Mich hat auf den ersten Blick irritiert, dass ein Buch, das den Untertitel „Europa im 17. Jahrhundert“ trägt, als Titelillustration eine elegante Gesellschaft der Zeit um 1760 zeigt, aber das hat sich schnell geklärt: Der Untertitel hat mit dem Inhalt nicht direkt etwas zu tun. Kersten Knipps
kulturgeschichtliche Analyse behandelt die Entwicklung der Eleganz vom Ende des 16. bis zum Ende des 19.…mehrMich hat auf den ersten Blick irritiert, dass ein Buch, das den Untertitel „Europa im 17. Jahrhundert“ trägt, als Titelillustration eine elegante Gesellschaft der Zeit um 1760 zeigt, aber das hat sich schnell geklärt: Der Untertitel hat mit dem Inhalt nicht direkt etwas zu tun. Kersten Knipps kulturgeschichtliche Analyse behandelt die Entwicklung der Eleganz vom Ende des 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Der Kipppunkt ist die Französische Revolution, danach gerät die formale Eleganz immer mehr zur Beliebigkeit. Es fehlt dem Adel schlicht die gemeinsame Bühne für den großen Auftritt. Die entdeckt erst Hollywood in den Dreißigerjahren für eine andere Gesellschaftsschicht wieder, aber das ist nicht mehr Thema des Buches.
Wie einigt sich eine Gruppe auf gemeinsame Konventionen in der Mode, im Führen von Gesprächen, im Schreiben von Briefen oder der Einrichtung von Salons? Wer bestimmt die Richtung, wer sagt, was „in“ ist? Kersten Knipp gehen vor allem die französischen Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts leicht von der Feder. Das ist wirklich eindrucksvoll, zumal Knipp auch noch mit viel Eleganz schreibt, weit entfernt von gewöhnlicher journalistischer Hausmannskost - solange er sich nicht um geschlechterinklusive Sprache bemüht, denn dann bekommt sein filigraner Satzbau plötzlich Klumpfüße. Dass ihm, dem Ästheten, das nicht aufgefallen ist ...?
Interessant sind seine Beobachtungen allemal. Wie im 17. Jahrhundert die Form wichtiger wird als der Inhalt, hat doch gewisse Parallelen in der Gegenwart (und damit sind wir schon wieder beim Woke-Aktivismus: Wie schrieb die zuständige Ministerin Anne Spiegel so schön in ihrer Pressemitteilung zur Entwarnung vor der Ahrtalflut? „Bitte noch gendern, ansonsten Freigabe.“) Wer sich am Hof Ludwig XIII. nicht den Zwängen des gesellschaftlichen Rituals unterwarf, dessen Karriere war genauso beendet, wie die eines genderverweigernden Mitarbeiters im Ministerium Spiegel. Nur dass es im letzteren Fall keine Berührungspunkte mehr mit der Eleganz gibt.
Für Kersten Knipp beginnt die Mode seltsamerweise erst im 17. Jahrhundert, was spätestens durch das Trachtenbuch des Matthäus Schwarz vom Beginn des 16. Jahrhunderts widerlegt sein sollte: Der Hauptbuchhalter Jakob Fuggers ließ sich in sehr kurzen Abständen in der jeweils aktuellen Mode portraitieren, die bereits alle Elemente widerspiegelt, die Knipp allerdings erst im 17. Jahrhundert entdecken will. Außerdem ist die Mode zu Schwarz‘ Zeiten bereits fest im Bürgertum verankert und orientiert sich längst an Vorbildern vom Hof Karls V.. Solche Ungenauigkeiten sind Folge der inhaltlichen Konzentration auf Frankreich und dessen Adel und lassen bei mir dann doch Zweifel aufkommen, ob Knipps Schlussfolgerungen, die er mit großer Eloquenz verteidigt, am Ende nicht eher originell als richtig sind. Aber egal, anerkennen muss man ohne Wenn und Aber den Unterhaltungswert, denn Kersten Knipp besitzt das Talent, Zitate, Fakten und Anekdoten flüssig miteinander zu verweben und spannend aufzubereiten. Sein Stil ist lebendig, oft überraschend, witzig, manchmal ironisch gebrochen und seine Charakterisierungen berühmter Zeitgenossen, seien es Rousseau, La Rochefoucault oder Montaigne, lesen sich wie eine gute Kurzbiografie. Der starke Fokus auf Frankreich und den Adel führt zu einem unverkennbaren Scheuklappenblick, der zusammen mit den genannten Oberflächlichkeiten meine Erwartungshaltung nicht ganz erfüllt hat, zumal Titel und Untertitel etwas anderes suggerieren. Wer aber das Buch nur als eine mögliche Sicht von vielen versteht, dem kann es alleine wegen seines unterhaltsamen Stils Spaß machen.