Das nationale Verfassungsrecht löst sich im europäischen Integrationsprozeß in zunehmendem Maße aus seiner nationalen Umgrenzung; das ursprünglich mitgliedsstaatlich geprägte Europarecht hat begonnen, auf die nationalen Verfassungsrechtsordnungen zurückzustrahlen. Dies führt zu einem Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, das u.a. auch zu Angleichungsprozessen der nationalen Verfassungsrechtsordnungen führt. In diesem Sinne kann von der Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung gesprochen werden.
Der Band analysiert in detaillierten Länderstudien die Erscheinungsformen, in denen das europäische Recht auf die einzelnen mitgliedstaatlichen Verfassungsrechtsordnungen einwirkt und diese verändert. Er gibt auf die Frage eine Antwort, inwieweit sich heute in Europa eine Konvergenz der nationalen Verfassungsrechtsordnungen feststellen läßt und welchen Entwicklungsstand die europäische Verfassungsordnung aufweist. Darüber hinaus nimmt das Buch in einem umfangreichen Resümee der Landesberichte zu der verfassungspolitischen Diskussion über die Schaffung einer europäischen Grundrechtscharta, eines Verfassungsvertrages sowie deren konkreten Entwicklungschancen Stellung.
Der Band analysiert in detaillierten Länderstudien die Erscheinungsformen, in denen das europäische Recht auf die einzelnen mitgliedstaatlichen Verfassungsrechtsordnungen einwirkt und diese verändert. Er gibt auf die Frage eine Antwort, inwieweit sich heute in Europa eine Konvergenz der nationalen Verfassungsrechtsordnungen feststellen läßt und welchen Entwicklungsstand die europäische Verfassungsordnung aufweist. Darüber hinaus nimmt das Buch in einem umfangreichen Resümee der Landesberichte zu der verfassungspolitischen Diskussion über die Schaffung einer europäischen Grundrechtscharta, eines Verfassungsvertrages sowie deren konkreten Entwicklungschancen Stellung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2001Verstärken und Verfestigen
Verzahnung von nationalem und europäischem Verfassungsrecht
Jürgen Schwarze (Herausgeber): Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht. Schriftenreihe Europäisches Recht, Politik und Wirtschaft, Band 234. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2000. 570 Seiten, 138,- Mark.
Den Kerngedanken der Länderstudien über die jeweiligen Verfassungsentwicklungen einzelner europäischer Mitgliedstaaten nimmt der Herausgeber bereits in seiner Einführung vorweg: "Hat sich in einem ersten Schritt noch das Recht der Europäischen Gemeinschaft aus den verfassungsrechtlichen Prinzipien und Traditionen der Mitgliedstaaten gebildet, so hat das europäische Recht inzwischen begonnen, seinerseits auf die nationalen Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten zurückzuwirken."
In der Tat ist heute der überwiegende Teil nationaler Gesetzgebung (mehr als zwei Drittel) durch Brüsseler Direktiven unmittelbar tangiert. In allen nationalen Verfassungssystemen ist die europäische Einbindung zu einem Wesenselement der Verfassungswirklichkeit geworden. Dies hat geradezu zwangsläufig zu einer Angleichung, ja Verzahnung nationalen und europäischen Verfassungsrechts sowie einer zunehmenden Konkordanz des Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten untereinander geführt. Wird deswegen eine genuin europäische Verfassungsordnung gebraucht? Oder macht gerade umgekehrt das zunehmende Ineinandergreifen nationalen und europäischen Verfassungsrechts eine solche Ordnung nicht überflüssig?
Die Argumente für eine europäische Verfassungsordnung sind bekannt und liegen vor allem im appellativ-normativen Bereich: mehr Transparenz durch klarere Kompetenzabgrenzung, demokratische Legitimation durch den europäischen Bürger, einheitlich-verbindlicher Grundrechtskatalog, identitätsstiftende Kraft. Abgesehen davon - so argumentieren Befürworter einer europäischen Verfassung -, sind die verfassungsrechtlichen Zusammenhänge zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten auf die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung gerichtet, wie sie sich aus dem Zusammenspiel von nationalem Verfassungsrecht und grundlegenden Normen des europäischen Gemeinschaftsrechts geradezu zwangsläufig ergibt.
Das Problem aber ist: In allen sechs untersuchten Verfassungsordnungen (Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Spanien, Österreich und Schweden) kommt den verfassungsrechtlichen Grundprinzipien - Demokratieprinzip, Rechtsstaatsprinzip, Grundrechtsgewährleistung - zwar gleich hohe Bedeutung zu. Und alle diese Prinzipien gehören zum verbindlichen Wertekanon der Europäischen Union. Bereits bei der Verwirklichung dieser Prinzipien zeigen sich aber deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. Insofern stellt sich nicht nur die generelle Frage, inwieweit eine Ordnung tolerabel ist, bei der Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit geradezu zwangsläufig in verschiedenste Richtungen auseinanderlaufen.
