Die breite öffentliche Diskussion über Wertewandel und Werteverlust kreist ebenso wie die Debatte über Liberalismus und Kommunitarismus häufig um die Frage, wie Wertebindung entsteht und möglicherweise gestärkt werden kann. In der zeitgenössischen Soziologie und Philosophie gibt es auf diese Fragen aber kaum befriedigende Antwort, so daß ein Rückblick auf frühere Lösungsversuche unumgänglich ist. Nach einer ausführlichen Klärung des Sinns seiner Fragestellung erarbeitet Joas seine Antwort in Auseinandersetzung mit Nietzsche, James, Durkheim, Simmel, Scheler, Dewey, Taylor und Habermas.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.1998Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten
Wer sich selbst erkennen will, muß über sich hinauswachsen: Hans Joas entschnürt Wertpakete
Mit den Werten ist es folgendermaßen bestellt. Stets sind sie im Verfall begriffen, und doch altern sie nicht. Im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte hat ihre Zahl eher zu- als abgenommen. Zugleich aber wird ständig ihr Verlust beklagt. Zwar soll der gesellschaftliche Konsens von ihnen abhängen, doch zumeist wird über sie gestritten. Weder die Gesellschaft noch das Individuum sollen ohne sie existieren können. Der Mensch muß sollen. Dennoch sind die Werte selbst Gegenstand heftigster Forderungen. Der Mensch soll sollen. Dabei bleibt häufig offen, was genau er sollen soll. Was schließlich die Gegenwart betrifft, so werden die Werte gerne gegen den Egoismus im Wirtschaftsleben aufgeboten. Aber den Wertbegriff selbst haben Ökonomen aufgebracht. Noch immer greift manch einer, wenn er das Wort "Wert" hört, zu seiner Brieftasche. Mit den Werten ist es also widerspruchsvoll bestellt.
Der Berliner Soziologe Hans Joas befaßt sich vor allem mit einer dieser Eigenarten der Werte. Er fragt, wie es kommt, daß "Wertbindungen" freiwillig erfolgen, die Werte aber doch als unverfügbar und daher als nicht bewußt wählbar gelten. Weder überzeugt das Gute wie die Mathematik durch Nötigung des Denkens, noch zeigt es sich als eine bloße Geschmacksrichtung des Handelns. Werte verkörpern einen Zwang, der nicht als Einschränkung empfunden wird, dessen Evidenz im selben Maße aber auch schwer faßbar ist. Ein Ausdruck dieses Sachverhalts ist für Joas, daß Vorstellungen über individuelle Freiheitsrechte, Gerechtigkeit oder die Ablehnung körperlicher Gewalt mit verbreiteter Billigung rechnen können, ohne daß doch die Werthaftigkeit dieser Vorstellungen erklärbar wäre. Werte mögen begründungsfähig sein oder nicht, sie werden jedenfalls nicht aus Begründungen gewonnen. Warum etwa sind Wahrheiten besser als Lügen? "Es ist einfach so. Das ist ein Teil von mir. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber es ist wichtig", lautete eine typische Antwort, als amerikanische Soziologen sich einst nach Gründen für solche "Gewohnheiten des Herzens" erkundigten. Joas interessiert sich für dieses Gefühl des "je ne sais quoi" der Wertbezüge.
Unter dem leicht mißverständlichen Titel "Die Entstehung der Werte" handelt das Buch deshalb nicht über die historische Herkunft von Wertbegriffen. Es geht Joas vielmehr darum, woher überhaupt der Eindruck kommt, etwas sei ein Wert. Zur Klärung wendet er sich klassischen sozialphilosophischen Texten zu. Gemeinsam ist ihnen der Versuch, das Problem der Moral in Auseinandersetzung mit Tatbeständen der Religion zu verfolgen. Religiöse Erfahrung nämlich erscheint von William James und Durkheim über Scheler und Dewey bis zu Charles Taylor als der paradigmatische Fall jener freiwilligen Bindung, die das Wertgefühl charakterisieren soll. Joas liest die Autoren seines Kanons als Teilnehmer einer Kontroverse, die unter dem Eindruck von Krisen der christlichen Religion nach ihren moralischen Folgen fragte. Wie sollte Glaube unter den Bedingungen eines wissenschaftlichen Weltbildes länger möglich sein? Wenn religiöse Dogmen erschüttert werden, lassen sich die aus ihnen entsprungenen moralischen Gebote noch halten? Was folgt aus der Entzauberung der Welt für ihre "Werthaftigkeit"?
