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Produktdetails
  • Reclam Bibliothek Bd.1543
  • Verlag: Reclam, Leipzig
  • 1995.
  • Deutsch
  • Abmessung: 185mm
  • Gewicht: 240g
  • ISBN-13: 9783379015431
  • ISBN-10: 3379015431
  • Artikelnr.: 05991931
Autorenporträt
Viktor Pelewin, geboren 1962, ist der meistgelesene Autor Russlands und hat vor allem bei jungen Lesern längst "Kultstatus". Seit Erscheinen der Romane "Omon hinterm Mond" (1992, dt. 1994), "Das Leben der Insekten" (1993, dt. 1997) und "Buddhas kleiner Finger" (1996, dt. 1999) gilt er auch international als einer der interessantesten Autoren seiner Generation. The New Yorker nahm ihn 1999 in die Liste der "besten europäischen Erzähler unter 35" auf. Viktor Pelewin lebt in Moskau.
Rezensionen
Es ist eine eigentümliche Mischung aus metaphysischem Kitzel und psychologischem Realismus, die Wiktor Pelewins Erzählungen auszeichnen; gerade diese Mischung ist aber für das intellektuelle Vergnügen verantwortlich, das Pelewins gelungene Texte bei der Lektüre hervorrufen. Man darf gespannt sein auf weitere Werke. Neue Zürcher Zeitung

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.1996

Darwin boxt den Affen
Das Unheil ist gebannt: Wiktor Pelewins "Die Entstehung der Arten"

Welch ein Glück, daß feministische Agitation uns so nachhaltig sensibilisiert hat. Da glaubt der treuherzige Leser zunächst an eine Beziehungsgeschichte voller ungebührlicher Männerphantasien und streicht sich empört Sätze an wie: "Meine Worte jedenfalls vermochten nicht in ihren hübschen kleinen Kopf vorzudringen." Da ist von einer "herben südlichen Schönheit" die Rede, deren Name "Nike" an die griechische Siegesgestalt gemahnt und doch nur eine Verkürzung des Vornamens "Veronika" ist.

Dann bemerkt man nach einigen Seiten, daß "Nike" keine Frauengeschichte ist, sondern eine Katzengeschichte. Eine der literarischen Anspielungen will der ertappte Leser jetzt gern auf sich selber beziehen, jene auf den vernarrten und gepeinigten männlichen Helden in Nabokovs "Lolita": "Seltsam sind wir beschaffen, sann ich, wir sehen nur das, was wir sehen möchten . . . , nur nicht das, was uns wirklich gezeigt wird - so wie Humbert Humbert, der den fetten sozialdemokratischen Ellbogen im Fenster des Nachbarhauses für das Knie seines verflossenen Nymphchens hält."

Ist man Pelewin in der ersten Geschichte auf den Erzählerleim gekrochen, nimmt man sich vor, besser aufzupassen. Die Sprache des 1963 geborenen Moskauer Autors wirkt erstaunlich gepflegt, es wird sorgfältig und genau formuliert (auch in der Übersetzung). Pelewin unternimmt keine halsbrecherischen Experimente, doch kommt er auch ohne Mätzchen und billige Spielereien aus. In der Titelgeschichte begegnen wir Charles Darwin, der sich im Schiffsbauch der "Beagle" auf Boxkämpfe mit Orang-Utans und Riesengorillas einläßt, um herauszubekommen, was denn zur Höherentwicklung bis hin zur Krone der Schöpfung geführt hat. Eine ziemlich groteske Version des "brutalen, unerbittlichen Kampfes um das Dasein". Der boxende Naturforscher trägt zweimal den Sieg über die Affen davon, doch gibt es in der Natur tatsächlich solche tolpatschigen, kraftlosen Affen wie diese?

Der Verursacher von Nikes Tod (Sie erinnern sich: die Katze) ist ein "Patriot mit Schaum vorm Maul und der flachen, pelzigen Stirn" - gemeint ist ein Schäferhund, der auf den Namen "Patriot" hört. Da könnte ein nicht unaktuelles politisches Bestiarium entworfen werden, doch bleibt es bei dem einen Versuch. In der "Tarzanschaukel" sinnieren der Zeitgenosse Pjotr Petrowitsch und sein nur einsilbig antwortendes Spiegelbild über das Alte und das Neue. Pelewin liebt diese keinerlei Zeitnot kennenden Doppelgänger und dialogisierenden Alltagsphilosophen. Die "Tarzanschaukel" meint ein Kinderspiel, bei dem man sich am festgebundenen Seil hochschwingt und ins Wasser fallen läßt - abermals ein Gerät zur Überwindung des Raumes, zum Entschwinden in die von Pelewin gehätschelten Traumwelten.

