Wachsende Scheidungsraten, steigende Jugendkriminalität, soziale Verwahrlosung, die Auflösung der Familie als Lebensform - das sind Befunde, die in den Vereinigten Staaten eine Gruppe von Sozialforschern und Philosophen vor einigen Jahren veranlaßt hat, ein "Kommunitaristisches Programm" zu verabschieden. Der prominenteste Vertreter dieser Gruppe, der amerikanische Soziologe Amitai Etzioni, erläutert die vieldiskutierten Thesen und zeigt an konkreten Beispielen, wie verantwortungsbereites Handeln eine Gesellschaft "von unten" verändern kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.1996Finger in der Wunde
Etzionis Sorge über die grenzenlose Pluralität der Gesellschaft
Amitai Etzioni: Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus. Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart 1995. 335 Seiten, 49,80 Mark.
Verheißungsvoll wirbt der Verlag auf dem Buchrücken mit einem Zitat der Sunday Times: Elektrisierend habe Etzionis Suche nach dem dritten Weg zwischen ausuferndem staatlichem Sozialsystem und ungezügelter Marktwirtschaft auf Politiker aus der ganzen Welt gewirkt. In der Tat haben sich nicht nur Bill Clinton und der republikanische Präsidentschaftskandidat Lamar Alexander, sondern auch Kurt Biedenkopf, Jacques Delors oder der britische Labour-Vorsitzende Tony Blair aufgeschlossen gegenüber den Ideen des Harvard-Soziologen gezeigt. Die Meßlatte liegt also hoch.
Was will die kommunitaristische Bewegung? Vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, in der sich der Egoismus ungezügelt entfaltet habe, plädiert Etzioni für mehr Gemeinschaftssinn. Anfang der neunziger Jahre gründete sich seine Bewegung. Die Kommunitarier sind überzeugt, das Individuum habe sich so sehr verselbständigt, daß die Gemeinschaft, ja sogar die öffentliche Sicherheit gefährdet seien. Der Sturz von Autoritäten und das radikale Infragestellen von traditionellen Werten in den siebziger Jahren habe zur moralischen Verwirrung breiter Schichten geführt. Das Wertevakuum sei der eigentliche Grund für die in Amerika herrschende Konfusion. Die Ehe entspreche einem Mietvertrag, der jederzeit fristgerecht gekündigt werden könne. Das Kosten-Nutzen-Denken habe in Bereiche Einzug gehalten, in denen es eigentlich nichts zu suchen habe. Nur so sei der Massenexodus beider Elternteile aus der häuslichen Verantwortung in die Berufswelt zu erklären. Drogen und Alkohol seien am Arbeitsplatz keine Seltenheit mehr. Gewalttätigkeit gehöre selbst auf den Schulhöfen zum Alltag. Lobbyisten hätten die politische Klasse fest im Griff, so daß bei Entscheidungen das Gemeinwohl eine untergeordnete Rolle spiele. Gleichzeitig sinke die Bereitschaft, Pflichten zu übernehmen, während die Forderung nach neuen Rechten gegenüber dem Staat immer weiter zunehme.
Um den Niedergang aufzuhalten, plädiert Etzioni für einen großen Dialog über diese Fragen. Ähnlich wie die ökologische Bewegung zu einem Umdenken geführt hat, soll durch den Kommunitarismus eine Rekonstruktion der Gemeinschaft herbeigeführt werden, die Wiederherstellung von Bürgertugenden, ein neues Verantwortungsbewußtsein der Menschen und die Stärkung der moralischen Grundlagen der Gesellschaft.
