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Die Zahl der Bücher über die Verbrechen des NS-Regimes, namentlich den Holocaust an den Juden, ist Legion. Dennoch fehlt es bis heute an einer befriedigenden, schlüssigen Erklärung der Genese dieses Menschheitsverbrechens. Die Deutungsversuche reichen vom systematisch verfolgten Masterplan bis zur willkürlichen, spontanen Eskalation antijüdischer Maßnahmen im Chaos des Kriegsgeschehens. Der amerikanische Historiker Christopher Browning, einer der führenden Holocaust-Forscher mit internationalem Renommee, legt nun die seit vielen Jahren erste große, umfassende, die neueste Forschung souverän…mehr

Produktbeschreibung
Die Zahl der Bücher über die Verbrechen des NS-Regimes, namentlich den Holocaust an den Juden, ist Legion. Dennoch fehlt es bis heute an einer befriedigenden, schlüssigen Erklärung der Genese dieses Menschheitsverbrechens. Die Deutungsversuche reichen vom systematisch verfolgten Masterplan bis zur willkürlichen, spontanen Eskalation antijüdischer Maßnahmen im Chaos des Kriegsgeschehens. Der amerikanische Historiker Christopher Browning, einer der führenden Holocaust-Forscher mit internationalem Renommee, legt nun die seit vielen Jahren erste große, umfassende, die neueste Forschung souverän integrierende Darstellung der komplexen Radikalisierung der NS-Judenpolitik vor, die sich zwischen dem Kriegsbeginn 1939 und der 1942 einsetzenden systematischen Ermordung aller europäischen Juden in Vernichtungslagern vollzog. Er schildert den engen Zusammenhang dieser Eskalation mit dem für das NS-Regime anfangs siegreichen Kriegsverlauf und verweist auf die zentrale Rolle Hitlers bei der Entfesselung der genozidalen "Endlösung". Brownings Werk, das gleichzeitig in zahlreichen Ländern erscheint, kann schon jetzt als Meilenstein der Holocaust-Forschung gelten. Der Band enthält ein Kapitel von Jürgen Matthäus, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D. C. "Dieses Werk stellt die mit Abstand gründlichste Analyse des Entscheidungsprozesses dar, der zur Ermordung der Juden im nationalsozialistisch besetzten Europa führte. Ein Werk von solchem Gewicht wird zweifellos für Jahrzehnte Bestand haben."raul hilberg, der Nestor der Holocaust-Forschung
Wie kam es zur systematischen Ermordung der europäischen Juden in Vernichtungslagern durch die Nationalsozialisten?
Diese in einer unüberschaubaren Flut von Einzelstudien immer wieder erörterte Frage wird nun von Christopher Browning, weltweit einer der besten Kenner der Holocaust-Forschung, in einer großen, das Geschehen detailliert nachzeichnenden Gesamtdarstellung überzeugend beantwortet - das neue internationale Standardwerk zur Genese der "Endlösung".
Autorenporträt
Christopher R. Browning, geb. 1944, ist Professor für Geschichte an der Pacific Lutheran Unversity, Tacoma, Wahington.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2003

