Auch die Zukunft hat ihre Geschichte. Hölschers Studie verfolgt den Wandel sowohl der konkreten Zukunftsvorstellungen als auch des Konzepts der "Zukunft" in Europa - von ihrer Entdeckung als einheitlichem Erwartungszeitraum in der Frühen Neuzeit bis heute.
In solcher Anschaulichkeit, Intensität und Übersichtlichkeit ist dieses Thema bisher noch nicht dargestellt worden.
In solcher Anschaulichkeit, Intensität und Übersichtlichkeit ist dieses Thema bisher noch nicht dargestellt worden.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Die Zukunft hat eine Geschichte - das hat Anna Riek aus diesem Buch gelernt. Hölscher lege dar, dass Zukunft im modernen Sinne erst in der frühen Neuzeit entdeckt worden sei, und erst ab der Französischen Revolution habe man sich endgültig von der Vorstellung einer Wiederkehr Christi verabschiedet, um an die Machbarkeit und Projizierbarkeit der eigenen Zukunft zu glauben. Hölscher handle alle Zukunftsvorstellungen von den Frühsozialisten bis hin zur Science Fiction ab, wenn auch manchmal etwas oberflächlich. Zumindest lerne man daraus aber, wie wichtig es sei, eine Sozial- und Mentalitätsgeschichte durch eine "Imaginationsgeschichte" zu ergänzen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.06.2016208 Millionen Deutsche
Bitte jetzt mal keine Panik: Lucian Hölschers „Entdeckung der Zukunft“ relativiert viele Sorgen
Im Jahr 1899, pünktlich zum Jahrhundertwechsel, machte sich der berühmte Nationalökonom Gustav Schmoller Gedanken über die künftige Bevölkerungsentwicklung des Deutschen Reiches. 52 Millionen Menschen zählte es, bis 1965 rechnete Schmoller mit einem Anstieg auf 104 Millionen. Sogar das Jahr 2135 nahm er in den Blick und kam auf 208 Millionen. Kriege und Krankheiten, Schwankungen in der Fruchtbarkeit hielt der Volkswirtschaftler zwar für möglich, jedoch am grundlegenden Trend zweifelte er nicht.
Und in einem hatte Schmoller recht: Wenn es anders, ganz anders gekommen ist, lag dies nicht vorrangig an den beträchtlichen Kriegsverlusten des 20. Jahrhunderts, sondern tatsächlich an dem, was Schmoller noch für weitgehend konstant hielt, es dann aber doch nicht war: der Fortpflanzungsrate.
Inzwischen bewegt sich die Bevölkerung Deutschlands, bei drastisch reduziertem Staatsgebiet, aber nach Aufnahme von Millionen Vertriebenen und Auslandsdeutschen sowie einer beachtlichen Zuwanderung, um die 80 Millionen – weit unter Schmollers mit allen Mitteln der Wissenschaft befestigten Prognosen. Und dabei hatte Schmoller vom lebenserhaltenden Fortschritt der Medizin im 20. Jahrhundert naturgemäß nur schattenhafte Vorstellungen.
Lucian Hölschers Buch zur Entdeckung der Zukunft ist voller solcher nachdenklich stimmenden Beispiele. Natürlich zitiert der Historiker auch viel Farbigeres als Zahlenspiele, Zukunftsromane, Apokalypsen, Utopien, Geschichtsphilosophien. Aber vielleicht sind die nüchtern abwägenden Prognosen, die auch schon der Politikberatung dienten, noch interessanter. Schmoller zum Beispiel begründete mit seinen Statistiken die Nützlichkeit einer deutschen Kolonialpolitik in Übersee – und von ihnen war es ja nicht weit zu panischen Fantasien, die sich in dem Bestsellererfolg des Romans „Volk ohne Raum“ von Hans Grimm niederschlugen.
Heute ist Europa von umgekehrten Ängsten geplagt: Ein sich leerender Wohlstandsraum sauge riesenhafte Bevölkerungsüberschüsse armer Weltteile an. Begriffe wie „Umvolkung“, über den Umweg des französischen „Remplacement“ wieder salonfähig gemacht, kursieren mindestens bei der neuen Rechten. Und überhaupt sind es ja Zukunftsszenarien, von den „Grenzen des Wachstums“ bis zur „Klimakatastrophe“, die seit Jahrzehnten wichtige Politikfelder bestimmen.
Vor diesem Hintergrund bietet Hölschers erfreulich knappe, begrifflich präzise Darlegung eine Gelegenheit zur Abstandnahme, ja Abkühlung. Schon die Feststellung, dass Zukunft als Singular, als einheitlicher Vorstellungsraum, eine junge Errungenschaft der europäischen Menschheit ist, kann befreiend wirken.