Etzioni wandelt auf den Spuren von Ferdinand Tönnies, der zu Beginn dieses Jahrhunderts als Merkmal der Massengesellschaft den Verlust von Gemeinschaft feststellte. Die Keimzelle eines Gemeinwesens aber ist die Familie. Der Drang zur Selbstverwirklichung (der oft zum Zwang wurde) habe, so der Autor, verheerende Folgen für den Zusammenhalt der Familie gehabt. Inzwischen ziehe eine Mehrheit der Amerikaner beruflichen Erfolg dem Einsatz für die Familie vor. Babysitter und Kindertagesstätten könnten die Kinder aber nicht zur Moral erziehen, sondern nur die Eltern selbst. Deshalb fordert Etzioni die Arbeitgeber dazu auf, Eltern maximale Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung zu gewähren. Bemerkenswert ist sein Gedanke, Scheidungen erheblich zu erschweren. "Wenn wir deutlich machen wollen, daß wir uns heute mehr um den Familienerhalt sorgen als in jener Blütezeit der Toleranz abweichenden Verhaltens, der Experimente in alternativen Lebensformen, der Antifamilienideologie, sollten wir die Scheidung erschweren."
Am amerikanischen Schulwesen beklagt Etzioni den Mangel an Charakterbildung. Jahrzehntelang sei der Wissensvermittlung der Vorrang vor der Wertevermittlung gegeben worden. Dabei denkt der Autor an grundsätzliche und eigentlich selbstverständliche Gebote wie Wahrhaftigkeit, Gewaltverzicht oder Verantwortungsbewußtsein. Sträflich sei die Erziehung zur Selbstdisziplin vernachlässigt worden. Junge Menschen aber bräuchten die innere Bereitschaft, ihre Kräfte für überzeugende Aufgaben einzusetzen. Erziehungserfahrung und Entwicklung von Selbstachtung, Selbstwertgefühl und Zukunftsorientierung sollten durch ein Jahr Dienst an der Gemeinschaft bei Hilfsorganisationen gestärkt werden. Die Egozentrik könnte so zurückgedrängt werden, soziale Tugenden wie Fleiß, Verantwortungsbewußtsein und Kooperationsfähigkeit gestärkt werden.
Vom Staat fordert Etzioni, freiwillige Aktivitäten zu fördern, bei der Stadtplanung kommunitäre Gedanken einzubeziehen und Ideen wie das Wiederbelebungsprogramm der Stadt Seattle zu unterstützen: Dort wurden über 400000 Einwohner in kardiopulmonaler Reanimation ausgebildet. Als Folge erhöhten sich die Überlebenschancen bei akuten Herzinfarktpatienten signifikant. Bewährt habe sich auch der Einsatz von Kontaktbereichsbeamten. Subjektiv, aber auch objektiv habe sich die Sicherheit in den betroffenen Wohnvierteln erhöht. Auch das öffentliche Anprangern von gemeinschaftsgefährdendem Fehlverhalten sei zu begrüßen. So wurde in Sarasota, Florida, ein Alkoholsünder dazu verdonnert, einen Sticker mit der Aufschrift "Wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt" an seinem Wagen anzubringen.
Etzionis Gegner sind die radikalen "Liberals", jene Gruppe des Ostküsten-Establishments, die nicht müde wird, die Freiheit des einzelnen über alles zu stellen. Ihre extremsten Vertreter lehnen sogar verschärfte Drogenkontrollen als Eingriff in die persönliche Freiheit ab. Etzioni, der selbst eigentlich den Demokraten zuzuordnen ist, muß für sie ein rotes Tuch sein. Denn viele in den siebziger Jahren erkämpfte Errungenschaften stellt er in Frage. Bei der Stellung zur Familie, der Bedeutung von Disziplin für die Erziehung, bei der Betonung staatsbürgerlicher Pflichten und durch seine Skepsis gegenüber einer multikulturellen Gesellschaft nimmt er Positionen ein, die ebensogut von Konservativen geäußert werden könnten. Ähnlich wie Arthur Schlesinger jr. in seinem aufsehenerregenden Essay "The disuniting of America" äußert Etzioni sich besorgt über die zunehmende Balkanisierung Amerikas durch die grenzenlose Pluralität einer multikulturellen Gesellschaft. Wenn einzelne Bevölkerungsgruppen ausschließlich selbstbezogen ihre eigenen Interessen und Wertvorstellungen durchsetzen, werde die Nation unweigerlich gespalten.
