Gibt es ein jüdisches Volk? Nein, sagt der israelische Historiker Shlomo Sand und stellt damit den Gründungsmythos Israels radikal in Frage. Vertreibung durch die Römer? Exodus? Rückkehr nach 2000 Jahren ins Land der Väter? Alles Erfindungen europäischer Zionisten im 19. Jahrhundert, schreibt Sand in seinem aufsehenerregenden Buch, das in Israel und Frankreich zum Bestseller wurde und heftige Kontroversen ausgelöst hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2011Treu in allen Ländern der Zerstreuung
Die Sehnsucht nach eigener Ethnizität: Shlomo Sands Buch "Die Erfindung des jüdischen Volkes" schwankt zwischen Wissenschaft und Pamphlet.
Die Geschichte des jüdischen Volkes ist ebenso einzigartig wie lückenhaft. Die bis heute letztlich ungelöste Frage, was aus jenen "Urjuden" wurde, die einst das Heilige Land bewohnten, ist mit einer weiteren Frage verwoben, auf die es in der Wissenschaft ebenfalls keine eindeutige Antwort gibt: Wessen Nachkommen sind all jene Diasporajuden, von denen sich viele im zwanzigsten Jahrhundert im britisch beherrschten Palästina und nach 1948 in Israel niedergelassen haben? Der Tel Aviver Historiker Shlomo Sand hat sich dieser Fragen nicht nur deshalb angenommen, weil er die Antworten des zionistischen Establishments in Israel für historisch falsch hält. Er lehnt sie ausdrücklich als Ergebnis einer gezielten Geschichtsklitterung ab, mit der der Anspruch sämtlicher Juden in der Welt auf Eretz Israel legitimiert werden solle.
So ist in Israels Unabhängigkeitserklärung zu lesen: "Nachdem das (jüdische) Volk aus seinem Land gewaltsam ins Exil vertrieben worden war, blieb es sich treu in allen Ländern der Zerstreuung und hörte nicht auf, zu beten und zu hoffen, dass es in sein Land zurückkehren und in ihm seine staatliche Freiheit erneuern würde." Die Genese dieser Geschichtsauffassung, die von mehreren Vertreibungswellen ausgeht und die doch Sands Hauptangriffspunkt ist, wird in seiner Studie nur sehr umständlich rekonstruiert. Sie wird überhaupt erst im dritten Kapitel des Buches, beginnend wohlgemerkt mit der Seite 199, angegangen. Davor wird in trocken akademischer Manier in die Begrifflichkeit der Nationalismusforschung eingeführt sowie über die an sich längst aufgearbeitete Entstehung der modernen jüdischen Historiographie aufgeklärt, die zum Teil unter Verwendung rassischer Terminologie - ähnlich anderen Nationalhistorien der Zeit - eifrig an der "Erfindung der Nation" arbeitete.
Diesen seit etwa drei Jahrzehnten in der Geschichtswissenschaft gebräuchlichen Terminus für die Formulierung nationalhistorischer Narrative verwendet Sand allerdings in manipulativer Form. Er spricht nämlich vorzugsweise von der - so lautet auch der deutsche Haupttitel seines Werkes - "Erfindung des jüdischen Volkes". Diese Formel impliziert doch eine etwas andere Bedeutung, eine Lesart, die wohl bei manch einem gut anzukommen scheint: Hierin liegt vermutlich einer der Gründe für den Erfolg des Buches, das hierzulande bereits seine vierte Auflage erlebt und vermutlich auch jene Leserkreise bedient, die in den Juden noch immer kein "richtiges" Volk sehen wollen.
Aus dem von Sand beschriebenen "Erfindungsprozess" erwuchs schließlich auch die frühe israelische Nationalhistoriographie, die bei der Darstellung der antiken Periode treu der biblischen Erzählung folgte. Das allein reichte jedoch nicht, um den Anspruch auf das Land zu zementieren. Es musste auch noch die Diasporageschichte mit der biblischen Epoche verquickt werden, um behaupten zu können, dass die Diasporajuden im Wesentlichen die biologischen Nachfahren der einstigen biblischen Hebräer seien - damit stünde ihnen das Recht zu, in ihre alte Heimat zurückzukehren. Um diese Auslegung zu untermauern, griffen die ersten Historiker auf den Mythos von der Vertreibung der Bewohner Judäas durch die Römer zurück: "Das Metaparadigma der Exilierung", schreibt Sand, "war notwendig, um eine weit zurückreichende Erinnerung zu konstruieren, in der ein vertriebenes Rassenvolk, das direkt auf das ,Bibelvolk' zurückging, installiert werden konnte."