Wie der Massenmord Gestalt annahm
Die Nationalsozialisten benutzten Osteuropa als Experimentierfeld für ihre wahnsinnigen bevölkerungspolitischen Pläne
CHRISTOPHER BROWNING: Die Entfesselung der „Endlösung”. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942. Propyläen Verlag, München 2003. 832 Seiten, 35 Euro.
Seit die Öffnung der osteuropäischen Archive einen eindrucksvollen Forschungsstrom von Spezialstudien zur nationalsozialistischen Judenverfolgung an den Schauplätzen des Massenmords hervorrief, haben selbst Experten Mühe, den Überblick zu bewahren. „Viele neue Bäume” seien gewachsen, allerdings habe „der Wald” noch keineswegs klare Konturen, kommentierte denn auch Christopher Browning in einer Vorlesungsreihe an der Cambridge University vor vier Jahren die Entwicklung.
Nun ist es dieser amerikanische Historiker und vielfach ausgezeichnete Kenner der nationalsozialistischen Judenpolitik, der die Flut jüngster historiographischer Studien über den Massenmord an den europäischen Juden der Systematisierung und Konturierung unterzieht und in seine ebenso dichte wie akribische Analyse der Zusammenhänge integriert. Browning, seit kurzem Professor an der University of North Carolina in Chapel Hill, legt ein konzeptionell wie stilistisch faszinierendes Buch vor, das sich an Fachleute ebenso richtet wie an interessierte Laien; im Jahr der amerikanischen Originalausgabe bereits ins Deutsche und in andere Sprachen übersetzt, ist es ohne Zweifel ein Standardwerk der Holocaust-Forschung.
Der Blick der Opfer
Die „Entfesselung der Endlösung” bildet den Auftaktband einer von der Gedenkstätte Yad Vashem herausgegebenen, mehrgliedrigen Geschichte des Holocaust, von der allein drei Bände dem politischen Entscheidungsprozess gewidmet sind. Der „neue Browning” ist jedoch keine Gesamtdarstellung des Judenmords; die Vorkriegszeit und die Phase der Realisierung des Massenmords bleiben ausgespart, und auch die Untersuchung der Perspektive der Opfer ist einem eigenen Band vorbehalten.
Anders als Peter Longerich, der (als erster deutscher Wissenschaftler) vor sechs Jahren eine Gesamtgeschichte antijüdischer Politik im Dritten Reich vorlegte, nimmt Browning nur einen Ausschnitt in den Blick: die entscheidende, vom Autor in stupender Deutungssouveränität ausgeleuchtete, aufgrund uneindeutiger Quellenlage teilweise jedoch nicht abschließend zu klärende Phase zwischen September 1939 und März 1942. Eindrucksvoll sind nicht nur Brownings umfassende Forschungs- und Quellenkenntnis, seine analytische Schärfe und seine Offenheit gegenüber abweichenden Interpretationen, sondern auch seine Würdigung insbesondere jüngerer Wissenschaftler.
Der Autor breitet auf mehr als 800 Seiten eine an anschaulichen Details reiche Schilderung der überaus komplexen Ereignisketten jener 30 Monate permanenter Radikalisierung aus, in denen der Massenmord an den europäischen Juden Gestalt annahm. Nach einem eher kursorischen Überblick über die Wurzeln des Antisemitismus in Deutschland und den Judenhass Adolf Hitlers untersucht Browning das eroberte Polen als Experimentierfeld radikaler bevölkerungspolitischer Pläne. Das Ziel antijüdischen Vorgehens zum Zweck der „Germanisierung” des eroberten Terrains war die Vertreibung. Die „Judenpolitik” – wie das dritte Kapitel expliziert – ging überhaupt aus der Siedlungspolitik hervor, „Reservatslösungen” von zunehmend radikalerer Dimension wurden damit in Gang gesetzt. All das wurde von der Forschung zwar lange vernachlässigt, ist mittlerweile aber unumstritten.
Kennzeichen der Ghettoisierungspolitik im besetzten Polen war der Dauerkonflikt zwischen den auf Vernichtung zielenden „Aushungerungsstrategen” unter den deutschen Funktionären der Judenpolitik und den auf die jüdische Arbeitskraft setzenden „Produktionsbefürwortern”. Browning deutet die Ghettoisierung als Konsequenz aus den gescheiterten Deportationsplänen und wendet sich dezidiert gegen eine Interpretation, wonach die (keineswegs einheitliche) Schließung der Ghettos bereits ein erster Schritt zur systematischen Vernichtung war.
Der funktionale, über Personal- und Technologietransfer weit hinausgehende Zusammenhang von Euthanasie und Judenmord steht im Mittelpunkt des fünften Kapitels, das den Blick auf die systematischen Krankenmorde im besetzten Westpolen lenkt. Wenngleich Polen und die Sowjetunion die geographischen Schwerpunkte des Buches bilden, werden weder die west- noch die südosteuropäische Einflusssphäre deutscher Judenpolitik ganz vernachlässigt.
