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Autorenporträt
Boris Groys, 1947 in Ost-Berlin geboren, studierte in Leningrad. 1981 verließ er die UdSSR und lehrte seit 1994 Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Internationale Lehrtätigkeiten, zuletzt als Professor für russische und slawische Studien an der New York University. Bei Hanser erschien zuletzt: Einführung in die Anti-Philosophie (2009).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1995

Vernunftkritiker Stalin
Boris Groys erklärt Rußlands Anderssein / Von Kerstin Holm

Da Rußland wieder einmal sein Selbstverständnis ändert und statt einer europäischen Demokratie lieber Großmacht sein möchte, lohnt es sich, daran zu erinnern, daß es eine paradoxe russische Tradition ist, immer wieder mit der eigenen Tradition zu brechen und sich neu zu erfinden. Dafür ist es durch seine Randlage prädestiniert. Es gehört weder zum Orient noch zum Okzident, was die ständigen Zweifel an seiner Identität geradezu programmiert. Rußland hat sein Selbstbild freilich immer mit Blick auf den Westen formuliert und mit Argumenten, die dem westlichen Geistesleben entnommen sind.

Dabei haben russische Denker, die über weniges mehr und intensiver nachgedacht haben als über das Wesen Rußlands, die Außenseiterposition ihrer Heimat in Europa immer auch in einen Vorteil umzumünzen versucht. Philosophische Strömungen verwandelten sie sich in einer Weise an, daß an die Stelle der von ihnen gesehenen Defizite, Blindheiten oder Utopien des europäischen Bewußtseins Rußland gesetzt werden konnte. Es konnte also den alten Kontinent von seinen Begrenzungen heilen. Diese Denkfigur beschreibt Boris Groys in seinen Essays.

Die zugleich pointiert und kursorisch, streckenweise wie Vorlesungsmanuskripte geschriebenen Ausführungen vergegenwärtigen, daß die charakteristische Stoßrichtung des russischen Denkens eine Kritik am europäischen "Logozentrismus" war, wie Groys es mit einem Modewort formuliert. Die russischen Zaren hatten versucht, einige Früchte der europäischen Aufklärung in ihrem Land einzupflanzen, um die Autokratie effektiver zu machen. Für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutete die Aufklärung deshalb nicht Emanzipation, sondern eine Verstärkung der Zumutungen herrscherlicher Gewalt.

Nachdem Peter Tschaadajew 1829 seinem Vaterland die vernichtende Diagnose gestellt hatte, es sei aus der Menschheitsgeschichte herausgefallen, kehrten spätere Denker den Spieß um. Die Slawophilen Kirejewski und Chomjakow deuteten die kulturelle Abseitsstellung Rußlands als Zeichen einer besonderen Innerlichkeit und eines nicht durch Reflexion zerstörten Christentums. So schrieb man der russischen Unbewußtheit Qualitäten des höchsten mystischen Bewußtseins und einen religiösen Sinn zu.

Der große Philosoph Wladimir Solowjow rechtfertigt Rußland, indem er das materielle gegen das geistige Prinzip verteidigt. Das ursprüngliche Christentum habe, so lehrt Solowjow, Geist und Materie als einander ebenbürtig anerkannt, denn es verkündete die Fleischwerdung des Wortes, also ihrer beider Synthese. Der Mensch dürfe erst dann auf Unsterblichkeit hoffen, wenn er am Leib Gottes, an der ideellen Materie teilhabe. Sie faßt Solowjow als das weibliche Schöpfungsprinzip auf und beschreibt es als mystische Geliebte "Sophia", Weisheit. Im Gegensatz zu der dem Rationalismus verfallenen westlichen Welt habe Rußland sich seinen Glauben bewahrt, weshalb Solowjow in einer höheren Verbindung Rußlands mit dem Westen beider Rettung erblickt.

Für Groys besetzt Rußland immer wieder den Platz des "anderen", des der gedanklichen Ordnung widerstehenden Rests, der in der Psychoanalyse als Unbewußtes, im Marxismus als Proletariat, bei Nietzsche als das Dionysische auftritt. In den wohl interessantesten Überlegungen des Autors, die dem Stalinismus gewidmet sind, führt er vor, wie die Sowjetführung diese traditionelle Rationalismuskritik zu ihrem logischen Ende führte und die Kapitulation jeglichen eigenständigen Denkens forderte. Vom sowjetischen Philosophen wurde verlangt, im Sinn des dialektischen Materialismus möglichst widersprüchliche Thesen zu formulieren. Logische Stringenz brandmarkte man als "Einseitigkeit", die der Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit nicht Rechnung trägt.

Dabei hatten die Direktiven der Partei stets unbedingten Vorrang vor individuellen Einsichten, weil auch sie aus der kollektiven Vernunft und Lebenspraxis hervorgingen. Die philosophische Originalität des Totalitarismus besteht Groys zufolge darin, daß er sich nicht auf bestimmte Positionen beschränken lassen will, sondern die Herrschaft auch über alle alternativen Möglichkeiten im Leben und Denken beansprucht. Unbeschadet ihrer Starre verneinte die Sowjetideologie ständig die einmal formulierten Positionen und zog dadurch auf die Dauer einen weltanschaulichen Zynismus heran, der die Gesellschaft bis heute prägt.

Der Reiz der Texte von Boris Groys liegt nicht zuletzt darin, daß sie Rußland zugleich von außen und von innen beschreiben. Der Autor lebt seit vielen Jahren in Deutschland, befaßt sich mit zeitgenössischer Philosophie und Kunst des Westens und gehört gleichzeitig der russischen, vor allem der Moskauer Kulturszene an. Seine Vorliebe für apodiktische Zuspitzungen und für die Provokation macht die Lektüre aufregend. Das gilt auch für seine Beobachtungen zur Kunst der russischen Avantgarde, des Stalinismus und der russischen Postmoderne, die in dem Band gesammelt sind. Das Vergnügen wird nur gelegentlich getrübt, wenn Groys den Eindruck erweckt, ihn bewege weniger das von ihm besprochene Werk oder ein Autor, er suche vielmehr Anwendungsmöglichkeiten für eine Denkfigur.

Boris Groys: "Die Erfindung Rußlands". Teilweise aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke, Gabriele Leupold und Johanna Roos. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1995. 252 S., br., 39,80 DM.

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