Der Verlust an Bindungen und verbindlichen Moralvorstellungen ist ein offenkundiges Defizit eines säkularisierten, modernen Gemeinwesens. Insofern legt Etzioni den Finger in eine Wunde. CHRISTIAN STRIEFLER
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Etzionis Sorge über die grenzenlose Pluralität der Gesellschaft
Amitai Etzioni: Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus. Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart 1995. 335 Seiten, 49,80 Mark.
Verheißungsvoll wirbt der Verlag auf dem Buchrücken mit einem Zitat der Sunday Times: Elektrisierend habe Etzionis Suche nach dem dritten Weg zwischen ausuferndem staatlichem Sozialsystem und ungezügelter Marktwirtschaft auf Politiker aus der ganzen Welt gewirkt. In der Tat haben sich nicht nur Bill Clinton und der republikanische Präsidentschaftskandidat Lamar Alexander, sondern auch Kurt Biedenkopf, Jacques Delors oder der britische Labour-Vorsitzende Tony Blair aufgeschlossen gegenüber den Ideen des Harvard-Soziologen gezeigt. Die Meßlatte liegt also hoch.
Was will die kommunitaristische Bewegung? Vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, in der sich der Egoismus ungezügelt entfaltet habe, plädiert Etzioni für mehr Gemeinschaftssinn. Anfang der neunziger Jahre gründete sich seine Bewegung. Die Kommunitarier sind überzeugt, das Individuum habe sich so sehr verselbständigt, daß die Gemeinschaft, ja sogar die öffentliche Sicherheit gefährdet seien. Der Sturz von Autoritäten und das radikale Infragestellen von traditionellen Werten in den siebziger Jahren habe zur moralischen Verwirrung breiter Schichten geführt. Das Wertevakuum sei der eigentliche Grund für die in Amerika herrschende Konfusion. Die Ehe entspreche einem Mietvertrag, der jederzeit fristgerecht gekündigt werden könne. Das Kosten-Nutzen-Denken habe in Bereiche Einzug gehalten, in denen es eigentlich nichts zu suchen habe. Nur so sei der Massenexodus beider Elternteile aus der häuslichen Verantwortung in die Berufswelt zu erklären. Drogen und Alkohol seien am Arbeitsplatz keine Seltenheit mehr. Gewalttätigkeit gehöre selbst auf den Schulhöfen zum Alltag. Lobbyisten hätten die politische Klasse fest im Griff, so daß bei Entscheidungen das Gemeinwohl eine untergeordnete Rolle spiele. Gleichzeitig sinke die Bereitschaft, Pflichten zu übernehmen, während die Forderung nach neuen Rechten gegenüber dem Staat immer weiter zunehme.
Um den Niedergang aufzuhalten, plädiert Etzioni für einen großen Dialog über diese Fragen. Ähnlich wie die ökologische Bewegung zu einem Umdenken geführt hat, soll durch den Kommunitarismus eine Rekonstruktion der Gemeinschaft herbeigeführt werden, die Wiederherstellung von Bürgertugenden, ein neues Verantwortungsbewußtsein der Menschen und die Stärkung der moralischen Grundlagen der Gesellschaft.
Etzioni wandelt auf den Spuren von Ferdinand Tönnies, der zu Beginn dieses Jahrhunderts als Merkmal der Massengesellschaft den Verlust von Gemeinschaft feststellte. Die Keimzelle eines Gemeinwesens aber ist die Familie. Der Drang zur Selbstverwirklichung (der oft zum Zwang wurde) habe, so der Autor, verheerende Folgen für den Zusammenhalt der Familie gehabt. Inzwischen ziehe eine Mehrheit der Amerikaner beruflichen Erfolg dem Einsatz für die Familie vor. Babysitter und Kindertagesstätten könnten die Kinder aber nicht zur Moral erziehen, sondern nur die Eltern selbst. Deshalb fordert Etzioni die Arbeitgeber dazu auf, Eltern maximale Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung zu gewähren. Bemerkenswert ist sein Gedanke, Scheidungen erheblich zu erschweren. "Wenn wir deutlich machen wollen, daß wir uns heute mehr um den Familienerhalt sorgen als in jener Blütezeit der Toleranz abweichenden Verhaltens, der Experimente in alternativen Lebensformen, der Antifamilienideologie, sollten wir die Scheidung erschweren."
