Auf dem Fetzenmarkt in Grundlsee erregt ein ausgestopfter Dachs die Begierde gleich mehrerer Interessenten. Im Gerangel fällt ein verschnürtes Päckchen aus dem Dachsbauch, das die Erzählerin rasch aufhebt. Bald merkt sie, dass alle hinter diesem unansehnlichen Bündelchen her sind. Da ihr beim Aufschnüren jedoch nur leere vergilbte Bögen entgegenfallen, lässt sie sich widerstrebend von danderen, die sie inzwischen regelrecht verfolgen, erklären, was es damit auf sich hat: Es soll sich um den Briefwechsel des türkischen Derwischs Nesimi, der im 14.Jahrhundert als Ketzer verfolgt wurde, mit der hiesigen Äbtissin Wendlgard von Leisling, die freilich hundert Jahre früher lebte, handeln. Nachdem die Schrift sichtbar gemacht ist, beginnt die Entzifferung und Deutung dieser rätselhaften Briefe. Aber je mehr sie sich in die Texte vertiefen, desto unzugänglicher scheinen sie, desto mehr Spuren in die ferne bis jüngste Vergangenheit und zwischen Europa und dem Orient tun sich auf. Alles hängt auf mysteriöse Weise mit allem zusammen, die Gegend wimmelt plötzlich nur so von Hinweisen und Anspielungen, die doch keinen Sinn ergeben. Nur eins scheint sicher: Dieser Ort ist eine Schnittstelle zwischen Traumzeit und Zeitgeschichte. Barbara Frischmuths Buch ist eine augenzwinkernde Erzählung über Hellsicht, Tiefe und Vielschichtigkeit der Literatur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2001Die byzantinische Tangente
Auf der Strudelspur: Barbara Frischmuth ruft den Schlüsseldienst
Aus dem Bauch eines ausgestopften Dachses fällt ein Päckchen, das die Ich-Erzählerin auf einer Auktion mit raschem Zugriff an sich bringt. Sie ist nicht die einzige, die ihr Geheimnis ergründen will: Ein fremder Mann aus Istanbul, der sie mit einer "Temmenah" orientalisch begrüßt, zwei Germanistinnen, der Ortspfarrer und ein pensionierter Professor - sie alle interessieren sich brennend für die vergilbten Papiere aus dem Dachsbauch. Ob es sich tatsächlich um den Briefwechsel des türkischen Dichters Nesimi mit der Äbtissin Wendlgard handelt? Die Spurensuche verspricht interessant zu werden.
So fangen Krimis an. Barbara Frischmuth verwendet das Muster routiniert; sie fügt noch allerlei irreführende Details hinzu, wie einen lebendigen Dachs, der nachts im Garten der Erzählerin herumschnüffelt, oder die seltene orientalische Iris elegantissima, die sie endlich zugeschickt bekommt. Mit größter Lust und Ausführlichkeit beschreibt Frischmuth den Schauplatz der Handlung, ein Haus im Salzkammergut und die Seen und Berge ringsherum, wo die Autorin selber lebt. Bei allen luftigen Ausflügen der Phantasie, angeregt von den kaum zu entziffernden Blättern, bleiben Garten und Küche in Bad Aussee der bodenständige Mittelpunkt. Dort treffen sich zufällig oder mit eifersüchtiger Neugier die rivalisierenden Forscher, werden mit Wein und Selbstgebackenem bewirtet und dürfen ausführlich ihre Theorien entwickeln. Könnten die begehrten Pergamente nicht auch verschlüsselte Botschaften aus dem dreizehnten Jahrhundert enthalten, womöglich auch Briefe der vielgereisten Hildegard von Bingen oder Bruchstücke aus dem verbotenen Werk des türkischen Dichters?
Geheimrätlich ernsthaft breitet die Autorin ihre beachtlichen Kenntnisse der orientalischen Mystik und der türkisch-islamischen Religion aus. Barbara Frischmuth hat schließlich Orientalistik studiert. Sie läßt sich aber auch vom Pfarrer über Klosterregeln und vom Professor über die numerische Struktur der Sprache belehren. Allen weit überlegen ist sie, wenn es um Land und Leute oder um die früheste und erst recht um die jüngste Vergangenheit ihrer Heimat geht. Das liest sich dann manchmal wie ein Reiseführer durchs Salzkammergut. Die beiden Germanistinnen machen denn auch begierig Gebrauch von der Ortskenntnis ihrer neuen Freundin.
