Produktdetails
- Verlag: Francke
- Seitenzahl: 300
- Deutsch
- Abmessung: 225mm
- Gewicht: 430g
- ISBN-13: 9783772021732
- Artikelnr.: 22169050
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.1997Abenteuer der Phantasielosen
Erika Fischer-Lichte stellt den Zuschauer auf die Bühne
Kein Zweifel, mit dem Theater ist in den letzten hundert Jahren etwas geschehen. Aber was? Die Theaterwissenschaftlerin Fischer-Lichte meint: das Theater hat den Zuschauer "entdeckt" und ins Bühnengeschehen einbezogen, und zwar auf so grundstürzende Weise neu, daß dieser Vorgang sich nur als "Paradigmenwechsel" angemessen beschreiben läßt; zum Beweis forstet sie die gesamte Theatergeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts durch.
Daß es mit dieser These nichts ist, darüber hätte die Autorin schon ein Blick in ihr eigenes Inhaltsverzeichnis belehren können. Gliedernd tauchen hier mit gebieterischer Ausschließlichkeit die Namen von Regisseuren auf - Reinhardt, Vachtangov, Eisenstein, Piscator, Heiner Müller, Artaud, Wilson, Zadek; von ihnen ist die Rede, sie sind die Stars. Die Namen der Bühnenautoren und der Schauspieler bilden demgegenüber bloße Fußnoten, und das Publikum, das hier angeblich im Mittelpunkt steht, fällt der Autorin nur von Zeit zu Zeit so ein, wie man sich einer unangenehmen Kleinigkeit erinnert, die man eigentlich hatte erledigen wollen. Der "Paradigmenwechsel", den Fischer-Lichtes Buch tatsächlich dokumentiert, ist der vom Schauspieler zum Regisseur als der Hauptperson des Theaters.
Denn wollte das Theater den Zuschauer entdecken, so wäre das ungefähr so, als wollte die Architektur die Schwerkraft entdecken. Der Zuschauer ist im Theater keine variable, beliebig heranziehbare Größe, so wenig wie der Körper des Schauspielers; vielmehr bilden beide zusammen die erzkonservative, naturgegründete Konstante, die das Theater weitgehend von jenen Erneuerungen ausgeschlossen hat, an denen, je nach der Veränderbarkeit ihrer ästhetischen Bedingungen, doch alle anderen Künste teilgehabt haben, selbst die Architektur und die Bildhauerei. (Ein Dramaturg, der mit der menschlichen Gestalt Entsprechendes machen wollte wie Henry Moore, käme wegen Körperverletzung vor Gericht.) Das Theater - und davon weiß die Theaterwissenschaftlerin, die einen Begriff wie "Illusion" völlig naiv verwendet und geringschätzig von der alten "Guckkastenbühne" spricht, offenbar wenig - lebt allein vom Schein: das heißt davon, daß die real anwesenden Körper der Schauspieler, die sich mit den Zuschauern doch dieselbe Atemluft teilen, dennoch etwas anderes bedeuten und daß darum eine absolute Scheidung von Zuschauer und Bühne besteht, die das Theater nur um den Preis seiner Vernichtung aufheben kann.
Die Verwandlungen, denen es sich desungeachtet unterwarf, haben es keineswegs an die Spitze der Avantgarde katapultiert (der Fischer-Lichte selbst ein solches Mainstream-Phänomen wie Max Reinhardt zurechnet) oder es gar zum "Ausweg aus der Kulturkrise" gemacht, wie die Autorin frohlockt. Sie sind vielmehr die aussichtslosen Anstrengungen einer panisch gewordenen Nachhut, den Anschluß nicht zu verpassen. Die Bühne hat ihr ureigenes Mittel, den leibhaftigen Schauspieler in seiner Rolle, geringschätzig neben eine bunte und dröhnende Apparatur gestellt, die ihm mehr und mehr über den Kopf wächst. Sie hat sich verwirrt und schmarotzerisch an fremde Künste angehängt: an die Scheinlosigkeit des Zirkus, der auf realer Leistung beruht, und an die Geisterhaftigkeit des Films, der die Toten zu erscheinen zwingt.
Daß die Theatergeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts die Geschichte einer notwendig mißglückten Modernisierung gewesen ist, dieser Befund läßt sich, wenn man nur will, aus Fischer-Lichtes Buch herauslesen; besonders aus dem Piscator-Kapitel, das von der Übermächtigkeit der filmischen Dokumentation und von scheppernder, unzuverlässiger Bühnentechnik berichtet sowie kleinlaut zugeben muß, daß der angestrebte politische Zweck des epischen Theaters wohl verfehlt wurde, weil die Zuschauer, nun eben, zuschauten. Aber Fischer-Lichte will das durchaus nicht wissen, sondern behauptet unverzagt, es sei von hier ein "die westliche Kultur radikal verändernder, irreversibler Impuls" ausgegangen, und Piscators Theater habe "in diesem Sinne" eine Kulturrevolution vollzogen.