Wichtig sind vor allem zwei weitere Aspekte: Erstens ist eine grenzenlose Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen nach dem jeweiligen nationalen Verfassungsrecht nicht möglich und würde somit bei der Grenzziehung zwischen europäischer und einzelstaatlicher Ordnung wahrscheinlich große Schwierigkeiten schaffen. Zweitens herrscht vor allem in Frankreich, Schweden und Deutschland in Fragen des Grundrechtsschutzes große Skepsis gegenüber dem Gemeinschaftsrecht und den Gemeinschaftsorganen.
Unbestritten ist, daß die nationalen Verfassungsordnungen im Prozeß der europäischen Integration ihrerseits bereits beträchtliche Wandlungen erfahren haben; kein Staat kann heute aus eigener Kraft den erforderlichen rechtlichen Rahmen für die vielfältigen, über den Nationalstaat hinausreichenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnungsaufgaben leisten. Unbestritten ist aber auch, daß die europäische Verfassungsentwicklung von den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen abhängig bleibt. Solange die Europäische Union, trotz aller Kompetenzzuwächse, nur über eine begrenzte politische Gestaltungsmacht verfügt, bilden die nationalen Verfassungsordnungen den Rahmen und die Voraussetzung für die europäische Verfassungsentwicklung.
Viel entscheidender ist jedoch: Zwar ist allen Mitgliedstaaten die Forderung nach einem ausreichenden Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene gemein. Ganz offensichtlich aber bestehen in allen Staaten Hemmungen hinsichtlich der Verwendung des im staatlichen Kontext geprägten Verfassungsbegriffs. Und schließlich: Wie kann europäische Politik und Rechtsetzung adäquat demokratisch legitimiert werden ohne eine europäische Öffentlichkeit?
Einen Ausweg sieht der Herausgeber in der Verbindung "traditioneller Formen der Herstellung von Willenseinigung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten und einer neuen Bezeichnung für den grundsätzlichen Reformschritt". Dafür sei der Begriff des "europäischen Verfassungsvertrages" geeignet, der in der Diskussion zunehmend verwendet wird.
Denkbar sei eine Zweiteilung der Gemeinschaftsverträge, wonach in einem grundlegenden Vertrag nur die Ziele, Grundsätze und allgemeinen politischen Leitlinien, die Bürgerrechte und der institutionelle Rahmen festgelegt werden. In einem oder mehreren weiteren Vertragstexten sollten die übrigen Vorschriften der vorhandenen Verträge aufgenommen werden, insbesondere die Vorschriften über die einzelnen Politikbereiche.
Tatsächlich ist dieser Vorschlag auf dem Weg in Richtung eines gemeinschaftlichen Verfassungssystems auf Grund der nach wie vor unterschiedlichen Anforderungen der einzelnen Mitgliedstaaten an die weitere Entwicklung eines gemeinschaftlichen Verfassungssystems derzeit der wohl realistischste. Er setzt allerdings den politischen Willen der Mitgliedstaaten voraus, vor dem Hintergrund der zunehmenden Aufgabenfülle der Union "zu einer verstärkten, auch verfassungsmäßig verfestigten Zusammenarbeit in Europa zu gelangen".
STEFAN FRÖHLICH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verzahnung von nationalem und europäischem Verfassungsrecht
Jürgen Schwarze (Herausgeber): Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht. Schriftenreihe Europäisches Recht, Politik und Wirtschaft, Band 234. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2000. 570 Seiten, 138,- Mark.
Den Kerngedanken der Länderstudien über die jeweiligen Verfassungsentwicklungen einzelner europäischer Mitgliedstaaten nimmt der Herausgeber bereits in seiner Einführung vorweg: "Hat sich in einem ersten Schritt noch das Recht der Europäischen Gemeinschaft aus den verfassungsrechtlichen Prinzipien und Traditionen der Mitgliedstaaten gebildet, so hat das europäische Recht inzwischen begonnen, seinerseits auf die nationalen Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten zurückzuwirken."
In der Tat ist heute der überwiegende Teil nationaler Gesetzgebung (mehr als zwei Drittel) durch Brüsseler Direktiven unmittelbar tangiert. In allen nationalen Verfassungssystemen ist die europäische Einbindung zu einem Wesenselement der Verfassungswirklichkeit geworden. Dies hat geradezu zwangsläufig zu einer Angleichung, ja Verzahnung nationalen und europäischen Verfassungsrechts sowie einer zunehmenden Konkordanz des Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten untereinander geführt. Wird deswegen eine genuin europäische Verfassungsordnung gebraucht? Oder macht gerade umgekehrt das zunehmende Ineinandergreifen nationalen und europäischen Verfassungsrechts eine solche Ordnung nicht überflüssig?
Die Argumente für eine europäische Verfassungsordnung sind bekannt und liegen vor allem im appellativ-normativen Bereich: mehr Transparenz durch klarere Kompetenzabgrenzung, demokratische Legitimation durch den europäischen Bürger, einheitlich-verbindlicher Grundrechtskatalog, identitätsstiftende Kraft. Abgesehen davon - so argumentieren Befürworter einer europäischen Verfassung -, sind die verfassungsrechtlichen Zusammenhänge zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten auf die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung gerichtet, wie sie sich aus dem Zusammenspiel von nationalem Verfassungsrecht und grundlegenden Normen des europäischen Gemeinschaftsrechts geradezu zwangsläufig ergibt.