Am amerikanischen Schulwesen beklagt Etzioni den Mangel an Charakterbildung. Jahrzehntelang sei der Wissensvermittlung der Vorrang vor der Wertevermittlung gegeben worden. Dabei denkt der Autor an grundsätzliche und eigentlich selbstverständliche Gebote wie Wahrhaftigkeit, Gewaltverzicht oder Verantwortungsbewußtsein. Sträflich sei die Erziehung zur Selbstdisziplin vernachlässigt worden. Junge Menschen aber bräuchten die innere Bereitschaft, ihre Kräfte für überzeugende Aufgaben einzusetzen. Erziehungserfahrung und Entwicklung von Selbstachtung, Selbstwertgefühl und Zukunftsorientierung sollten durch ein Jahr Dienst an der Gemeinschaft bei Hilfsorganisationen gestärkt werden. Die Egozentrik könnte so zurückgedrängt werden, soziale Tugenden wie Fleiß, Verantwortungsbewußtsein und Kooperationsfähigkeit gestärkt werden.
Vom Staat fordert Etzioni, freiwillige Aktivitäten zu fördern, bei der Stadtplanung kommunitäre Gedanken einzubeziehen und Ideen wie das Wiederbelebungsprogramm der Stadt Seattle zu unterstützen: Dort wurden über 400000 Einwohner in kardiopulmonaler Reanimation ausgebildet. Als Folge erhöhten sich die Überlebenschancen bei akuten Herzinfarktpatienten signifikant. Bewährt habe sich auch der Einsatz von Kontaktbereichsbeamten. Subjektiv, aber auch objektiv habe sich die Sicherheit in den betroffenen Wohnvierteln erhöht. Auch das öffentliche Anprangern von gemeinschaftsgefährdendem Fehlverhalten sei zu begrüßen. So wurde in Sarasota, Florida, ein Alkoholsünder dazu verdonnert, einen Sticker mit der Aufschrift "Wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt" an seinem Wagen anzubringen.
Etzionis Gegner sind die radikalen "Liberals", jene Gruppe des Ostküsten-Establishments, die nicht müde wird, die Freiheit des einzelnen über alles zu stellen. Ihre extremsten Vertreter lehnen sogar verschärfte Drogenkontrollen als Eingriff in die persönliche Freiheit ab. Etzioni, der selbst eigentlich den Demokraten zuzuordnen ist, muß für sie ein rotes Tuch sein. Denn viele in den siebziger Jahren erkämpfte Errungenschaften stellt er in Frage. Bei der Stellung zur Familie, der Bedeutung von Disziplin für die Erziehung, bei der Betonung staatsbürgerlicher Pflichten und durch seine Skepsis gegenüber einer multikulturellen Gesellschaft nimmt er Positionen ein, die ebensogut von Konservativen geäußert werden könnten. Ähnlich wie Arthur Schlesinger jr. in seinem aufsehenerregenden Essay "The disuniting of America" äußert Etzioni sich besorgt über die zunehmende Balkanisierung Amerikas durch die grenzenlose Pluralität einer multikulturellen Gesellschaft. Wenn einzelne Bevölkerungsgruppen ausschließlich selbstbezogen ihre eigenen Interessen und Wertvorstellungen durchsetzen, werde die Nation unweigerlich gespalten.
Der Verlust an Bindungen und verbindlichen Moralvorstellungen ist ein offenkundiges Defizit eines säkularisierten, modernen Gemeinwesens. Insofern legt Etzioni den Finger in eine Wunde. CHRISTIAN STRIEFLER
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