Über diese Wissenschaftlerinnen mittleren Alters macht sich Barbara Frischmuth gerne lustig. Sie läßt sie die Berge hinauf- und herunterstapfen auf der Suche nach keltischen Heiligtümern, vermeintlich feministischen Zeichen oder dem im See versenkten Gold der Nazis. Das Jagdfieber erstreckt sich nämlich auch auf diese historische Hinterlassenschaft. In der Gegend um Bad Aussee ist so manche Größe des Dritten Reiches gestrandet, eine kaum weniger unheimliche Vorstellung als die magischen Zaubersprüche, die möglicherweise aus den Papieren zu entschlüsseln sind.
Viel Stoff also. Dem Leser schwirrt manchmal der Kopf, und die byzantinische Tangente, die einen Zusammenhang sichtbar machen soll zwischen Orient und Okzident, löst sich nicht selten in esoterischem Nebel auf. Zum Glück gibt es noch eine handfeste Nachbarin, die immer rechtzeitig mit Apfelstrudel und anderen Köstlichkeiten zur Stelle ist. Sie weiß, wo die besten Herrenpilze wachsen und die schönsten Steine zu finden sind. Von Derwischen oder Aleviten, Illyrern, Venetern oder frommen Klosterfrauen will sie herzlich wenig wissen.
Gute Kriminalromane zeichnen sich dadurch aus, daß die Fäden gegen Ende neu geordnet und mit einem festen und meistens plausiblen Knoten abgeschlossen werden. Davon kann hier aber keine Rede sein. Vermutungen, aber keine Beweise - dabei bleibt es. Die naheliegende Frage, wie die Papiere überhaupt in den Bauch des Dachses gekommen sind, bleibt unbeantwortet, und leider hat sich auch der Kronzeuge für die kulturellen Beziehungen zwischen Ost und West im dreizehnten Jahrhundert, der geheimnisvolle Mann aus Istanbul, sang- und klanglos verabschiedet. Da hätte sich doch zumindest noch eine Liebesgeschichte entwickeln können . . .
Seit die österreichische Schriftstellerin 1968 mit ihrem Erstling "Die Klosterschule" Erfolg hatte, überrascht sie ihre Leser Jahr für Jahr mit neuen Facetten ihres Talents. Phantastische Einfälle wechselten mit skurrilen ab, sprachexperimentelle Texte mit autobiographischen Romanen, Bücher für Kinder mit Theaterstücken oder Hörspielen. Fleißig ist die Vielseitige, sie beherrscht ihr Handwerkszeug, ist aber leider ein wenig sprunghaft. Wenn sie sich mehr Zeit gelassen hätte, hätte aus dem Stoff der "Entschlüsselung" vielleicht so etwas wie ein steiermärkischer Eco werden können.
MARIA FRISÉ
Barbara Frischmuth: "Die Entschlüsselung". Aufbau Verlag, Berlin 2001. 195 S., geb., 32,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Strudelspur: Barbara Frischmuth ruft den Schlüsseldienst
Aus dem Bauch eines ausgestopften Dachses fällt ein Päckchen, das die Ich-Erzählerin auf einer Auktion mit raschem Zugriff an sich bringt. Sie ist nicht die einzige, die ihr Geheimnis ergründen will: Ein fremder Mann aus Istanbul, der sie mit einer "Temmenah" orientalisch begrüßt, zwei Germanistinnen, der Ortspfarrer und ein pensionierter Professor - sie alle interessieren sich brennend für die vergilbten Papiere aus dem Dachsbauch. Ob es sich tatsächlich um den Briefwechsel des türkischen Dichters Nesimi mit der Äbtissin Wendlgard handelt? Die Spurensuche verspricht interessant zu werden.
So fangen Krimis an. Barbara Frischmuth verwendet das Muster routiniert; sie fügt noch allerlei irreführende Details hinzu, wie einen lebendigen Dachs, der nachts im Garten der Erzählerin herumschnüffelt, oder die seltene orientalische Iris elegantissima, die sie endlich zugeschickt bekommt. Mit größter Lust und Ausführlichkeit beschreibt Frischmuth den Schauplatz der Handlung, ein Haus im Salzkammergut und die Seen und Berge ringsherum, wo die Autorin selber lebt. Bei allen luftigen Ausflügen der Phantasie, angeregt von den kaum zu entziffernden Blättern, bleiben Garten und Küche in Bad Aussee der bodenständige Mittelpunkt. Dort treffen sich zufällig oder mit eifersüchtiger Neugier die rivalisierenden Forscher, werden mit Wein und Selbstgebackenem bewirtet und dürfen ausführlich ihre Theorien entwickeln. Könnten die begehrten Pergamente nicht auch verschlüsselte Botschaften aus dem dreizehnten Jahrhundert enthalten, womöglich auch Briefe der vielgereisten Hildegard von Bingen oder Bruchstücke aus dem verbotenen Werk des türkischen Dichters?