Eine wichtige, wenngleich noch keinen Wendepunkt markierende Zäsur im langwierigen, sich stufenweise entwickelnden Prozess zum Massenmord sehen Browning und sein im sechsten und siebten Kapitel zugezogener (der jüngeren Forschergeneration angehörender) Mitautor Jürgen Matthäus im Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion. Mit dem Überfall auf das Land ging zwar ein massiver Radikalisierungsschub einher, jedoch endete das auf Vertreibung ausgerichtete antijüdische Vorgehen vorerst nicht. Als die Einsatzgruppen von Juli/August 1941 an auch jüdische Frauen und Kinder erschossen, war ein letztes Tabu gebrochen und ein entscheidender Schritt zum systematischen Massenmord vollzogen. Gleichwohl bestand über Zeitplan, Vorgehensweise und Mittel noch kein einheitliches Konzept. Die Massaker variierten von Region zu Region; standardisierte Tötungsabläufe etablierten sich aber, und SS, Polizei sowie Wehrmacht arbeiteten Hand in Hand. Matthäus nimmt die Massenerschießungen minutiös in den Blick und fragt nach der Mentalität der Täter, der Bedeutung ihrer ideologischen Indoktrination. Er gibt eine souveräne Deutung der durch lokale Initiativen wachsenden Radikalität, welche die Berliner Behörden im Rahmen „kontrollierter Eskalation” eher zu begrenzen suchten.
Das Verhältnis zwischen der „Zentrale” in Berlin und den Befehlshabern an den Schauplätzen des Massenmords in der „Peripherie” ist eine der kontrovers diskutierten Fragen der Holocaustforschung. Weitere Diskussionspunkte sind die Bedeutung der militärischen Entwicklung des Krieges gegen die Sowjetunion für die Entfesselung des systematischen Massenmords – und auch die zeitliche Fixierung von Wendepunkten im Entscheidungsprozess der „Endlösung”.
Browning vertritt seit längerem eine den neueren Studien zuwiderlaufende Interpretationslinie, die er hier fortentwickelt, nuanciert und zuspitzt. Indem er radikalisierenden Eigeninitiativen aus der „Peripherie” weitaus weniger Bedeutung zumisst als die jüngste Forschung, lenkt er den Blick auf Adolf Hitler selbst. Dem Diktator spricht er eine aktive Rolle im Mordprozess zu: nicht nur als wichtigster Legitimationsinstanz antijüdischer Gewalt, sondern auch als unmittelbarem Befehlsgeber.
Wenngleich Browning nicht von einem zu einem bestimmten Zeitpunkt getroffenen „Grundsatzentscheid” ausgeht, setzt er Wendepunkte im Entscheidungsprozess in unmittelbaren Bezug zu Hitler: Dieser habe der Judenpolitik Mitte Juli 1941 mit Ausführungen über einen in der Sowjetunion zu schaffenden „Garten Eden” systematische Form verliehen, den die Deutschen nie mehr verlassen und deren einheimische Bevölkerung sie „ausrotten” würden.
Kaum zu überschätzende Bedeutung besitzt nach Browning zudem der „Führerbefehl” vom September 1941, das Altreich bis Jahresende „judenfrei” zu machen. Hitler, der in der Regel lediglich signalisierte, was er wünschte, und seine Satrapen zu diensteifriger Erfüllung anstachelte, befahl damit nichts weniger als die Ausweitung des Mordprogramms von den sowjetischen Juden auf alle Juden im deutschen Machtbereich.
Anders als beispielsweise Longerich, der die Phase der Weichenstellung erst im Frühsommer 1942 abgeschlossen sieht, wertet Browning die, wie er einräumt, durchaus „zweideutigen” Monate zwischen Juli und Oktober 1941 als Zeit der definitiven Entscheidung. Die so genannte Euphoriethese befürwortend, legt er dar, dass Hitlers Entschluss zum systematischen Massenmord vor dem Hintergrund der Siegesgewissheit über die Sowjetunion fiel.
Schließlich geht es ihm um die von Oktober 1941 an ins Werk gesetzten Deportationen aus deutschen Großstädten, die Erschießungen deutscher Juden in Riga, Kaunas und Minsk, die Einbeziehung der Bürokratie in den „Endlösungsprozess”. In diesem Kontext sind die Ermächtigung Heydrichs zum Organisator der „Endlösung” und die Wannsee-Konferenz neu zu interpretieren, ebenso wie die im Rahmen der hier erstmals dargelegten „Konvergenz von Deportation und Vergasung” vorangetriebene Entstehung der ersten Vernichtungslager. Brownings Chronologie endet im März 1942, als der administrative Vorgang abgeschlossen war und das systematische Morden begann.
Die viel diskutierte Entscheidungsfindung kann Browning in wichtigen Aspekten, die zum Teil zwar spekulativ bleiben müssen, neu konturieren. Eines ist sicher: Der Forschung gibt der Autor einmal mehr Anlass zu lebhafter Diskussion. Auffallend sind manche ungeschickten, womöglich der Übersetzung geschuldeten Termini (wie der vom jüdischen „Schicksal”) und der sparsame, wenig plausible Einsatz distanzierender Anführungszeichen etwa bei dem Begriff „Rassenmaterial”.
In einem Aspekt versäumt es Browning, seine Befunde mit der gewohnten Analysekraft zu präsentieren: Die Haltung der deutschen Bevölkerung zum Judenmord wird auf die Darlegung bekannter Forschungsmeinungen zu den Deutschen im Altreich reduziert und auf gut zehn Seiten in den beiden letzten Kapiteln nicht mehr als gestreift. Subtile Deutung hätten auch die über den Text verstreuten Ausführungen über die „Goldgräbermentaltität” deutscher Zivilisten im eroberten Osten, über die Attraktivität der jüdischen Ghettos für neugierige Zivilisten aus dem Altreich und den „Exekutionstourismus” von Soldaten an die Stätten der Judenmassaker verdient.
SYBILLE STEINBACHER
Die Rezensentin ist Hochschulassistentin an der Ruhr-Universität Bochum.
Als das Warschauer Ghetto 1940 auf einer Fläche von nur vier Quadratkilometern angelegt wurde, lebten dort rund 350 000 Juden. Bis zum Beginn des Aufstandes im April 1943 war nur noch ein Sechstel am Leben.
Foto: DENA–BILD
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2004

