Anthony Giddens hielt im Jahre 1999 die Reith Lectures - von der BBC gesendet und sich folglich an ein großes Publikum wendend. Er sprach über sein Thema, die Globalisierung. In ihrem Zuge hat sich unsere Welt entfesselt. Alle, an jedem Platz der Erde, gleichgültig, ob arm oder reich, sind ihren Folgen ausgesetzt. Die Risiken, die sie für den Einzelnen birgt, nehmen in unbekanntem Ausmaß zu. Die Globalisierung erfordert Veränderungen in unserem Demokratieverständnis, stellt neue Anforderungen an die Familien und verlangt, so Giddens, eine kosmopolitische Einstellung, damit die Welt nicht im Chaos des Fundamentalismus unter, schiedlichster Spielart versinkt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2001Wer bei Giddens auf Durchzug stellt
Mit Büchern ist es wie mit Menschen: Wichtiger als das, was sie sagen, ist doch immer wieder, wie sie es sagen. Ob wir uns in ihrer Gegenwart wohl fühlen oder unangenehm berührt fühlen, ist das Entscheidende. Genau dies kriegen wir am zuverlässigsten dadurch heraus, daß wir die Ohren zunächst einmal auf Durchzug stellen. Daß wir allein den Tonfall des Gesagten, den Zungenschlag des Geschriebenen auf uns wirken lassen und die Inhalte fürs erste bewußt überhören. In dieser Phase entscheidet sich im allgemeinen, ob der Mensch oder das Buch uns etwas zu sagen hat. Jeder kennt das von der Märchenlektüre: Hingen wir nicht lange frühe Jahre an jedem Buchstaben der aufs freundlichste illustrierten Frau Holle, obwohl doch ihr Gottesurteil über die Pechmarie nicht eben milde ausfiel, während uns die im schlecht geflickten Pott wohnende Ilsebil - "die nit so will, wie ick es will" - den Fischer und seine Frau aufs nachhaltigste verleidet hat? Mit diesem Menschenrecht auf ungerechtes Rezeptionsverhalten müssen alte wie neue Märchen rechnen, so auch das neue von Anthony Giddens ("Entfesselte Welt". Wie die Globalisierung unser Leben verändert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 115 S., br., 16,90 DM). Wie die Globalisierung unser Leben verändert, will man spätestens seit Genua genauer wissen, und so stellt man die Ohren denn auch erst einmal bereitwillig auf Durchzug, um allein anhand des Tonfalls zu prüfen, ob Giddens "Entfesselte Welt" uns zu fesseln vermag. Es ist das Scheppern eines einzigen Satzes, das alles weitere verdirbt: "Meiner Auffassung nach muß man vernünftigerweise anerkennen, daß Gesellschaften der Tradition bedürfen." Das ist so ja sicher nicht verkehrt. Aber wird hier nicht doch ein falscher Akzent gesetzt, wenn es - wie bei Giddens - um die Motivstruktur der Traditionsbildung geht? Wird mit einem solch gönnerhaften Zungenschlag, der in der Bewahrung des Überlieferten lediglich ein funktionales Vernunfterfordernis sieht, nicht schon alles zerstört, was eine Tradition am Leben zu erhalten vermag? Denn natürlich werden Traditionen nur sekundär von "Gesellschaften" gestiftet, primär sind es die Individuen, die wiederum Überliefertes nur insoweit lebendig erhalten, als es ihnen gelingt, die funktionale Perspektive auszublenden. Der schwarze Block von Genua hat - mit falschen Mitteln, gewiß - ebendiesen Ton des Unbedingten getroffen, den Giddens funktionalistisch neutralisieren möchte. Um den Einwand gegen Giddens anhand der von ihm gewählten Beispiele Ehe und Religion zu verdeutlichen: Man heiratet doch nicht, weil man die Ehe als ein gesellschaftlich notwendiges Traditionsgut betrachtet; auch wird man aus einem solchen Grund keinen tradierten religiösen Glauben praktizieren oder sonst eine lokale Tradition über die globalisierte Zeit hinweg retten wollen. Vielmehr muß, wer sich als Soziologe oder Philosoph einen Reim auf ein derart traditionsgeleitetes Verhalten machen möchte, die Binnenperspektive des Individuums rekonstruieren, statt mit der Frage "Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?" bei der Außenperspektive anzusetzen. Odo Marquard hat hier solide Vorarbeit geleistet, als er in seiner "Philosophie des Stattdessen" das Phänomen der Traditionsbildung mit der Kürze des Lebens erklärte: für zuviel Veränderung sei das Menschenleben einfach zu kurz, weswegen der einzelne eine eiserne Ration des Vertrauten anlegt, die er sodann analog zum Teddybären seiner Kindheit als transitional object durchs Leben trägt. Im Blick auf Ehe und Religion erklärt Marquard, daß gerade in einer Welt der hohen Innovationsgeschwindigkeit alte Lebensformen am wenigsten veraltungsanfällig sind, eben weil sie schon alt sind: "Je schneller das Neueste zum Alten wird, desto schneller kann Altes wieder zum Neuesten werden; jeder weiß das, der nur ein wenig länger schon lebt." Hält die Traditionsanalyse im Zeichen des Teddybären nicht eindeutig die flauschigere Metapher bereit? Nachdem man die Ohren eine Weile methodologisch auf Durchzug gestellt hatte, kann man sie jetzt wieder aufsperren. Und siehe: allen Schrecklichkeiten der Normalität zum Trotz, die zu unterschlagen nicht redlich wäre, fühlt man sich bei Marquard wie in Frau Holles Schoß. Bei Giddens dagegen bleibt man - während die Winde der Globalisierung durch die Biographie peitschen - in dem zugigen Pott vom Fischer und seiner Frau sitzen.