Was sich seinen Klassikern in den außeralltäglichen Erfahrungen der Religion zeigt, versucht Joas als die Quelle auch der alltäglichen Moral festzuhalten. Im religiösen wie moralischen Gefühl beziehe sich das Individuum qua Einbildungskraft auf ein "ganzheitliches Selbst", auf etwas, was es selbst nicht ist, aber zu seinem Ideal macht. Zur gelingenden Identität gehöre es, in den eigenen Emotionen der Empörung, des Glücks oder der Scham Maßstäbe des wünschenswerten Lebens zu erfühlen, die jenseits von faktischen Wünschen und Interessen liegen. Was einer ist, kann er nicht erzählen, ohne auf solche "starken Wertungen" zurückzugreifen. Daß er einer ist, eine Person, auch nicht. Hätte sich Joas um empirische Illustrationen dieser Thesen bemüht, so fänden sie sich vermutlich im Tagebuch, in der Beichte, im Bildungsroman. Die Realität der Moral liegt für ihn in ihrer Unentbehrlichkeit zur Artikulation der Selbsterfahrung. Werte entstehen durch "Einstellung des Subjektes in eine höhere Ordnung".
Hätte Georg Simmel, den Joas hier zitiert, statt von "Einstellung" von "Einreihung" gesprochen, träte ein Problem hervor, um das der Text einen Bogen macht. Denn auch die Einreihung des Nationalisten in die höhere Ordnung des Chauvinismus dokumentiert Wertbezüge. Auch der Rassist unterhält "Bindungen" - und nicht zu knapp. Religiös ist auch, wer fluchen kann. Einem Wert folgt auch, wer Banken überfällt. Joas' Beispiele für Wertempfinden lassen hingegen vermuten, daß der Autor Werte selbst für etwa sozial Integratives hält. Im Stil der amerikanischen Pragmatisten, deren Position seine Sympathien gelten, treten als moralisch gehaltvolle Orientierungen zumeist Sachverhalte wie Toleranz, Liebe oder Mitleid in den Blick. Intersubjektivität und Kommunikation gelten als wertvoll - so als ob man zu jedem "anderen" am liebsten "du" sagen möchte. Nur die symbolische, vereinigende Kraft der Werte, nicht ihre Diabolik wird erörtert. Hier wünscht man sich eine Moraltheorie, die Gutes und Ungutes mit denselben Begriffen behandeln kann.
Joas läßt die Gelegenheit dazu seltsamerweise auch dort verstreichen, wo er sich mit Simmels Schriften zum Krieg befaßt. Zwar hält er den "wertbildenden Charakter" der Opferbereitschaft des "pro patria mori" fest. Doch führt das nicht zur Einsicht, daß Werte insgesamt Kriterien des Opferns sind. Wenn im Horizont widerstreitender Erwartungen gehandelt werden muß, erfüllen sie ihre Funktion, indem sie manche Handlungsfolgen auf-, andere abwerten. Werte sind Kriterien der Inkaufnahme. Ist Freiheit der höchste Wert, mag man revolutionäre Gewalt in Kauf nehmen. Für den Dandy hingegen, für den es Freizeit ist, gehen beim Sozialismus einfach zu viele Wochenenden drauf (Oscar Wilde).
Aus diesem Grund überzeugt es auch nicht, wenn die Sphäre der Werte als Bereich der "Selbsttranszendierung" im Kontrast zu den der Moderne zugeschriebenen Sphären instrumenteller Rationalität und kühler Kalkulationen dargestellt wird. Wie sollte denn ausgerechnet das zweckrationale Handeln auf Werte verzichten können? Joas kauft sich diese Unterscheidung von wertvollem und kalkulatorischem Handeln, indem er ersteres auf moralischen Gefühlen gründen läßt. Aber nicht nur zu Emotionen fähige Personen, sondern auch Organisationen handeln nach Maßgabe von Werten - zum Beispiel denen des Profits oder der Rechtssicherheit. Auch Bürokratien können sich ohne Wertbezug nicht selbst beschreiben.