Man muss sich dafür gar nicht den Kopf an zeitphilosophischen Problemen wunddenken: Gegenwart als unendlich kleiner Punkt, Vergangenheit als Verschwundenes und Unabänderliches, Zukunft als Offenes, noch Beeinflussbares, alles zusammen ungreifbar.
Der moderne Begriff der Zukunft setzt die Abkoppelung von der Naturzeit voraus, darüber hinaus die Stabilisierung großer Kommunikations- und Erfahrungsräume, ja den Begriff der Geschichte. Es geht also nicht einfach um „kommende Dinge“ oder das Weltgericht oder, am anderen Ende, um einzelne Lebenszeiten, sondern um Gesellschaft, am Ende Weltgesellschaft als Prozess, längst auch mit Blick auf Naturgeschichte und Kosmologie.
Diese Entstehung des Zukunftsbegriffs seit dem 17. Jahrhundert entfaltet Hölscher im ersten, anspruchsvollsten Teil. Nach der Öffnung dieses Raums kann es dann wieder bunter werden, mit den vielerlei Utopien, Geschichtsphilosophien, nationalstaatlichen oder globalen Hoffnungen und Ängsten, den Krisenszenarien um Krieg und Revolutionen herum.
Ob Hölschers Feststellung von Zukunftskonjunkturen um 1770, 1830, 1890 und 1960 wirklich haltbar ist, mag man angesichts der eher farbig-exemplarischen als breit datengestützten Darstellung dahingestellt sein lassen. Wichtiger ist die Beobachtung, dass sich im Moderneraum der Zukunft wissenschaftliche, ästhetische und politische Zukunftsimaginationen ausdifferenzieren, bis hin zu paradoxen Formen konservativer Zukunftsentwürfe einer „anderen Moderne“, die heute beispielsweise in der Ökologie weiterleben.
Längst gibt es eine Zukunftsforschung, die dem Zweck dient, krisenhaften Möglichkeiten vorzubeugen, also Zukunft nicht nur vorauszusehen, sondern zu verändern. Und je nach Ausgang verändert sich auch der Blick auf vergangene Zukunft: Schmollers Prognose ist lehrreich als Irrtum. Lucian Hölschers Buch profitiert, wie könnte es anders sein, von der Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks. Im Lexikon der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ erschienen die Einträge „Zeit“ und „Zukunft“, die Koselleck selbst hatte schreiben wollen, nicht mehr – zu groß und komplex schien das Material zu sein. Im Bücherregal kann nun dieses lesenswerte kleine Buch neben die schweren Lexikonbände eingereiht werden.
GUSTAV SEIBT
Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft. Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 371 Seiten, 29,80 Euro. E-Book 22,99 Euro.
Zukunftsszenarien werden von
„Grenzen des Wachstums“ und
der „Klimakatastrophe“ bestimmt
Die Moderne verträgt sogar
paradoxe Formen
„anderer Modernen“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Bitte jetzt mal keine Panik: Lucian Hölschers „Entdeckung der Zukunft“ relativiert viele Sorgen
Im Jahr 1899, pünktlich zum Jahrhundertwechsel, machte sich der berühmte Nationalökonom Gustav Schmoller Gedanken über die künftige Bevölkerungsentwicklung des Deutschen Reiches. 52 Millionen Menschen zählte es, bis 1965 rechnete Schmoller mit einem Anstieg auf 104 Millionen. Sogar das Jahr 2135 nahm er in den Blick und kam auf 208 Millionen. Kriege und Krankheiten, Schwankungen in der Fruchtbarkeit hielt der Volkswirtschaftler zwar für möglich, jedoch am grundlegenden Trend zweifelte er nicht.
Und in einem hatte Schmoller recht: Wenn es anders, ganz anders gekommen ist, lag dies nicht vorrangig an den beträchtlichen Kriegsverlusten des 20. Jahrhunderts, sondern tatsächlich an dem, was Schmoller noch für weitgehend konstant hielt, es dann aber doch nicht war: der Fortpflanzungsrate.
Inzwischen bewegt sich die Bevölkerung Deutschlands, bei drastisch reduziertem Staatsgebiet, aber nach Aufnahme von Millionen Vertriebenen und Auslandsdeutschen sowie einer beachtlichen Zuwanderung, um die 80 Millionen – weit unter Schmollers mit allen Mitteln der Wissenschaft befestigten Prognosen. Und dabei hatte Schmoller vom lebenserhaltenden Fortschritt der Medizin im 20. Jahrhundert naturgemäß nur schattenhafte Vorstellungen.