Vor der Kriegswende beschlossen
Zur Realisierung der Judenvernichtung bedurfte es vieler Voraussetzungen

Christopher Browning: Die Entfesselung der "Endlösung". Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942. Propyläen Verlag, Berlin 2003. 832 Seiten, 35,- [Euro].

Die schlüssige Erklärung der physischen Vernichtung des europäischen Judentums gehört trotz einer kaum noch überschaubaren Fülle an Literatur immer noch zu den Herausforderungen der wissenschaftlichen Zeitgeschichte. Christopher Browning, einer der führenden Spezialisten auf diesem Feld, hat mit seiner voluminösen Untersuchung einen grundlegenden Beitrag geliefert, der vor allem den Entscheidungsprozeß auf dem Weg zur "Realisierung des Utopischen" (Hans Mommsen) detailliert aufhellt. Der Band ist Teil einer von Yad Vashem herausgegebenen mehrbändigen Gesamtdarstellung des Holocaust.

Der Autor beschränkt sich auf die ersten Kriegsjahre und bezieht dabei unterschiedliche Handlungsfelder ausführlich ein, aus denen sich schrittweise das Konzept der "Endlösung" herausgebildet hat. Die rasseideologischen Axiome des Nationalsozialismus und ihre ständige Wiederholung in Reden, Besprechungen, Direktiven und Befehlen gingen - wie eindrucksvoll gezeigt wird - mit der polykratischen Struktur des Herrschaftssystems eine enge Verbindung ein und verliehen so den mörderischen Zielen von oben und ihrer zum Teil eigenmächtigen Umsetzung von unten ihre spezifische Dynamik. Polykratische Interessen der beteiligten Institutionen und grundlegender Konsens über die von Hitler oft bewußt unklar gehaltenen Vernichtungsparolen sind überall erkennbar. Der alte, primär in der deutschen Historiographie mit Verve ausgetragene Interpretationsstreit zwischen "Programmologen" und "Strukturalisten" ist damit endgültig gegenstandslos. Es gab kein Vernichtungsprogramm von Anfang an, das planmäßig umgesetzt wurde. Die physische Ausrottung der Juden war aber auch nicht Funktion einer ziellosen Dynamik des Systems. Im Mittelpunkt stand Hitlers obsessiver Antisemitismus. Die "Judenfrage" war für ihn Ursache aller Probleme und auch "Schlüssel zu ihrer Lösung". Browning rückt Hitler ins Entscheidungszentrum des Prozesses der ständigen Radikalisierung unterschiedlicher Lösungsvorschläge, macht aber zugleich sehr deutlich, daß es zu ihrer Realisierung vieler Voraussetzungen bedurfte.