Diese Arbeit ist mit Besinnungslosigkeit darüber geschlagen, was ihren Gegenstand ausmacht. Die Hauptbegriffe ihrer Gliederung liegen durchaus nicht auf derselben kategorialen Ebene. Die "Ästhetische Wahrnehmung" des ersten Teils ist ein weißer Schimmel, die "Montage" des zweiten so unbrauchbar weit gefaßt, daß sie den "ursprünglichen Synkretismus" des Gesamtkunstwerks ebenso einschließt wie die disparaten Techniken der Revue. An einem Mangel an Theorie liegt das nicht; vielmehr hat Fischer-Lichte sich an allen Schlagern der letzten dreißig Jahre üppig bedient. Es fehlt weder die "Rezeptionsästhetik" noch die "Interkulturalität", weder die "Metakommunikation" noch die "Dekonstruktion", und auch nicht die "strukturale Analyse". Der allegorische Benjamin kommt ebenso zu seinem Recht wie die "conditio humana", und natürlich gibt es auch das berühmte Abenteuer der Phantasielosen, die "Grenzgänge". Das besticht nicht, wie eine im Anhang zitierte Pressestimme rühmt, als gelungene Synthese, sondern verdrießt als ein heilloses Kuddelmuddel, dem jeder ernsthafte Wille zur Erkenntnis abhanden gekommen ist.
Vor allem aber offenbart sich solche Besinnungslosigkeit im Stil, in dem das Buch geschrieben ist. An einer Stelle wird Nietzsche zitiert, der darüber klagt, wie die Sprache, zum Gedanken gezwungen, "nun gerade Das nicht mehr zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da ist: um über die einfachsten Lebensnöthe die Leidenden miteinander zu verständigen". Fischer-Lichte, die dies unklar zu finden scheint, sieht sich zu folgender Erklärung herausgefordert: "(...) läßt sich die Krankheit der Sprache dahingehend diagnostizieren, daß sie von einem polyfunktionalen, ambivalenten semiotischen System zu einer begrenzten und auch nur begrenzt anwendbaren Fachsprache degeneriert ist". Zumindest an dieser Stelle ist das Buch vollkommen auf der Höhe des Problems, das es darstellt. BURKHARD MÜLLER
Erika Fischer-Lichte: "Die Entdeckung des Zuschauers". Paradigmenwechsel auf dem Theater des zwanzigsten Jahrhunderts. Francke Verlag, Tübingen und Basel 1997. 300 S., br., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erika Fischer-Lichte stellt den Zuschauer auf die Bühne
Kein Zweifel, mit dem Theater ist in den letzten hundert Jahren etwas geschehen. Aber was? Die Theaterwissenschaftlerin Fischer-Lichte meint: das Theater hat den Zuschauer "entdeckt" und ins Bühnengeschehen einbezogen, und zwar auf so grundstürzende Weise neu, daß dieser Vorgang sich nur als "Paradigmenwechsel" angemessen beschreiben läßt; zum Beweis forstet sie die gesamte Theatergeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts durch.
Daß es mit dieser These nichts ist, darüber hätte die Autorin schon ein Blick in ihr eigenes Inhaltsverzeichnis belehren können. Gliedernd tauchen hier mit gebieterischer Ausschließlichkeit die Namen von Regisseuren auf - Reinhardt, Vachtangov, Eisenstein, Piscator, Heiner Müller, Artaud, Wilson, Zadek; von ihnen ist die Rede, sie sind die Stars. Die Namen der Bühnenautoren und der Schauspieler bilden demgegenüber bloße Fußnoten, und das Publikum, das hier angeblich im Mittelpunkt steht, fällt der Autorin nur von Zeit zu Zeit so ein, wie man sich einer unangenehmen Kleinigkeit erinnert, die man eigentlich hatte erledigen wollen. Der "Paradigmenwechsel", den Fischer-Lichtes Buch tatsächlich dokumentiert, ist der vom Schauspieler zum Regisseur als der Hauptperson des Theaters.
Denn wollte das Theater den Zuschauer entdecken, so wäre das ungefähr so, als wollte die Architektur die Schwerkraft entdecken. Der Zuschauer ist im Theater keine variable, beliebig heranziehbare Größe, so wenig wie der Körper des Schauspielers; vielmehr bilden beide zusammen die erzkonservative, naturgegründete Konstante, die das Theater weitgehend von jenen Erneuerungen ausgeschlossen hat, an denen, je nach der Veränderbarkeit ihrer ästhetischen Bedingungen, doch alle anderen Künste teilgehabt haben, selbst die Architektur und die Bildhauerei. (Ein Dramaturg, der mit der menschlichen Gestalt Entsprechendes machen wollte wie Henry Moore, käme wegen Körperverletzung vor Gericht.) Das Theater - und davon weiß die Theaterwissenschaftlerin, die einen Begriff wie "Illusion" völlig naiv verwendet und geringschätzig von der alten "Guckkastenbühne" spricht, offenbar wenig - lebt allein vom Schein: das heißt davon, daß die real anwesenden Körper der Schauspieler, die sich mit den Zuschauern doch dieselbe Atemluft teilen, dennoch etwas anderes bedeuten und daß darum eine absolute Scheidung von Zuschauer und Bühne besteht, die das Theater nur um den Preis seiner Vernichtung aufheben kann.