Das Problem aber ist: In allen sechs untersuchten Verfassungsordnungen (Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Spanien, Österreich und Schweden) kommt den verfassungsrechtlichen Grundprinzipien - Demokratieprinzip, Rechtsstaatsprinzip, Grundrechtsgewährleistung - zwar gleich hohe Bedeutung zu. Und alle diese Prinzipien gehören zum verbindlichen Wertekanon der Europäischen Union. Bereits bei der Verwirklichung dieser Prinzipien zeigen sich aber deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. Insofern stellt sich nicht nur die generelle Frage, inwieweit eine Ordnung tolerabel ist, bei der Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit geradezu zwangsläufig in verschiedenste Richtungen auseinanderlaufen.
Wichtig sind vor allem zwei weitere Aspekte: Erstens ist eine grenzenlose Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen nach dem jeweiligen nationalen Verfassungsrecht nicht möglich und würde somit bei der Grenzziehung zwischen europäischer und einzelstaatlicher Ordnung wahrscheinlich große Schwierigkeiten schaffen. Zweitens herrscht vor allem in Frankreich, Schweden und Deutschland in Fragen des Grundrechtsschutzes große Skepsis gegenüber dem Gemeinschaftsrecht und den Gemeinschaftsorganen.
Unbestritten ist, daß die nationalen Verfassungsordnungen im Prozeß der europäischen Integration ihrerseits bereits beträchtliche Wandlungen erfahren haben; kein Staat kann heute aus eigener Kraft den erforderlichen rechtlichen Rahmen für die vielfältigen, über den Nationalstaat hinausreichenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnungsaufgaben leisten. Unbestritten ist aber auch, daß die europäische Verfassungsentwicklung von den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen abhängig bleibt. Solange die Europäische Union, trotz aller Kompetenzzuwächse, nur über eine begrenzte politische Gestaltungsmacht verfügt, bilden die nationalen Verfassungsordnungen den Rahmen und die Voraussetzung für die europäische Verfassungsentwicklung.
Viel entscheidender ist jedoch: Zwar ist allen Mitgliedstaaten die Forderung nach einem ausreichenden Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene gemein. Ganz offensichtlich aber bestehen in allen Staaten Hemmungen hinsichtlich der Verwendung des im staatlichen Kontext geprägten Verfassungsbegriffs. Und schließlich: Wie kann europäische Politik und Rechtsetzung adäquat demokratisch legitimiert werden ohne eine europäische Öffentlichkeit?
Einen Ausweg sieht der Herausgeber in der Verbindung "traditioneller Formen der Herstellung von Willenseinigung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten und einer neuen Bezeichnung für den grundsätzlichen Reformschritt". Dafür sei der Begriff des "europäischen Verfassungsvertrages" geeignet, der in der Diskussion zunehmend verwendet wird.
Denkbar sei eine Zweiteilung der Gemeinschaftsverträge, wonach in einem grundlegenden Vertrag nur die Ziele, Grundsätze und allgemeinen politischen Leitlinien, die Bürgerrechte und der institutionelle Rahmen festgelegt werden. In einem oder mehreren weiteren Vertragstexten sollten die übrigen Vorschriften der vorhandenen Verträge aufgenommen werden, insbesondere die Vorschriften über die einzelnen Politikbereiche.
Tatsächlich ist dieser Vorschlag auf dem Weg in Richtung eines gemeinschaftlichen Verfassungssystems auf Grund der nach wie vor unterschiedlichen Anforderungen der einzelnen Mitgliedstaaten an die weitere Entwicklung eines gemeinschaftlichen Verfassungssystems derzeit der wohl realistischste. Er setzt allerdings den politischen Willen der Mitgliedstaaten voraus, vor dem Hintergrund der zunehmenden Aufgabenfülle der Union "zu einer verstärkten, auch verfassungsmäßig verfestigten Zusammenarbeit in Europa zu gelangen".
STEFAN FRÖHLICH
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Bodo Pieroth lobt den Sammelband, der den Vergleich der Verfassungen von sechs ausgewählten EU-Mitgliedstaaten und Fragen zu den Möglichkeiten einer tragfähigen gemeinsamen Verfassung der Europäischen Gemeinschaft zum Inhalt hat, für seine "beeindruckenden Analysen". Doch "verwundert" es den Rezensent, dass bei der Untersuchung der Einzelaspekte ausgerechnet die "Staatsnorm des Sozialstaatsprinzips" ausgespart ist, da, wie er ausführt, der Vertrag der EU "mittlerweile viele sozialpolitische Kompetenzen" beinhaltet, und außerdem der europäische Einfluss auf die "nationalen Sozialversicherungssysteme" längst intensiv diskutiert wird. Der offensichtlich in der Materie bewanderte Rezensent geht allerdings in seiner Kritik nicht detailliert auf einzelne Beiträge des Sammelbandes ein und hält sich auch mit Wertungen des Buches insgesamt sehr zurück.
© Perlentaucher Medien GmbH
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