Geheimrätlich ernsthaft breitet die Autorin ihre beachtlichen Kenntnisse der orientalischen Mystik und der türkisch-islamischen Religion aus. Barbara Frischmuth hat schließlich Orientalistik studiert. Sie läßt sich aber auch vom Pfarrer über Klosterregeln und vom Professor über die numerische Struktur der Sprache belehren. Allen weit überlegen ist sie, wenn es um Land und Leute oder um die früheste und erst recht um die jüngste Vergangenheit ihrer Heimat geht. Das liest sich dann manchmal wie ein Reiseführer durchs Salzkammergut. Die beiden Germanistinnen machen denn auch begierig Gebrauch von der Ortskenntnis ihrer neuen Freundin.
Über diese Wissenschaftlerinnen mittleren Alters macht sich Barbara Frischmuth gerne lustig. Sie läßt sie die Berge hinauf- und herunterstapfen auf der Suche nach keltischen Heiligtümern, vermeintlich feministischen Zeichen oder dem im See versenkten Gold der Nazis. Das Jagdfieber erstreckt sich nämlich auch auf diese historische Hinterlassenschaft. In der Gegend um Bad Aussee ist so manche Größe des Dritten Reiches gestrandet, eine kaum weniger unheimliche Vorstellung als die magischen Zaubersprüche, die möglicherweise aus den Papieren zu entschlüsseln sind.
Viel Stoff also. Dem Leser schwirrt manchmal der Kopf, und die byzantinische Tangente, die einen Zusammenhang sichtbar machen soll zwischen Orient und Okzident, löst sich nicht selten in esoterischem Nebel auf. Zum Glück gibt es noch eine handfeste Nachbarin, die immer rechtzeitig mit Apfelstrudel und anderen Köstlichkeiten zur Stelle ist. Sie weiß, wo die besten Herrenpilze wachsen und die schönsten Steine zu finden sind. Von Derwischen oder Aleviten, Illyrern, Venetern oder frommen Klosterfrauen will sie herzlich wenig wissen.
Gute Kriminalromane zeichnen sich dadurch aus, daß die Fäden gegen Ende neu geordnet und mit einem festen und meistens plausiblen Knoten abgeschlossen werden. Davon kann hier aber keine Rede sein. Vermutungen, aber keine Beweise - dabei bleibt es. Die naheliegende Frage, wie die Papiere überhaupt in den Bauch des Dachses gekommen sind, bleibt unbeantwortet, und leider hat sich auch der Kronzeuge für die kulturellen Beziehungen zwischen Ost und West im dreizehnten Jahrhundert, der geheimnisvolle Mann aus Istanbul, sang- und klanglos verabschiedet. Da hätte sich doch zumindest noch eine Liebesgeschichte entwickeln können . . .
Seit die österreichische Schriftstellerin 1968 mit ihrem Erstling "Die Klosterschule" Erfolg hatte, überrascht sie ihre Leser Jahr für Jahr mit neuen Facetten ihres Talents. Phantastische Einfälle wechselten mit skurrilen ab, sprachexperimentelle Texte mit autobiographischen Romanen, Bücher für Kinder mit Theaterstücken oder Hörspielen. Fleißig ist die Vielseitige, sie beherrscht ihr Handwerkszeug, ist aber leider ein wenig sprunghaft. Wenn sie sich mehr Zeit gelassen hätte, hätte aus dem Stoff der "Entschlüsselung" vielleicht so etwas wie ein steiermärkischer Eco werden können.
MARIA FRISÉ
Barbara Frischmuth: "Die Entschlüsselung". Aufbau Verlag, Berlin 2001. 195 S., geb., 32,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
"Die Entschlüsselung" ist ein Roman über eine in einem ausgestopften Dachs verborgene Geheimschrift, ein Briefwechsel zwischen einer Äbtissin und einem türkischen Dichter aus dem 14. Jahrhundert, an deren Deutung sich die Erzählerin Barbara Frischmuth nebst einem Pfarrer, einem Kulturanthropologen, einem türkischen Philologen und zwei amerikanischen Dozentinnen für women's studies zu schaffen machen, berichtet die Rezensentin Evelyn Finger. Das will aber auf den gut 200 Seiten nicht gelingen, stattdessen erfahre der Leser viel über ausgiebige Kaffeekränzchen, Wäschewaschen, lese lustlose Referate und schlappe Tagträume, bedauert die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Das ist ein Roman über einen Roman. Über das Schreiben. Herrlich raffiniert.« Neue Luzerner Zeitung 20020413