Lucian Hölschers Buch zur Entdeckung der Zukunft ist voller solcher nachdenklich stimmenden Beispiele. Natürlich zitiert der Historiker auch viel Farbigeres als Zahlenspiele, Zukunftsromane, Apokalypsen, Utopien, Geschichtsphilosophien. Aber vielleicht sind die nüchtern abwägenden Prognosen, die auch schon der Politikberatung dienten, noch interessanter. Schmoller zum Beispiel begründete mit seinen Statistiken die Nützlichkeit einer deutschen Kolonialpolitik in Übersee – und von ihnen war es ja nicht weit zu panischen Fantasien, die sich in dem Bestsellererfolg des Romans „Volk ohne Raum“ von Hans Grimm niederschlugen.
Heute ist Europa von umgekehrten Ängsten geplagt: Ein sich leerender Wohlstandsraum sauge riesenhafte Bevölkerungsüberschüsse armer Weltteile an. Begriffe wie „Umvolkung“, über den Umweg des französischen „Remplacement“ wieder salonfähig gemacht, kursieren mindestens bei der neuen Rechten. Und überhaupt sind es ja Zukunftsszenarien, von den „Grenzen des Wachstums“ bis zur „Klimakatastrophe“, die seit Jahrzehnten wichtige Politikfelder bestimmen.
Vor diesem Hintergrund bietet Hölschers erfreulich knappe, begrifflich präzise Darlegung eine Gelegenheit zur Abstandnahme, ja Abkühlung. Schon die Feststellung, dass Zukunft als Singular, als einheitlicher Vorstellungsraum, eine junge Errungenschaft der europäischen Menschheit ist, kann befreiend wirken.
Man muss sich dafür gar nicht den Kopf an zeitphilosophischen Problemen wunddenken: Gegenwart als unendlich kleiner Punkt, Vergangenheit als Verschwundenes und Unabänderliches, Zukunft als Offenes, noch Beeinflussbares, alles zusammen ungreifbar.
Der moderne Begriff der Zukunft setzt die Abkoppelung von der Naturzeit voraus, darüber hinaus die Stabilisierung großer Kommunikations- und Erfahrungsräume, ja den Begriff der Geschichte. Es geht also nicht einfach um „kommende Dinge“ oder das Weltgericht oder, am anderen Ende, um einzelne Lebenszeiten, sondern um Gesellschaft, am Ende Weltgesellschaft als Prozess, längst auch mit Blick auf Naturgeschichte und Kosmologie.
Diese Entstehung des Zukunftsbegriffs seit dem 17. Jahrhundert entfaltet Hölscher im ersten, anspruchsvollsten Teil. Nach der Öffnung dieses Raums kann es dann wieder bunter werden, mit den vielerlei Utopien, Geschichtsphilosophien, nationalstaatlichen oder globalen Hoffnungen und Ängsten, den Krisenszenarien um Krieg und Revolutionen herum.
Ob Hölschers Feststellung von Zukunftskonjunkturen um 1770, 1830, 1890 und 1960 wirklich haltbar ist, mag man angesichts der eher farbig-exemplarischen als breit datengestützten Darstellung dahingestellt sein lassen. Wichtiger ist die Beobachtung, dass sich im Moderneraum der Zukunft wissenschaftliche, ästhetische und politische Zukunftsimaginationen ausdifferenzieren, bis hin zu paradoxen Formen konservativer Zukunftsentwürfe einer „anderen Moderne“, die heute beispielsweise in der Ökologie weiterleben.
Längst gibt es eine Zukunftsforschung, die dem Zweck dient, krisenhaften Möglichkeiten vorzubeugen, also Zukunft nicht nur vorauszusehen, sondern zu verändern. Und je nach Ausgang verändert sich auch der Blick auf vergangene Zukunft: Schmollers Prognose ist lehrreich als Irrtum. Lucian Hölschers Buch profitiert, wie könnte es anders sein, von der Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks. Im Lexikon der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ erschienen die Einträge „Zeit“ und „Zukunft“, die Koselleck selbst hatte schreiben wollen, nicht mehr – zu groß und komplex schien das Material zu sein. Im Bücherregal kann nun dieses lesenswerte kleine Buch neben die schweren Lexikonbände eingereiht werden.
GUSTAV SEIBT
Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft. Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 371 Seiten, 29,80 Euro. E-Book 22,99 Euro.
Zukunftsszenarien werden von
„Grenzen des Wachstums“ und
der „Klimakatastrophe“ bestimmt
Die Moderne verträgt sogar
paradoxe Formen
„anderer Modernen“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»erfreulich knappe, begrifflich präzise Darlegung« (Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 17.06.2016) »sein Buch (reizt) zum Weiterforschen und Weiterdenken« (Joachim Radkau, sehepunkte, 15.03.2017)