Sand lässt im Folgenden den Eindruck entstehen, dass die Widerlegung der Behauptung, die Juden seien von den Römern kollektiv vertrieben worden, weitgehend sein Verdienst ist. Dass dies in Wahrheit als Erster der israelische Judaist Israel Jacob Yuval schon 1999 auf einer Fachtagung in Israel unternommen hat, unterschlägt er. Yuval wird zwar erwähnt, doch eher beiläufig, obgleich um seine These herum Sand das gesamte dritte Buchkapitel baut, ohne dass dem Leser deutlich wird, wer ihr eigentlicher Urheber ist. Dabei war Yuval der Erste, der das Fehlen von Beweisen für die kollektive Vertreibung durch die Römer bemängelt hatte. Die Praxis, ganze Völker zu exilieren, schrieb er, sei in der römischen Geschichte unbekannt. Vielmehr handele es sich um ein mythisches Konstrukt, das vom rabbinischen Judentum nach dem Muster des babylonischen Exils nachträglich geschaffen wurde. Später sei es auch von der christlichen Mythologie beeinflusst worden, der zufolge die Juden als Strafe für die Kreuzigung Jesu und die Ablehnung seiner Botschaft von den Römern aus dem Heiligen Land verbannt worden seien.
Yuval hatte zudem darauf hingewiesen, dass tonangebende zionistische Historiker wie Ben Zion Dinur die Eroberung Palästinas durch die Muslime für das Exil der Juden verantwortlich machten. Später allerdings hätten Dinur wie andere Vertreter des israelischen Establishments bis hin zu Ariel Scharon diese Geschichtsversion mit der Behauptung zu relativieren versucht, dass trotz sämtlicher Vertreibungen stets Juden im Land geblieben seien und somit die jüdische Besiedlung Eretz Israels nie ganz unterbrochen worden sei. Dass diese Erkenntnis, die sich Sand zueigen macht, ebenfalls auf Yuvals Untersuchungen zurückgeht, wird vom Autor schlicht verschwiegen.
Nicht minder bedenklich ist die Art, in der Sand die - auch nicht von ihm stammende - These entfaltet, die überwiegende Mehrheit der Diasporajuden seien Nachkommen von Konvertiten. Um sie zu stützen, wird dem Leser eine Mischung aus Historie und Legende als Wissenschaft aufgetischt. Dass aber beispielsweise die Juden im mittelalterlichen Spanien Abkömmlinge eines Berbervolks sein sollen, dessen "geheimnisvolle" Königin Kahina zum Judentum übertrat, ist unter Historikern umstritten; ebenso die angeblichen Belege für die gewaltigen territorialen Ausmaße jenes sagenumwobenen Königreichs der kollektiv zum jüdischen Glauben konvertierten Khasaren, von dem die Ostjuden abstammen sollen - damit hatte ja schon in den siebziger Jahren der ungarisch-jüdische Hobbyhistoriker Arthur Koestler für Schlagzeilen gesorgt. Sands Darstellung entnimmt man, dass die heutigen Juden im Grunde nicht für sich in Anspruch nehmen können, eine "intakte" Ethnie zu sein. Seine israelischen Kritiker werfen ihm vor, damit die Legitimität des jüdischen Anspruchs auf Eretz Israel zu untergraben.
Sand jedoch - anders als sein Buch es suggeriert - brachte 2008 in einem Presseinterview zu seiner Verteidigung das Argument vor, das Recht der Juden auf das Land bleibe von dieser Frage unberührt. Macht diese Aussage im Grunde nicht ganze Passagen seines Buches überflüssig? Zumal Sand die Besessenheit der Zionisten, aus den Juden ein "Rassenvolk" zu konstruieren, zwar verurteilt, sie aber in politischer Hinsicht nicht für das größte Problem hält. Eine viel größere Gefahr für das künftige Zusammenleben von jüdischen und arabischen Israelis sieht er in der jüdisch-ethnozentrischen Ausrichtung des Staates Israel. Diesen will Sand in einen "Staat all seiner Bürger", in eine zivile "Republik Israel" umgewandelt sehen - eine Vision, die, wie sein unkonzentriertes Buch, nicht ohne Widersprüche ist. Denn mit der Beibehaltung des Staatsnamens "Israel" wird ignoriert, wie tief bei nationalistischen palästinensischen Mitbürgern die Abneigung gegen einen wie auch immer mit der jüdischen Tradition assoziierten Staat sitzt.
