkennen – und zu meinen, vor lauter Expertise über Kommunikationskanäle verstehe die Wissenschaft gar nichts mehr von den Gegenständen selbst. Denn über das Funktionieren von Sprache und Texten in historischen Lebenswelten haben wir tatsächlich viel Neues gelernt, und niemand wird heute mehr bei der Betrachtung eines alten Gedichts die Frage für uninteressant halten, wie viele Zeitgenossen des Dichters es eigentlich lesen konnten, oder ob er es ihnen vorgesungen hat oder nicht.
Das gute Emanzipationsgefühl
Dass solche Forschungsfragen, denen in unseren Tagen große Institute gewidmet sind, einst nicht selbstverständlich waren, offenbart ein Aufsatz Gieseckes, der 1979 in einem von Reinhart Koselleck herausgegebenen Band erschien: Dort beklagt der Autor „die geringe Beachtung kommunikativer Verhältnisse durch die Geschichtswissenschaft”. Das kann man nun heute nicht mehr behaupten; und Gieseckes materialreicher Band enthält viele Beispiele, wie sich mit genauen Einzelbeobachtungen fruchtbare Deutungen des Medienwandels gewinnen lassen – ob anhand der Geschichte von Alphabetisierungskampagnen oder eines gründlichen Vergleichs von Druckmedien in Deutschland und Japan, den Shiro Yukawa mitverfasst hat. Plausibel wird etwa mit diesem Buch, dass Medien, wie es inzwischen Allgemeingut ist, zwar parallel bestehen können und sich nicht notwendig gegenseitig verdrängen müssen – dass aber das Nebeneinander nicht grenzenlos ist, sondern wie in der Ökologie durch Ressourcenknappheit bestimmt. Das heißt heute: Man kann nur so viel lesen, wie man nicht fernsieht, redet oder im Internet surft.
So sehr Michael Giesecke also an vielen Stellen die Berechtigung seiner Forschungsrichtung vorführt, so unangenehm deutlich wird indes zugleich, wie viel Schematismus ihm dazu noch nötig erscheint. Um die Opposition zur Buchkultur einzunehmen, simplifiziert Giesecke diese, trotz seiner Kenntnisse, in unerträglicher Weise. So schreibt er, in Schule und Universität führe die herkömmliche Buchkultur zu „identischer Reproduktion des Wissenskanons” und zur „Gleichschaltung der Erlebens-und Verarbeitungsformen der Kommunikatoren” – hat der Autor jemals ein gelungenes Kolloquium erlebt, in dem gerade anhand gelesener gedruckter Texte vielfältige Interpretation, Austausch und Diskussion vor sich gehen?
Vier Seiten später hat Giesecke eine Tabelle aufgestellt, in der die Unterschiede zwischen „typographischem Wissenschafts- und Wissensschöpfungsideal” und den „Gegenbewegungen in den letzten Jahren” aufgelistet sind. Für die Buchkultur typisch sollen sein: „Gütekriterium: wahr/falsch; strikter Falsifikationismus” sowie „amtlicher Bildungskanon”. Hat der Zweifel an Gegebenem nicht von Descartes bis zu Derrick seinen Ort im Buch gehabt? Ganz falsch ist Gieseckes Ansicht, vor dem Buchdruck habe es keine Bücher als „autonomes Medium” einer „interaktionsfreien Verständigung” gegeben; schon in der Antike gab es durchaus einen funktionierenden Buchmarkt und Privatlektüre.
Vollends irritierend aber ist, dass Giesecke als Energiezufuhr für seine Medienhistorie immer noch ein Emanzipationsgefühl für unabdingbar hält. Gegen das Regiment der Bücher noch heute mit „Unterdrückung”, ja „Versklavung der Sinne” zu argumentieren – das heißt nun wirklich mit Kanonen auf Spatzen schießen. JOHAN SCHLOEMANN
MICHAEL GIESECKE: Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 534 Seiten, 17 Euro.
MICHAEL GIESECKE: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Vierte Auflage, mit CD-ROM. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2006. 957 Seiten, 39,90 Euro.
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Ohne Mitleid: Michael Giesecke am Totenbett der Buchkultur
Liebe Leser, was Sie hier gerade machen, nämlich sich einfach so einen Text vorsetzen zu lassen, den Sie dann auch noch ohne nennenswerte eigene Aktivität einfach so zu sich nehmen – das ist wirklich von gestern. Jedenfalls wenn es nach dem Erfurter Medienhistoriker und Medientheoretiker Michael Giesecke geht, bewegen wir, also Leser und Schreiber, uns mit unserer auslaufenden Lesekultur in einem „Gebilde von sehr begrenzter Dauer und Reichweite – wenn wir historische Maßstäbe anlegen”.