CHRISTIAN GEYER
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Mit Büchern ist es wie mit Menschen: Wichtiger als das, was sie sagen, ist doch immer wieder, wie sie es sagen. Ob wir uns in ihrer Gegenwart wohl fühlen oder unangenehm berührt fühlen, ist das Entscheidende. Genau dies kriegen wir am zuverlässigsten dadurch heraus, daß wir die Ohren zunächst einmal auf Durchzug stellen. Daß wir allein den Tonfall des Gesagten, den Zungenschlag des Geschriebenen auf uns wirken lassen und die Inhalte fürs erste bewußt überhören. In dieser Phase entscheidet sich im allgemeinen, ob der Mensch oder das Buch uns etwas zu sagen hat. Jeder kennt das von der Märchenlektüre: Hingen wir nicht lange frühe Jahre an jedem Buchstaben der aufs freundlichste illustrierten Frau Holle, obwohl doch ihr Gottesurteil über die Pechmarie nicht eben milde ausfiel, während uns die im schlecht geflickten Pott wohnende Ilsebil - "die nit so will, wie ick es will" - den Fischer und seine Frau aufs nachhaltigste verleidet hat? Mit diesem Menschenrecht auf ungerechtes Rezeptionsverhalten müssen alte wie neue Märchen rechnen, so auch das neue von Anthony Giddens ("Entfesselte Welt". Wie die Globalisierung unser Leben verändert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 115 S., br., 16,90 DM). Wie die Globalisierung unser Leben verändert, will man spätestens seit Genua genauer wissen, und so stellt man die Ohren denn auch erst einmal bereitwillig auf Durchzug, um allein anhand des Tonfalls zu prüfen, ob Giddens "Entfesselte Welt" uns zu fesseln vermag. Es ist das Scheppern eines einzigen Satzes, das alles weitere verdirbt: "Meiner Auffassung nach muß man vernünftigerweise anerkennen, daß Gesellschaften der Tradition bedürfen." Das ist so ja sicher nicht verkehrt. Aber wird hier nicht doch ein falscher Akzent gesetzt, wenn es - wie bei Giddens - um die Motivstruktur der Traditionsbildung geht? Wird mit einem solch gönnerhaften Zungenschlag, der in der Bewahrung des Überlieferten lediglich ein funktionales Vernunfterfordernis sieht, nicht schon alles zerstört, was eine Tradition am Leben zu erhalten vermag? Denn natürlich werden Traditionen nur sekundär von "Gesellschaften" gestiftet, primär sind es die Individuen, die wiederum Überliefertes nur insoweit lebendig erhalten, als es ihnen gelingt, die funktionale Perspektive auszublenden. Der schwarze Block von Genua hat - mit falschen Mitteln, gewiß - ebendiesen Ton des Unbedingten getroffen, den Giddens funktionalistisch neutralisieren möchte. Um den Einwand gegen Giddens anhand der von ihm gewählten Beispiele Ehe und Religion zu verdeutlichen: Man heiratet doch nicht, weil man die Ehe als ein gesellschaftlich notwendiges Traditionsgut betrachtet; auch wird man aus einem solchen Grund keinen tradierten religiösen Glauben praktizieren oder sonst eine lokale Tradition über die globalisierte Zeit hinweg retten wollen. Vielmehr muß, wer sich als Soziologe oder Philosoph einen Reim auf ein derart traditionsgeleitetes Verhalten machen möchte, die Binnenperspektive des Individuums rekonstruieren, statt mit der Frage "Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?" bei der Außenperspektive anzusetzen. Odo Marquard hat hier solide Vorarbeit geleistet, als er in seiner "Philosophie des Stattdessen" das Phänomen der Traditionsbildung mit der Kürze des Lebens erklärte: für zuviel Veränderung sei das Menschenleben einfach zu kurz, weswegen der einzelne eine eiserne Ration des Vertrauten anlegt, die er sodann analog zum Teddybären seiner Kindheit als transitional object durchs Leben trägt. Im Blick auf Ehe und Religion erklärt Marquard, daß gerade in einer Welt der hohen Innovationsgeschwindigkeit alte Lebensformen am wenigsten veraltungsanfällig sind, eben weil sie schon alt sind: "Je schneller das Neueste zum Alten wird, desto schneller kann Altes wieder zum Neuesten werden; jeder weiß das, der nur ein wenig länger schon lebt." Hält die Traditionsanalyse im Zeichen des Teddybären nicht eindeutig die flauschigere Metapher bereit? Nachdem man die Ohren eine Weile methodologisch auf Durchzug gestellt hatte, kann man sie jetzt wieder aufsperren. Und siehe: allen Schrecklichkeiten der Normalität zum Trotz, die zu unterschlagen nicht redlich wäre, fühlt man sich bei Marquard wie in Frau Holles Schoß. Bei Giddens dagegen bleibt man - während die Winde der Globalisierung durch die Biographie peitschen - in dem zugigen Pott vom Fischer und seiner Frau sitzen.
CHRISTIAN GEYER
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