JOSEPH CROITORU
Shlomo Sand: "Die Erfindung des jüdischen Volkes". Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand.
Aus dem Hebräischen von Alice Meroz. Propyläen Verlag, Berlin 2010. 512 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Sehnsucht nach eigener Ethnizität: Shlomo Sands Buch "Die Erfindung des jüdischen Volkes" schwankt zwischen Wissenschaft und Pamphlet.
Die Geschichte des jüdischen Volkes ist ebenso einzigartig wie lückenhaft. Die bis heute letztlich ungelöste Frage, was aus jenen "Urjuden" wurde, die einst das Heilige Land bewohnten, ist mit einer weiteren Frage verwoben, auf die es in der Wissenschaft ebenfalls keine eindeutige Antwort gibt: Wessen Nachkommen sind all jene Diasporajuden, von denen sich viele im zwanzigsten Jahrhundert im britisch beherrschten Palästina und nach 1948 in Israel niedergelassen haben? Der Tel Aviver Historiker Shlomo Sand hat sich dieser Fragen nicht nur deshalb angenommen, weil er die Antworten des zionistischen Establishments in Israel für historisch falsch hält. Er lehnt sie ausdrücklich als Ergebnis einer gezielten Geschichtsklitterung ab, mit der der Anspruch sämtlicher Juden in der Welt auf Eretz Israel legitimiert werden solle.
So ist in Israels Unabhängigkeitserklärung zu lesen: "Nachdem das (jüdische) Volk aus seinem Land gewaltsam ins Exil vertrieben worden war, blieb es sich treu in allen Ländern der Zerstreuung und hörte nicht auf, zu beten und zu hoffen, dass es in sein Land zurückkehren und in ihm seine staatliche Freiheit erneuern würde." Die Genese dieser Geschichtsauffassung, die von mehreren Vertreibungswellen ausgeht und die doch Sands Hauptangriffspunkt ist, wird in seiner Studie nur sehr umständlich rekonstruiert. Sie wird überhaupt erst im dritten Kapitel des Buches, beginnend wohlgemerkt mit der Seite 199, angegangen. Davor wird in trocken akademischer Manier in die Begrifflichkeit der Nationalismusforschung eingeführt sowie über die an sich längst aufgearbeitete Entstehung der modernen jüdischen Historiographie aufgeklärt, die zum Teil unter Verwendung rassischer Terminologie - ähnlich anderen Nationalhistorien der Zeit - eifrig an der "Erfindung der Nation" arbeitete.
Diesen seit etwa drei Jahrzehnten in der Geschichtswissenschaft gebräuchlichen Terminus für die Formulierung nationalhistorischer Narrative verwendet Sand allerdings in manipulativer Form. Er spricht nämlich vorzugsweise von der - so lautet auch der deutsche Haupttitel seines Werkes - "Erfindung des jüdischen Volkes". Diese Formel impliziert doch eine etwas andere Bedeutung, eine Lesart, die wohl bei manch einem gut anzukommen scheint: Hierin liegt vermutlich einer der Gründe für den Erfolg des Buches, das hierzulande bereits seine vierte Auflage erlebt und vermutlich auch jene Leserkreise bedient, die in den Juden noch immer kein "richtiges" Volk sehen wollen.
Aus dem von Sand beschriebenen "Erfindungsprozess" erwuchs schließlich auch die frühe israelische Nationalhistoriographie, die bei der Darstellung der antiken Periode treu der biblischen Erzählung folgte. Das allein reichte jedoch nicht, um den Anspruch auf das Land zu zementieren. Es musste auch noch die Diasporageschichte mit der biblischen Epoche verquickt werden, um behaupten zu können, dass die Diasporajuden im Wesentlichen die biologischen Nachfahren der einstigen biblischen Hebräer seien - damit stünde ihnen das Recht zu, in ihre alte Heimat zurückzukehren. Um diese Auslegung zu untermauern, griffen die ersten Historiker auf den Mythos von der Vertreibung der Bewohner Judäas durch die Römer zurück: "Das Metaparadigma der Exilierung", schreibt Sand, "war notwendig, um eine weit zurückreichende Erinnerung zu konstruieren, in der ein vertriebenes Rassenvolk, das direkt auf das ,Bibelvolk' zurückging, installiert werden konnte."