Browning gelingt eine sehr überzeugende gedankliche Verbindung der häufig separierten Teilbereiche der nationalsozialistischen Rassepolitik: der Umsiedlung der Volksdeutschen, der Deportation und partiellen Liquidierung von Polen sowie der Verfolgung und Ermordung der Zigeuner und der Behinderten. Polen erhält dabei einen hohen Stellenwert in der Gesamtinterpretation. Es fungierte als Laboratorium der Vertreibungs-, Umsiedlungs- und Liquidierungspolitik mit dem Ziel einer völligen Neuordnung Osteuropas. Daß sich dabei kurz- und langfristige Pläne überschnitten und mehrfach in Konflikt gerieten, wird in der detaillierten Nachzeichnung des außerordentlich komplexen und widersprüchlichen Entscheidungsprozesses deutlich. Nach dem Ende des Feldzuges gegen Polen veränderten sich mehrfach die Planungen, was mit den besetzten Gebieten Polens geschehen und ob und wie ein "Reservat" für die Juden geschaffen werden solle. Vor diesem Hintergrund entwickelte insbesondere der "Madagaskar-Plan" (die Umsiedlung aller Juden auf die zum französischen Kolonialbesitz gehörende Insel) im Sommer 1940 eine hohe Faszinationskraft für nahezu alle relevanten Entscheidungsträger.

Nachdem diese an die Kapitulation oder Verständigungsbereitschaft Englands gebundene Variante entfiel und auch die für die Lubliner Region zunächst vorgesehene Reservatsbildung gestoppt wurde, bildete die Vorbereitung des "Unternehmens Barbarossa" die nächste Stufe der Radikalisierung. In diesem Zusammenhang veränderte sich auch die von Browning eingehend erörterte Bildung der Gettos in Polen. Sie verlief nicht einheitlich und war zunächst nicht unmittelbare Vorstufe der "Endlösung". Das mit der Zusammenpferchung Hunderttausender auf engstem Raum entstandene Dilemma lautete für die Verwaltung "Produktion oder Hungertod", das heißt Ausbeutung der Arbeitskräfte oder Vernichtung durch völlig unzureichende Ernährung. In der Praxis des Gettolebens war es beides.

Im Altreich schuf die bürokratisch immer perfider ausgetüftelte Separierung und Diskriminierung eine Art von Gettoersatz, der ebenfalls Einsatz in der Kriegswirtschaft und Disposition über künftige Deportationen erlaubte. Überzeugend arbeitet der Autor die inneren Verbindungslinien und Parallelen zur Politik gegenüber den "Zigeunern" und den Behinderten heraus. Der Weg zum Krankenmord war - anders als der nach Auschwitz - geradlinig. Aber die rassepolitischen Grundlagen und partiell auch die Instrumente wie der Einsatz von Vergasungswagen waren ähnlich. Euthanasie und "Endlösung" waren, wie Browning pointiert feststellt, "zwei Schlachten desselben Kreuzzugs". Der Verlauf der Razzien und Deportationen von Sinti und Roma nahm vieles vorweg, was den Juden noch bevorstand.

Wenn es nach den Exzessen in Polen noch eines Tabubruchs bedurfte, dann zeigte sich dieser in den ersten Wochen nach dem Überfall auf die Sowjetunion. In Bialystok und Lemberg wurden unter Ausnutzung lokaler Pogromstimmung auch Frauen und Kinder gezielt in die Mordaktionen einbezogen. Der Weg nach Auschwitz, das heißt die Massenvergasung als besser geheimzuhaltende Form der "Lösung der Judenfrage", erscheint nach dieser Vorgeschichte weniger utopisch. Zeitlich datiert Browning die Entscheidung zur Ausweitung der Vernichtung der sowjetischen Juden auf die "Endlösung" für ganz Europa auf die Monate zwischen Sommer und Herbst 1941. Die Euphorie der anfänglichen militärischen Erfolge spielte dafür eine zentrale Rolle und ließ auch die letzten Hemmungen verschwinden. Der Übergang von den - minutiös rekonstruierten - Erschießungsorgien zur Errichtung von Vernichtungslagern mit der "humaneren Methode" der Vergasung vollzog sich nach ersten Experimenten mit Gaswagen in Chelmno (im Warthegau) in großem Maßstab seit dem Frühjahr 1942, beginnend mit Belzec, Birkenau und Semlin (bei Belgrad).