Michael Giesecke hat Anfang der neunziger Jahre ein umfassendes und erhellendes Buch über den „Buchdruck in der frühen Neuzeit” vorgelegt. Das war ein guter Zeitpunkt, um sich aus der historischen Medienrevolution des Abendlandes ein Polster von beinahe 1000 Seiten zu bauen, von dem aus sich die globale elektronische Medienrevolution des folgenden Jahrzehnts kundig und bequem verfolgen ließ. Doch Giesecke, Jahrgang 1949, ließ sich nicht im Gutenberg-Sofa hängen. Er wollte und will vielmehr selbst dabei sein und beobachten, wie sich das Buch im Netz verfängt. Dass die neueste Auflage seiner Buchdruck-Studie jetzt mit beigelegtem pdf-Volltext herauskommt, und dass er heute einen aufwendigen Internet-Auftritt hat, der seine Bücher „transmedial” ergänzen soll, ist da noch das Geringste; vor allem ist es Michael Gieseckes Anliegen, die Veränderungen der Kommunikation nicht zu bejammern, sondern analysierend und appellierend mitzugestalten.
Das liest sich beispielsweise so: „Viele Indizien, nicht zuletzt die Abnahme der Alphabetisierungsrate und -qualität in den Industrienationen, sprechen dafür, dass die bisherigen Hierarchien aufgelöst und neue Balancen gefunden werden müssen. Es geht also um eine Neubestimmung des Verhältnisses der Sinne, Programme, Medien usw. in der kulturellen Informationsverarbeitung. Diese wird erleichtert, wenn allgemein deutlich wird, dass das herrschende Verhältnis nur eine Option unter vielen (gewesen) ist.” Oder so: „Die Prämierung zeit-, personen- und raumunabhängiger (objektiver) Wahrheiten, die für die Buchkultur sinnvoll war, wird zugunsten funktional angemessener Informationen, themen-, personen- und/oder professionsbezogenen, pragmatischen Wissens zurückgefahren. Der Geltungsbereich von Aussagen kann eingeschränkt werden. Allgemeingültigkeit ist nicht mehr oberstes Ziel. Die geeignete Form für die Speicherung und Kommunikation dieser Wissensmoleküle sind mehrdimensionale Datenbanken.”
Nur eine Episode
Dies und Ähnliches steht in einer Sammlung teils publizierter, teils neu geschriebener Beiträge, die Giesecke zu seinem jetzt erschienenen Buch „Die Entdeckung der kommunikativen Welt” zusammengefasst hat. In Fallstudien und Modellen wird hier ausgearbeitet, was der Autor vor fünf Jahren unter dem Titel „Mythen der Buchkultur” proklamiert hat: nämlich, dass die neuzeitliche Wissensvermittlung und Schriftkultur eine „typographische Monokultur” bedeute, welche die Kommunikation einseitig homogenisiert und standardisiert habe; dass auf diese Weise interaktivere und durch die Vielfalt mehrerer Sinne ablaufende Formen des Austausches diskriminiert würden, wie sie in anderen Epochen und anderen Kulturen geherrscht hätten oder herrschten; und dass eine bewusste Annahme des Übergangs zur „posttypographischen” Ära im Bildungswesen wie in der gesamten Kultur uns „den anstehenden Ablösungsprozess erleichtern” werde, was zudem „unter den Bedingungen der Globalisierung” ohnehin unausweichlich sei. Kurz: Fünfhundert Jahre Buchkultur waren medienhistorisch bloß eine Episode.
„Die Entdeckung der kommunikativen Welt”: Das wäre auch eine passende Überschrift über die Entwicklung der Geisteswissenschaften der vergangenen Jahrzehnte. Nicht zuletzt die philologischen und historischen Fächer fragten nicht mehr isoliert nach literarischer Gestaltung, nach großen Taten und geistesgeschichtlichen Entwicklungen; das Publikum trat auf den Plan und mit ihm die Rezeptionsformen, die Interessen, die Medien. Es wäre ausgesprochen unfair, in dieser Bewegung der Forschung nichts als eine Reaktion auf den Aufstieg des Fernsehens, der Propaganda-Macht und des Computers im 20. Jahrhundert zu erkennen – und zu meinen, vor lauter Expertise über Kommunikationskanäle verstehe die Wissenschaft gar nichts mehr von den Gegenständen selbst. Denn über das Funktionieren von Sprache und Texten in historischen Lebenswelten haben wir tatsächlich viel Neues gelernt, und niemand wird heute mehr bei der Betrachtung eines alten Gedichts die Frage für uninteressant halten, wie viele Zeitgenossen des Dichters es eigentlich lesen konnten, oder ob er es ihnen vorgesungen hat oder nicht.
