Was passiert mit uns Menschen in einer globalisierten Welt, in der alle Beziehungen fließend sind, unsere Wurzeln immer nur temporär, wir face-to screen mehr kommunizieren als face-to-face? Das letzte Werk des berühmten Soziologen Zygmunt Bauman ist ein anregendes Gespräch über die menschlichen Herausforderungen des dritten Jahrtausends. Ein großer Denker im Gespräch mit einem digital native, einem selbst in die flüchtige, die flüssige, fließende Gesellschaft Hineingeborenen: Bauman und Leoncini entwickeln klare, greifbare Gedanken zur Transformation des Körpers, zu Aggressivität in den Netzwerken und zu Liebe, Sex und Beziehungen in dem Jahrhundert, das sich wie keines zuvor dem permanenten Wandel verschrieben hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2018Geht alles den Bach runter
Zwei letzte Bücher von Zygmunt Bauman
Blickt man auf die Daten seines Lebens, dürfte der Titel Jahrhundertzeuge Zygmunt Bauman vielleicht gerade so gerecht werden. Der 1925 in Posen Geborene hat dieses Jahrhundert buchstäblich in seinen Extremen erlebt, erlitten und immer wieder - in einem weitläufigen soziologischen Werk - bezeugt und überprüft. Kurz vor seinem Tod im vergangenen Jahr erschien Baumans letztes Werk "Retrotopia", das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt. Auch der Respekt vor dem großen Namen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass "Retrotopia" ein schwaches Buch ist.
Nicht, weil es keine starken Worte der Empörung fände, sondern weil es eigentlich aus nichts anderem als solchen besteht. Baumans Klage über den Verlust der Utopien, die die Hoffnungen seines Jahrhunderts waren, macht "Retrotopia" zu einer bedrückenden Lektüre. Atemlos rafft er darin die Liste seiner Anklagen zusammen: Das zwanzigste Jahrhundert habe mit futuristischen Utopien begonnen, und es endete in Nostalgie.
Doch für Bauman sind die Kapitel seines Buches - Zurück zu Hobbes, Zurück ans Stammesfeuer, Zurück zur sozialen Ungleichheit und Zurück in den Mutterleib - keine Chiffren für nostalgische Sehnsüchte. Wir seien vielmehr schon in diesem Zurück, dazu verdammt, in diesen bereits als überwunden gedachten Verhältnissen zu verharren. Das einst Undenkbare, dass sich der Staat von seiner Pflicht der Sicherheitsgarantie innerhalb seiner territorialen Grenzen zurückgezogen hat, habe uns wieder in Hobbes' Krieg aller gegen alle zurückgeschleudert. Infolge der Globalisierung seien die Nationalstaaten auf nicht mehr als große Nachbarschaften zusammengeschrumpft, eingezwängt in vage umrissene, kaum noch zu sichernde Grenzen.
Terrorismus und ein neuer weltweiter Tribalismus hätten den Staat, Hobbes' einstmals so mächtigen Leviathan, in die Insolvenz getrieben. Die westlichen Gesellschaften zerfielen in Habende und Habenichtse, das ungebremste Wüten von Globalisierung und Neoliberalismus habe die Mittelschichten zum Schrumpfen gebracht, Solidarität gebe es nicht mehr. Die "Straße nach Morgen" sei zum düsteren Pfad des Niedergangs und Verfalls geworden. Wir würden derzeit zurück ins frühe neunzehnte Jahrhundert gestoßen, so das Fazit.
Wer nach Differenzierung und Diskursivität verlangt, nach Argumenten und wenigstens ein paar empirischen Belegen, geht leer aus. Raum für Einwände, für Zweifel an der Hoffnungslosigkeit seiner Diagnosen lässt Bauman nicht. Man kann dieses Buch als eine Polemik lesen oder als eine Bußpredigt. Ein soziologisches Werk ist es nicht. Man könnte ihm zugutehalten, dass sein prophetisches "Kehret um!" aus dem Munde eines Autors kommt, der miterlebt hat, welche Opfer im vergangenen Jahrhundert für linke wie rechte Utopien gebracht wurden.
Von diesem Respekt vor Baumans Erfahrungen zeugt auch der unvollendet gebliebene Gesprächsband über die Jugend des 21. Jahrhunderts, an dem der italienische Journalist Thomas Leoncini mit Bauman noch bis zu dessen Tod gearbeitet hat. Der deutsche Titel "Die Entwurzelten" wird dem italienischen Original "Nati Liquidi" allerdings nicht ganz gerecht. Es geht Bauman hier eher um das in seinen Augen Flüssige, Unstete und Flüchtige des zeitgenössischen Menschen. Aller Hoffnungen, die sich auf das Internet gerichtet hatten, seien mittlerweile enttäuscht, es stehe heute für Isolation, Ausgrenzung und Diffamierung.
Warum Bauman darauf einging, sich von Leoncini über Tattoos, plastische Chirurgie, Hipster, Mobbing und Sex ausfragen zu lassen, bleibt allerdings etwas rätselhaft. Befanden wir uns nicht gerade noch mit Hobbes im Krieg alle gegen alle? Es ehrt den über Achtzigjährigen, mit welcher Ernsthaftigkeit und Neugierde er sich hier den hippen Themen seines sechzig Jahre jüngeren Gesprächspartners stellt. Die Erwartung beider, dass ihre Unterhaltungen über den Horizont und die Interessen Zwanzigjähriger hinausweisen, bleibt allerdings unbelegt. "Retrotopia" endet mit Baumans Warnung, wir müssten uns auf eine lange Zeit einstellen, in der es mehr Fragen als Antworten und mehr Probleme als Lösungen gebe. Da könnte man wohl zu bedenken geben, dass das vermutlich immer schon so war.