Während solche soziologischen Schwächen des Buches sich vielleicht seiner starken Anlehnung an philosophische Denkgewohnheiten verdanken, dürfte ein letztes Problem eher aus einer Unterschätzung der Tradition hervorgehen. Joas' wichtigste Evidenz ist es, daß Personen sich gerade an der Erfahrung von etwas ihnen Entzogenem bilden. Wer sich nicht als Ich erzählt, das seiner selbst nicht mächtig ist, verflacht. Bereits hierin kann man eine ins Philosophische transponierte Kritik der "superbia", des Hochmuts, erkennen, die als schwerste aller Todsünden von der theologischen Überlieferung lange nicht bezweifelt worden ist. Wenn Joas dann den Schluß zieht, Werte entstünden auf der Suche des Ich nach seinem wahren Selbst als einer moralisch empfindenden Instanz, darf man sich wundern, daß im gesamten Text der Begriff des "Gewissens" nur ein einziges Mal auftaucht.
Nichts anderes nämlich als der Versuch einer pragmatistischen Gewissenslehre liegt hier vor. Der gesamte Aufwand an "starken" und "schwachen" Argumenten, Begründungsfinessen und Rekonstruktionen von Klassikern scheint sich so auch einem Umgehungsversuch zu verdanken. Dem Versuch nämlich, über das Böse und Gute, Schuld und Strafe, Sünde und Entsühnung unter Vermeidung all derjenigen Vokabulare zu sprechen, die hier jahrhundertelang einschlägig waren. Dabei erscheint nicht einmal der Verzicht auf alte Begriffe als solcher bedauerlich. Sie mögen heute stark renovierungsbedürftig erscheinen. Aber gerade ihr Zumutungsreichtum, den heute niemand übernehmen will, wäre dem Thema angemessen. Jede jesuitische Kasuistik des siebzehnten Jahrhunderts enthält, heute gelesen, mehr Sinn für die Paradoxien der Moral als die kommunitaristischen Wunschlisten, die gegenwärtig das Feld beherrschen.
Joas hat mit seinem Einsatz bei der Frage nach der Religion einen Schritt weg von eingefahrenen Pfaden der Moraltheorie gemacht. Am Ende aber hat er doch eher ein Buch geschrieben, das sich mit der Gegenwart, ihren Werten und Denkgewohnheiten aussöhnt, als eines, das sie intellektuell zu provozieren vermöchte. Mit den Werten, so scheint es, ist es gegenwärtig harmlos bestellt. JÜRGEN KAUBE
Hans Joas: "Die Entstehung der Werte". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 321 S., geb., 48,- DM.
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Wer sich selbst erkennen will, muß über sich hinauswachsen: Hans Joas entschnürt Wertpakete
Mit den Werten ist es folgendermaßen bestellt. Stets sind sie im Verfall begriffen, und doch altern sie nicht. Im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte hat ihre Zahl eher zu- als abgenommen. Zugleich aber wird ständig ihr Verlust beklagt. Zwar soll der gesellschaftliche Konsens von ihnen abhängen, doch zumeist wird über sie gestritten. Weder die Gesellschaft noch das Individuum sollen ohne sie existieren können. Der Mensch muß sollen. Dennoch sind die Werte selbst Gegenstand heftigster Forderungen. Der Mensch soll sollen. Dabei bleibt häufig offen, was genau er sollen soll. Was schließlich die Gegenwart betrifft, so werden die Werte gerne gegen den Egoismus im Wirtschaftsleben aufgeboten. Aber den Wertbegriff selbst haben Ökonomen aufgebracht. Noch immer greift manch einer, wenn er das Wort "Wert" hört, zu seiner Brieftasche. Mit den Werten ist es also widerspruchsvoll bestellt.