Die schwierige Frage nach Antrieben und Motivation der an den Massenerschießungen Beteiligten wird nur gestreift. Browning ist ihr in seiner Studie "Ganz normale Männer" über das Reservepolizeibataillon 101 nachgegangen. Gewöhnung und Verrohung im Krieg, Rechtfertigung durch Vorgesetzte, Gruppendruck und schließlich auch nationalsozialistische Überzeugung von der Notwendigkeit der Vernichtung sind einige Faktoren. Ein großer Rest bleibt. Der von Browning zitierte Brief eines Wiener Polizeisekretärs über seine Schießübungen an jüdischen Frauen, Kindern und Säuglingen in Mogilev im Oktober 1941 ist eines der schaurigsten Zeugnisse politisch motivierter menschlicher Verrohung eines "ganz normalen" Familienvaters. Die im Vorfeld der "Endlösung" praktizierten massenhaften Mordaktionen verliefen, wenn man sich ihren ungeheuren Umfang vergegenwärtigt, geradezu deprimierend reibungslos. Das zeigt, wie gering der moralische Widerstand bei den Tätern war und welches Ausmaß der Zivilisationsbruch hatte. Browning greift daher in seiner Schlußbetrachtung diese jeden kritischen Zeitgenossen beklemmende Frage nochmals auf, ohne sie jedoch mit den nur knappen Hinweisen befriedigend beantworten zu können.

Das Buch besticht durch die souveräne Verbindung von präziser, sehr detaillierter und sprachlich gelungener Verarbeitung einer riesigen Fülle an Quellen und Literatur mit komplexer Interpretation. Die Erklärungen sind nicht auf Hitler fixiert, sondern erhellen in vielen Einzelheiten das Ausmaß an Erfüllungseifer untergeordneter Instanzen. Die aktive und passive Komplizenschaft der Wehrmacht gehörte dazu. Ohne Hitlers wüsten Antisemitismus und seine Entschlossenheit zur "Lösung der Judenfrage" ist die Dynamik der ständigen Radikalisierung jedoch nicht erklärbar. "Hitler übte schon durch seine bloße Existenz einen beständigen Druck auf das politische System aus, der unter den Getreuen und Ehrgeizigen zu einem Wettstreit um den radikalsten Vorschlag sowie die brutalste und umfassendste Umsetzung der Judenpolitik führte", schreibt Browning. Überzeugte Eugeniker, Techniker aller Art, Karrieristen und Opportunisten trugen ihr Teil dazu bei. Für das Resultat waren die unterschiedlichen Antriebe letztlich irrelevant. Der Entscheidungsprozeß war, wie der Autor eindringlich zeigt, von der zeitlichen Korrelation zwischen militärischen Erfolgen und Radikalisierung der Judenpolitik bestimmt. Als die Kriegswende sich abzeichnete, war die "Endlösung" bereits beschlossen und im Gange.

CHRISTOPH KLESSMANN

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Daniel Koerfer zeigt sich überaus beeindruckt von dieser "düsteren Lektüre", die den Leser hinein in die massenmörderische Welt des deutschen Rassen- und Lebensraumwahns führt. Koerfer hebt hervor, dass sich der amerikanische Historiker Christopher Browning auf die Perspektive der Täter - ihre Motive, Schritte und Entscheidungen - konzentriert. Gestützt auf eine "stupende Materialfülle" und mittels "souveräner Einbeziehung" der vorhandenen Forschungsliteratur gelinge es Browning, "neues, helles Licht" auf den Entscheidungsprozess zu werfen, der schließlich zur "Endlösung" führte. Browning unterstreiche, dass Hitler an jeder "maßgeblichen" Änderung der Judenpolitik beteiligte war, engen Vertrauten wie Himmler seine diesbezüglichen Wünsche mitteilte und schließlich das Signal zur Ausarbeitung eines Programms zur Ermordung der europäischen Juden gab. Daneben analysiere Browning auch die Verstrickung der Wehrmacht in das mörderische Treiben von SS, Einsatzgruppen, Ordnungs- und Sicherheitspolizei sowie die Beteiligung weiterer Bevölkerungsgruppen an der Vorbereitung und Durchführung des Massenmords - von den beteiligten Ministerien über Bürgermeister, Polizisten und Gerichtsvollzieher bis zur Putzfrau. Auch wenn man gegen Browning einwenden wollte, dass es "die" Deutschen als einheitliche Tätergruppe nicht gegeben hat, so der Rezensent, "liest man diese beeindruckende Darstellung über ihre Verstrickung mit Bedrückung."

© Perlentaucher Medien GmbH
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