Sand lässt im Folgenden den Eindruck entstehen, dass die Widerlegung der Behauptung, die Juden seien von den Römern kollektiv vertrieben worden, weitgehend sein Verdienst ist. Dass dies in Wahrheit als Erster der israelische Judaist Israel Jacob Yuval schon 1999 auf einer Fachtagung in Israel unternommen hat, unterschlägt er. Yuval wird zwar erwähnt, doch eher beiläufig, obgleich um seine These herum Sand das gesamte dritte Buchkapitel baut, ohne dass dem Leser deutlich wird, wer ihr eigentlicher Urheber ist. Dabei war Yuval der Erste, der das Fehlen von Beweisen für die kollektive Vertreibung durch die Römer bemängelt hatte. Die Praxis, ganze Völker zu exilieren, schrieb er, sei in der römischen Geschichte unbekannt. Vielmehr handele es sich um ein mythisches Konstrukt, das vom rabbinischen Judentum nach dem Muster des babylonischen Exils nachträglich geschaffen wurde. Später sei es auch von der christlichen Mythologie beeinflusst worden, der zufolge die Juden als Strafe für die Kreuzigung Jesu und die Ablehnung seiner Botschaft von den Römern aus dem Heiligen Land verbannt worden seien.
Yuval hatte zudem darauf hingewiesen, dass tonangebende zionistische Historiker wie Ben Zion Dinur die Eroberung Palästinas durch die Muslime für das Exil der Juden verantwortlich machten. Später allerdings hätten Dinur wie andere Vertreter des israelischen Establishments bis hin zu Ariel Scharon diese Geschichtsversion mit der Behauptung zu relativieren versucht, dass trotz sämtlicher Vertreibungen stets Juden im Land geblieben seien und somit die jüdische Besiedlung Eretz Israels nie ganz unterbrochen worden sei. Dass diese Erkenntnis, die sich Sand zueigen macht, ebenfalls auf Yuvals Untersuchungen zurückgeht, wird vom Autor schlicht verschwiegen.
Nicht minder bedenklich ist die Art, in der Sand die - auch nicht von ihm stammende - These entfaltet, die überwiegende Mehrheit der Diasporajuden seien Nachkommen von Konvertiten. Um sie zu stützen, wird dem Leser eine Mischung aus Historie und Legende als Wissenschaft aufgetischt. Dass aber beispielsweise die Juden im mittelalterlichen Spanien Abkömmlinge eines Berbervolks sein sollen, dessen "geheimnisvolle" Königin Kahina zum Judentum übertrat, ist unter Historikern umstritten; ebenso die angeblichen Belege für die gewaltigen territorialen Ausmaße jenes sagenumwobenen Königreichs der kollektiv zum jüdischen Glauben konvertierten Khasaren, von dem die Ostjuden abstammen sollen - damit hatte ja schon in den siebziger Jahren der ungarisch-jüdische Hobbyhistoriker Arthur Koestler für Schlagzeilen gesorgt. Sands Darstellung entnimmt man, dass die heutigen Juden im Grunde nicht für sich in Anspruch nehmen können, eine "intakte" Ethnie zu sein. Seine israelischen Kritiker werfen ihm vor, damit die Legitimität des jüdischen Anspruchs auf Eretz Israel zu untergraben.
Sand jedoch - anders als sein Buch es suggeriert - brachte 2008 in einem Presseinterview zu seiner Verteidigung das Argument vor, das Recht der Juden auf das Land bleibe von dieser Frage unberührt. Macht diese Aussage im Grunde nicht ganze Passagen seines Buches überflüssig? Zumal Sand die Besessenheit der Zionisten, aus den Juden ein "Rassenvolk" zu konstruieren, zwar verurteilt, sie aber in politischer Hinsicht nicht für das größte Problem hält. Eine viel größere Gefahr für das künftige Zusammenleben von jüdischen und arabischen Israelis sieht er in der jüdisch-ethnozentrischen Ausrichtung des Staates Israel. Diesen will Sand in einen "Staat all seiner Bürger", in eine zivile "Republik Israel" umgewandelt sehen - eine Vision, die, wie sein unkonzentriertes Buch, nicht ohne Widersprüche ist. Denn mit der Beibehaltung des Staatsnamens "Israel" wird ignoriert, wie tief bei nationalistischen palästinensischen Mitbürgern die Abneigung gegen einen wie auch immer mit der jüdischen Tradition assoziierten Staat sitzt.
JOSEPH CROITORU
Shlomo Sand: "Die Erfindung des jüdischen Volkes". Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand.
Aus dem Hebräischen von Alice Meroz. Propyläen Verlag, Berlin 2010. 512 S., geb., 24,95 [Euro].
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