Der Berliner Soziologe Hans Joas befaßt sich vor allem mit einer dieser Eigenarten der Werte. Er fragt, wie es kommt, daß "Wertbindungen" freiwillig erfolgen, die Werte aber doch als unverfügbar und daher als nicht bewußt wählbar gelten. Weder überzeugt das Gute wie die Mathematik durch Nötigung des Denkens, noch zeigt es sich als eine bloße Geschmacksrichtung des Handelns. Werte verkörpern einen Zwang, der nicht als Einschränkung empfunden wird, dessen Evidenz im selben Maße aber auch schwer faßbar ist. Ein Ausdruck dieses Sachverhalts ist für Joas, daß Vorstellungen über individuelle Freiheitsrechte, Gerechtigkeit oder die Ablehnung körperlicher Gewalt mit verbreiteter Billigung rechnen können, ohne daß doch die Werthaftigkeit dieser Vorstellungen erklärbar wäre. Werte mögen begründungsfähig sein oder nicht, sie werden jedenfalls nicht aus Begründungen gewonnen. Warum etwa sind Wahrheiten besser als Lügen? "Es ist einfach so. Das ist ein Teil von mir. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber es ist wichtig", lautete eine typische Antwort, als amerikanische Soziologen sich einst nach Gründen für solche "Gewohnheiten des Herzens" erkundigten. Joas interessiert sich für dieses Gefühl des "je ne sais quoi" der Wertbezüge.
Unter dem leicht mißverständlichen Titel "Die Entstehung der Werte" handelt das Buch deshalb nicht über die historische Herkunft von Wertbegriffen. Es geht Joas vielmehr darum, woher überhaupt der Eindruck kommt, etwas sei ein Wert. Zur Klärung wendet er sich klassischen sozialphilosophischen Texten zu. Gemeinsam ist ihnen der Versuch, das Problem der Moral in Auseinandersetzung mit Tatbeständen der Religion zu verfolgen. Religiöse Erfahrung nämlich erscheint von William James und Durkheim über Scheler und Dewey bis zu Charles Taylor als der paradigmatische Fall jener freiwilligen Bindung, die das Wertgefühl charakterisieren soll. Joas liest die Autoren seines Kanons als Teilnehmer einer Kontroverse, die unter dem Eindruck von Krisen der christlichen Religion nach ihren moralischen Folgen fragte. Wie sollte Glaube unter den Bedingungen eines wissenschaftlichen Weltbildes länger möglich sein? Wenn religiöse Dogmen erschüttert werden, lassen sich die aus ihnen entsprungenen moralischen Gebote noch halten? Was folgt aus der Entzauberung der Welt für ihre "Werthaftigkeit"?
Was sich seinen Klassikern in den außeralltäglichen Erfahrungen der Religion zeigt, versucht Joas als die Quelle auch der alltäglichen Moral festzuhalten. Im religiösen wie moralischen Gefühl beziehe sich das Individuum qua Einbildungskraft auf ein "ganzheitliches Selbst", auf etwas, was es selbst nicht ist, aber zu seinem Ideal macht. Zur gelingenden Identität gehöre es, in den eigenen Emotionen der Empörung, des Glücks oder der Scham Maßstäbe des wünschenswerten Lebens zu erfühlen, die jenseits von faktischen Wünschen und Interessen liegen. Was einer ist, kann er nicht erzählen, ohne auf solche "starken Wertungen" zurückzugreifen. Daß er einer ist, eine Person, auch nicht. Hätte sich Joas um empirische Illustrationen dieser Thesen bemüht, so fänden sie sich vermutlich im Tagebuch, in der Beichte, im Bildungsroman. Die Realität der Moral liegt für ihn in ihrer Unentbehrlichkeit zur Artikulation der Selbsterfahrung. Werte entstehen durch "Einstellung des Subjektes in eine höhere Ordnung".
Hätte Georg Simmel, den Joas hier zitiert, statt von "Einstellung" von "Einreihung" gesprochen, träte ein Problem hervor, um das der Text einen Bogen macht. Denn auch die Einreihung des Nationalisten in die höhere Ordnung des Chauvinismus dokumentiert Wertbezüge. Auch der Rassist unterhält "Bindungen" - und nicht zu knapp. Religiös ist auch, wer fluchen kann. Einem Wert folgt auch, wer Banken überfällt. Joas' Beispiele für Wertempfinden lassen hingegen vermuten, daß der Autor Werte selbst für etwa sozial Integratives hält. Im Stil der amerikanischen Pragmatisten, deren Position seine Sympathien gelten, treten als moralisch gehaltvolle Orientierungen zumeist Sachverhalte wie Toleranz, Liebe oder Mitleid in den Blick. Intersubjektivität und Kommunikation gelten als wertvoll - so als ob man zu jedem "anderen" am liebsten "du" sagen möchte. Nur die symbolische, vereinigende Kraft der Werte, nicht ihre Diabolik wird erörtert. Hier wünscht man sich eine Moraltheorie, die Gutes und Ungutes mit denselben Begriffen behandeln kann.