Das gute Emanzipationsgefühl
Dass solche Forschungsfragen, denen in unseren Tagen große Institute gewidmet sind, einst nicht selbstverständlich waren, offenbart ein Aufsatz Gieseckes, der 1979 in einem von Reinhart Koselleck herausgegebenen Band erschien: Dort beklagt der Autor „die geringe Beachtung kommunikativer Verhältnisse durch die Geschichtswissenschaft”. Das kann man nun heute nicht mehr behaupten; und Gieseckes materialreicher Band enthält viele Beispiele, wie sich mit genauen Einzelbeobachtungen fruchtbare Deutungen des Medienwandels gewinnen lassen – ob anhand der Geschichte von Alphabetisierungskampagnen oder eines gründlichen Vergleichs von Druckmedien in Deutschland und Japan, den Shiro Yukawa mitverfasst hat. Plausibel wird etwa mit diesem Buch, dass Medien, wie es inzwischen Allgemeingut ist, zwar parallel bestehen können und sich nicht notwendig gegenseitig verdrängen müssen – dass aber das Nebeneinander nicht grenzenlos ist, sondern wie in der Ökologie durch Ressourcenknappheit bestimmt. Das heißt heute: Man kann nur so viel lesen, wie man nicht fernsieht, redet oder im Internet surft.
So sehr Michael Giesecke also an vielen Stellen die Berechtigung seiner Forschungsrichtung vorführt, so unangenehm deutlich wird indes zugleich, wie viel Schematismus ihm dazu noch nötig erscheint. Um die Opposition zur Buchkultur einzunehmen, simplifiziert Giesecke diese, trotz seiner Kenntnisse, in unerträglicher Weise. So schreibt er, in Schule und Universität führe die herkömmliche Buchkultur zu „identischer Reproduktion des Wissenskanons” und zur „Gleichschaltung der Erlebens-und Verarbeitungsformen der Kommunikatoren” – hat der Autor jemals ein gelungenes Kolloquium erlebt, in dem gerade anhand gelesener gedruckter Texte vielfältige Interpretation, Austausch und Diskussion vor sich gehen?
Vier Seiten später hat Giesecke eine Tabelle aufgestellt, in der die Unterschiede zwischen „typographischem Wissenschafts- und Wissensschöpfungsideal” und den „Gegenbewegungen in den letzten Jahren” aufgelistet sind. Für die Buchkultur typisch sollen sein: „Gütekriterium: wahr/falsch; strikter Falsifikationismus” sowie „amtlicher Bildungskanon”. Hat der Zweifel an Gegebenem nicht von Descartes bis zu Derrick seinen Ort im Buch gehabt? Ganz falsch ist Gieseckes Ansicht, vor dem Buchdruck habe es keine Bücher als „autonomes Medium” einer „interaktionsfreien Verständigung” gegeben; schon in der Antike gab es durchaus einen funktionierenden Buchmarkt und Privatlektüre.
Vollends irritierend aber ist, dass Giesecke als Energiezufuhr für seine Medienhistorie immer noch ein Emanzipationsgefühl für unabdingbar hält. Gegen das Regiment der Bücher noch heute mit „Unterdrückung”, ja „Versklavung der Sinne” zu argumentieren – das heißt nun wirklich mit Kanonen auf Spatzen schießen. JOHAN SCHLOEMANN
MICHAEL GIESECKE: Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 534 Seiten, 17 Euro.
MICHAEL GIESECKE: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Vierte Auflage, mit CD-ROM. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2006. 957 Seiten, 39,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zwiespältig findet Rezensent Johann Schloemann diesen Band von Michael Giesecke, der Aufsätze des Autors zur Mediengeschichte versammelt. Mit den Thesen Gieseckes, der in vorliegendem Band an sein Werk "Mythen der Buchkultur" anknüpft und die Einsichten daraus in Modellen und Fallstudien ausarbeitet, kann er einiges anfangen und nennt dann auch eine ganze Reihe, wie etwa die, dass die neuzeitliche Wissensvermittlung und Schriftkultur eine "typographische Monokultur" bedeute, welche die Kommunikation einseitig homogenisiert und standardisiert habe. Diese und andere Thesen laufen für ihn letztlich darauf hinaus, fünfhunderte Jahre Buchkultur medienhistorisch als eine Episode zu beschreiben. Berechtigt scheint ihm das Anliegen des Autors für seine Forschungsrichtung zu werben, und er attestiert ihm, hier in den vergangenen Jahrzehnten viel erreicht zu haben. Um so mehr ärgert er sich über die Art und Weise, wie Giesecke die Buchkultur, trotz seines enormen Wissens, sträflich simplifiziert, nur um eine Oppositionsrolle einnehmen zu können. Hier schießt der Autor nach Ansicht des Rezensenten oft weit über das Ziel hinaus und wirkt auf ihn wenig überzeugend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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