Die Verwandlungen, denen es sich desungeachtet unterwarf, haben es keineswegs an die Spitze der Avantgarde katapultiert (der Fischer-Lichte selbst ein solches Mainstream-Phänomen wie Max Reinhardt zurechnet) oder es gar zum "Ausweg aus der Kulturkrise" gemacht, wie die Autorin frohlockt. Sie sind vielmehr die aussichtslosen Anstrengungen einer panisch gewordenen Nachhut, den Anschluß nicht zu verpassen. Die Bühne hat ihr ureigenes Mittel, den leibhaftigen Schauspieler in seiner Rolle, geringschätzig neben eine bunte und dröhnende Apparatur gestellt, die ihm mehr und mehr über den Kopf wächst. Sie hat sich verwirrt und schmarotzerisch an fremde Künste angehängt: an die Scheinlosigkeit des Zirkus, der auf realer Leistung beruht, und an die Geisterhaftigkeit des Films, der die Toten zu erscheinen zwingt.
Daß die Theatergeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts die Geschichte einer notwendig mißglückten Modernisierung gewesen ist, dieser Befund läßt sich, wenn man nur will, aus Fischer-Lichtes Buch herauslesen; besonders aus dem Piscator-Kapitel, das von der Übermächtigkeit der filmischen Dokumentation und von scheppernder, unzuverlässiger Bühnentechnik berichtet sowie kleinlaut zugeben muß, daß der angestrebte politische Zweck des epischen Theaters wohl verfehlt wurde, weil die Zuschauer, nun eben, zuschauten. Aber Fischer-Lichte will das durchaus nicht wissen, sondern behauptet unverzagt, es sei von hier ein "die westliche Kultur radikal verändernder, irreversibler Impuls" ausgegangen, und Piscators Theater habe "in diesem Sinne" eine Kulturrevolution vollzogen.
Diese Arbeit ist mit Besinnungslosigkeit darüber geschlagen, was ihren Gegenstand ausmacht. Die Hauptbegriffe ihrer Gliederung liegen durchaus nicht auf derselben kategorialen Ebene. Die "Ästhetische Wahrnehmung" des ersten Teils ist ein weißer Schimmel, die "Montage" des zweiten so unbrauchbar weit gefaßt, daß sie den "ursprünglichen Synkretismus" des Gesamtkunstwerks ebenso einschließt wie die disparaten Techniken der Revue. An einem Mangel an Theorie liegt das nicht; vielmehr hat Fischer-Lichte sich an allen Schlagern der letzten dreißig Jahre üppig bedient. Es fehlt weder die "Rezeptionsästhetik" noch die "Interkulturalität", weder die "Metakommunikation" noch die "Dekonstruktion", und auch nicht die "strukturale Analyse". Der allegorische Benjamin kommt ebenso zu seinem Recht wie die "conditio humana", und natürlich gibt es auch das berühmte Abenteuer der Phantasielosen, die "Grenzgänge". Das besticht nicht, wie eine im Anhang zitierte Pressestimme rühmt, als gelungene Synthese, sondern verdrießt als ein heilloses Kuddelmuddel, dem jeder ernsthafte Wille zur Erkenntnis abhanden gekommen ist.
Vor allem aber offenbart sich solche Besinnungslosigkeit im Stil, in dem das Buch geschrieben ist. An einer Stelle wird Nietzsche zitiert, der darüber klagt, wie die Sprache, zum Gedanken gezwungen, "nun gerade Das nicht mehr zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da ist: um über die einfachsten Lebensnöthe die Leidenden miteinander zu verständigen". Fischer-Lichte, die dies unklar zu finden scheint, sieht sich zu folgender Erklärung herausgefordert: "(...) läßt sich die Krankheit der Sprache dahingehend diagnostizieren, daß sie von einem polyfunktionalen, ambivalenten semiotischen System zu einer begrenzten und auch nur begrenzt anwendbaren Fachsprache degeneriert ist". Zumindest an dieser Stelle ist das Buch vollkommen auf der Höhe des Problems, das es darstellt. BURKHARD MÜLLER
Erika Fischer-Lichte: "Die Entdeckung des Zuschauers". Paradigmenwechsel auf dem Theater des zwanzigsten Jahrhunderts. Francke Verlag, Tübingen und Basel 1997. 300 S., br., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main