Hier sprechen Mondsüchtige, Tagträumer oder Kinder, die nicht schlafen wollen. Je harmloser die Umgebung, desto abgründiger scheint die Unterhaltung. Zum Beispiel in "Die blaue Laterne", mit den Jungen im Ferienlager, die sich nach Lichterlöschen nichts als Totenwitze erzählen. Wortführer ist ein Junge namens Tolstenko, kurz "Tolstoi" genannt. Als dann die gestrenge Lagerleiterin zum Schimpfen aufkreuzt: "Also, wer ist hier der Obertote? Tolstenko, du wieder?" - "Der Obertote", antwortete Tolstoi mit Würde, "liegt in Moskau auf dem Roten Platz. Wieso wecken Sie mich mitten in der Nacht?"

Zum lyrischen Monolog gerät die "Ontologie der Kindheit", doch ist sie vielleicht zu rund und zu schön formuliert, um wahr zu sein. Unwillkürlich mißt man den Text an der radikalsten, kühnsten Erkundung eines Kleinkindbewußtseins in der russischen Literatur, an Andrej Belyjs "Kotik Letajew", dessen Darstellung des Bewußtseinsstroms derjenigen von Joyce nicht nachsteht und den man seit ein paar Jahren auch auf deutsch lesen kann. Daß die Träumer und Schlafwandler, die Scheinlebendigen und Halbtoten, auch mal ein bißchen bedrohlicher ausfallen können, zeigt die Erzählung "Musik aus dem Lautsprecher", wo die Proleten und tumben Antisemiten Pjotr, Matwej und Semjon in ihrer Gier nach dem Rausch Fliegenpilze fressen "wie ihre Vorfahren" aus den russischen Wäldern und darauf als "Hitler, Himmler und Heinrich" statt mit dem Schweißgerät auf dem Lastwagen mit einem Maschinengewehr Richtung Berlin donnern. Doch auch dieser Rausch geht zu Ende, ohne daß irgendwer zu Schaden käme.

Wenn man den Pelewinschen Erzählungen etwas vorwerfen kann, dann das schlichte Faktum, daß sie zu harmlos ausgehen, daß ihnen der Sinn für die reale Gefahr, für das wahrhaft Tragische abgeht. Außer dem Tod einer Katze ist hier nichts zu beklagen. Die Umstände mögen anfangs bedrückend erscheinen, immer bringen es irgendwelche Traumtänzer (oder sind es simple Eskapisten?) fertig, aus dem Kreis des Tragischen auszubrechen. Die vom "Sozium" ausgesperrten Figuren Sechszeh und Einsiedel schaffen es zu guter Letzt doch noch, die "Weltwand" zu durchdringen und in die Freiheit zu entschweben. Ist Darwin als Boxer gegen die Affen nicht ein bißchen zu erfolgreich? Der Mondsüchtige Pjotr Petrowitsch kehrt heil und dem Sog des Abgrunds entronnen von Moskaus Dächern zurück und denkt sich dabei, "daß er doch eigentlich ein ganz glücklicher Mensch war". Lauter individualistische, verträumte, mystisch angehauchte Eigenbrötler - als wären es die Schablonen des sozialistischen Realismus, die hier, positive und negative Figuren ein bißchen verkehrt, noch einmal zum Zuge kommen. Der Leser darf mehrmals aufatmen: Alles Unheil ist gebannt. Sind das nicht schönfärberische Beschwichtigungen real existierender Tragik? Oder Wattebäusche in Textform?

Die letzte Erzählung des Bandes, "Der gelbe Pfeil", ist die längste und interessanteste, weil sie sich als Allegorie der russischen Gegenwart - und des Schicksals der Menschheit - lesen läßt. Da sausen sie also im Zug durch die Nacht, diese Russen und Erdbewohner, durch den verstopften Gang sich kämpfend und im Abteil ihren Träumen nachhängend. Das Ziel ist bekannt, die Fahrt führt "zur zerstörten Brücke". Die Kapitel sind rückwärts numeriert, beginnen bei zwölf und enden bei null. Doch was sich zunächst als beklemmender Countdown entwickelt, endet in simpler Flucht - in Ausflüchten des Erzählers.

Auch hier schafft es Andrej, der Pseudomystiker und heilssüchtige Leser eines "Führers auf Indiens Gleisen", dem rasenden Zug zu entkommen, sich aus dem Staub zu machen, bevor das Verhängnis eintritt (was geschieht mit den anderen Passagieren des Zuges?). Gewiß, Kafka notierte einmal, daß "die Träumenden und die Wünschenden den feineren Stoff des Lebens in den Händen halten". Doch soviel glückliche Traumtänzerei wie bei Pelewin darf einen mißtrauisch machen. Der Schlafwandler Pjotr Petrowitsch kehrt heil von Moskaus Dächern zurück. Abgestürzt ist nur der Autor - in eine allzu heile Traumwelt. RALPH DUTLI

Wiktor Pelewin: "Die Entstehung der Arten und andere Erzählungen". Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Andreas Tretner. Reclam Verlag, Leipzig 1995. 231 S., geb., 16,- DM.

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