Joas läßt die Gelegenheit dazu seltsamerweise auch dort verstreichen, wo er sich mit Simmels Schriften zum Krieg befaßt. Zwar hält er den "wertbildenden Charakter" der Opferbereitschaft des "pro patria mori" fest. Doch führt das nicht zur Einsicht, daß Werte insgesamt Kriterien des Opferns sind. Wenn im Horizont widerstreitender Erwartungen gehandelt werden muß, erfüllen sie ihre Funktion, indem sie manche Handlungsfolgen auf-, andere abwerten. Werte sind Kriterien der Inkaufnahme. Ist Freiheit der höchste Wert, mag man revolutionäre Gewalt in Kauf nehmen. Für den Dandy hingegen, für den es Freizeit ist, gehen beim Sozialismus einfach zu viele Wochenenden drauf (Oscar Wilde).
Aus diesem Grund überzeugt es auch nicht, wenn die Sphäre der Werte als Bereich der "Selbsttranszendierung" im Kontrast zu den der Moderne zugeschriebenen Sphären instrumenteller Rationalität und kühler Kalkulationen dargestellt wird. Wie sollte denn ausgerechnet das zweckrationale Handeln auf Werte verzichten können? Joas kauft sich diese Unterscheidung von wertvollem und kalkulatorischem Handeln, indem er ersteres auf moralischen Gefühlen gründen läßt. Aber nicht nur zu Emotionen fähige Personen, sondern auch Organisationen handeln nach Maßgabe von Werten - zum Beispiel denen des Profits oder der Rechtssicherheit. Auch Bürokratien können sich ohne Wertbezug nicht selbst beschreiben.
Während solche soziologischen Schwächen des Buches sich vielleicht seiner starken Anlehnung an philosophische Denkgewohnheiten verdanken, dürfte ein letztes Problem eher aus einer Unterschätzung der Tradition hervorgehen. Joas' wichtigste Evidenz ist es, daß Personen sich gerade an der Erfahrung von etwas ihnen Entzogenem bilden. Wer sich nicht als Ich erzählt, das seiner selbst nicht mächtig ist, verflacht. Bereits hierin kann man eine ins Philosophische transponierte Kritik der "superbia", des Hochmuts, erkennen, die als schwerste aller Todsünden von der theologischen Überlieferung lange nicht bezweifelt worden ist. Wenn Joas dann den Schluß zieht, Werte entstünden auf der Suche des Ich nach seinem wahren Selbst als einer moralisch empfindenden Instanz, darf man sich wundern, daß im gesamten Text der Begriff des "Gewissens" nur ein einziges Mal auftaucht.
Nichts anderes nämlich als der Versuch einer pragmatistischen Gewissenslehre liegt hier vor. Der gesamte Aufwand an "starken" und "schwachen" Argumenten, Begründungsfinessen und Rekonstruktionen von Klassikern scheint sich so auch einem Umgehungsversuch zu verdanken. Dem Versuch nämlich, über das Böse und Gute, Schuld und Strafe, Sünde und Entsühnung unter Vermeidung all derjenigen Vokabulare zu sprechen, die hier jahrhundertelang einschlägig waren. Dabei erscheint nicht einmal der Verzicht auf alte Begriffe als solcher bedauerlich. Sie mögen heute stark renovierungsbedürftig erscheinen. Aber gerade ihr Zumutungsreichtum, den heute niemand übernehmen will, wäre dem Thema angemessen. Jede jesuitische Kasuistik des siebzehnten Jahrhunderts enthält, heute gelesen, mehr Sinn für die Paradoxien der Moral als die kommunitaristischen Wunschlisten, die gegenwärtig das Feld beherrschen.
Joas hat mit seinem Einsatz bei der Frage nach der Religion einen Schritt weg von eingefahrenen Pfaden der Moraltheorie gemacht. Am Ende aber hat er doch eher ein Buch geschrieben, das sich mit der Gegenwart, ihren Werten und Denkgewohnheiten aussöhnt, als eines, das sie intellektuell zu provozieren vermöchte. Mit den Werten, so scheint es, ist es gegenwärtig harmlos bestellt. JÜRGEN KAUBE
Hans Joas: "Die Entstehung der Werte". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 321 S., geb., 48,- DM.
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