GERALD WAGNER.
Zygmunt Bauman: "Retrotopia."
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 220 S., br., 16.- [Euro].
Zygmunt Bauman und Thomas Leoncini: "Die Entwurzelten".
Was uns bewegt im 21. Jahrhundert - ein Gespräch. Eichborn Verlag, Köln 2017. 112 S. , geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei letzte Bücher von Zygmunt Bauman
Blickt man auf die Daten seines Lebens, dürfte der Titel Jahrhundertzeuge Zygmunt Bauman vielleicht gerade so gerecht werden. Der 1925 in Posen Geborene hat dieses Jahrhundert buchstäblich in seinen Extremen erlebt, erlitten und immer wieder - in einem weitläufigen soziologischen Werk - bezeugt und überprüft. Kurz vor seinem Tod im vergangenen Jahr erschien Baumans letztes Werk "Retrotopia", das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt. Auch der Respekt vor dem großen Namen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass "Retrotopia" ein schwaches Buch ist.
Nicht, weil es keine starken Worte der Empörung fände, sondern weil es eigentlich aus nichts anderem als solchen besteht. Baumans Klage über den Verlust der Utopien, die die Hoffnungen seines Jahrhunderts waren, macht "Retrotopia" zu einer bedrückenden Lektüre. Atemlos rafft er darin die Liste seiner Anklagen zusammen: Das zwanzigste Jahrhundert habe mit futuristischen Utopien begonnen, und es endete in Nostalgie.
Doch für Bauman sind die Kapitel seines Buches - Zurück zu Hobbes, Zurück ans Stammesfeuer, Zurück zur sozialen Ungleichheit und Zurück in den Mutterleib - keine Chiffren für nostalgische Sehnsüchte. Wir seien vielmehr schon in diesem Zurück, dazu verdammt, in diesen bereits als überwunden gedachten Verhältnissen zu verharren. Das einst Undenkbare, dass sich der Staat von seiner Pflicht der Sicherheitsgarantie innerhalb seiner territorialen Grenzen zurückgezogen hat, habe uns wieder in Hobbes' Krieg aller gegen alle zurückgeschleudert. Infolge der Globalisierung seien die Nationalstaaten auf nicht mehr als große Nachbarschaften zusammengeschrumpft, eingezwängt in vage umrissene, kaum noch zu sichernde Grenzen.
Terrorismus und ein neuer weltweiter Tribalismus hätten den Staat, Hobbes' einstmals so mächtigen Leviathan, in die Insolvenz getrieben. Die westlichen Gesellschaften zerfielen in Habende und Habenichtse, das ungebremste Wüten von Globalisierung und Neoliberalismus habe die Mittelschichten zum Schrumpfen gebracht, Solidarität gebe es nicht mehr. Die "Straße nach Morgen" sei zum düsteren Pfad des Niedergangs und Verfalls geworden. Wir würden derzeit zurück ins frühe neunzehnte Jahrhundert gestoßen, so das Fazit.
Wer nach Differenzierung und Diskursivität verlangt, nach Argumenten und wenigstens ein paar empirischen Belegen, geht leer aus. Raum für Einwände, für Zweifel an der Hoffnungslosigkeit seiner Diagnosen lässt Bauman nicht. Man kann dieses Buch als eine Polemik lesen oder als eine Bußpredigt. Ein soziologisches Werk ist es nicht. Man könnte ihm zugutehalten, dass sein prophetisches "Kehret um!" aus dem Munde eines Autors kommt, der miterlebt hat, welche Opfer im vergangenen Jahrhundert für linke wie rechte Utopien gebracht wurden.
Von diesem Respekt vor Baumans Erfahrungen zeugt auch der unvollendet gebliebene Gesprächsband über die Jugend des 21. Jahrhunderts, an dem der italienische Journalist Thomas Leoncini mit Bauman noch bis zu dessen Tod gearbeitet hat. Der deutsche Titel "Die Entwurzelten" wird dem italienischen Original "Nati Liquidi" allerdings nicht ganz gerecht. Es geht Bauman hier eher um das in seinen Augen Flüssige, Unstete und Flüchtige des zeitgenössischen Menschen. Aller Hoffnungen, die sich auf das Internet gerichtet hatten, seien mittlerweile enttäuscht, es stehe heute für Isolation, Ausgrenzung und Diffamierung.
Warum Bauman darauf einging, sich von Leoncini über Tattoos, plastische Chirurgie, Hipster, Mobbing und Sex ausfragen zu lassen, bleibt allerdings etwas rätselhaft. Befanden wir uns nicht gerade noch mit Hobbes im Krieg alle gegen alle? Es ehrt den über Achtzigjährigen, mit welcher Ernsthaftigkeit und Neugierde er sich hier den hippen Themen seines sechzig Jahre jüngeren Gesprächspartners stellt. Die Erwartung beider, dass ihre Unterhaltungen über den Horizont und die Interessen Zwanzigjähriger hinausweisen, bleibt allerdings unbelegt. "Retrotopia" endet mit Baumans Warnung, wir müssten uns auf eine lange Zeit einstellen, in der es mehr Fragen als Antworten und mehr Probleme als Lösungen gebe. Da könnte man wohl zu bedenken geben, dass das vermutlich immer schon so war.
GERALD WAGNER.
Zygmunt Bauman: "Retrotopia."
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 220 S., br., 16.- [Euro].
Zygmunt Bauman und Thomas Leoncini: "Die Entwurzelten".
Was uns bewegt im 21. Jahrhundert - ein Gespräch. Eichborn Verlag, Köln 2017. 112 S. , geb., 16,- [Euro].
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