Die minimalistischen Geschichten von Amy Hempel sind Kleinode, in die man hineingeworfen wird, um verändert wieder aufzutauchen. Sie sind scharfsichtige Portraits scheinbarer Nichtigkeiten. Die immer wiederkehrenden Motive sind zugleich die Grundthemen Amy Hempels: der Tod, als beständiger Begleiter, die omnipräsente Angst vor menschlichen Bindungen, der unsichere Grund, auf dem sich die Figuren bewegen, Schlammlöcher und Erdbeben, das Auftreten von Einzelgängern, die zu empfindsam sind, um das Wanken der Welt nicht zu bemerken.
Diese Geschichten entfalten ihren Sog im ersten Satz, sie sind unheimlich, verstörend, immer originell und jede tritt eine Lawine los, die sich wie eine unbezahlte Rechnung im Kopf des Lesers festsetzt.
Diese Geschichten entfalten ihren Sog im ersten Satz, sie sind unheimlich, verstörend, immer originell und jede tritt eine Lawine los, die sich wie eine unbezahlte Rechnung im Kopf des Lesers festsetzt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr minimalistisch, diese Erzählungen von Amy Hempel, manchmal geradezu klinisch, und dann wieder umwerfend komisch, weil sie einen Blick für Details hat, lobt Rezensentin Katharina Laszlo. Es geht oft um Tod und Verfall, doch werden die Dinge nie so direkt ausgesprochen. Oder sehr lakonisch behandelt. Laszlo zitiert zum Beleg eine Stelle aus der Titelerzählung "Die Ernte". Der Freund eines Unfallopfers hält den blutgetränkten Pulli seiner Freundin hoch und sagt: "Du wirst schon wieder, aber dieser Pullover ist ruiniert."
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.01.2014Zerspringende Zähne
Tiefe Wunden und eine ganze Menge Pech: Amy Hempel folgt in ihren lakonischen Erzählungen dem Vorbild des großen Minimalisten Raymond Carver.
So kurz sie aufblitzt und so schnell sie wieder verschwindet, die Figur des Nachbarn in Amy Hempels Erzählung "Die Ernte" trägt wesentlich zum Verständnis der Geschichte, vielleicht aller Geschichten dieser Autorin, bei. Früher sei der Nachbar Chemielehrer gewesen, berichtet die Ich-Erzählerin, doch nur "bis eine Explosion ihm das Gesicht nahm und übrig ließ, was übrigblieb. Der Rest von ihm ist ordentlich in dunkle Anzüge und polierte Schuhe gekleidet." In sorgfältig formulierten Erinnerungen und nüchternen Beobachtungen zeugen Amy Hempels Erzählungen von tiefen Wunden und einer ganzen Menge Pech.
Schlechte Sätze, hat Amy Hempel einmal gesagt, würden sie krank machen. Ihren eigenen schenkt die Autorin daher uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Ganz besonders den Anfangssätzen, etwa in "Die Ernte", der titelgebenden Geschichte des Bandes, der nun in deutscher Übersetzung vorliegt: "In dem Jahr, in dem ich anfing, Wahs anstelle von Vase zu sagen, brachte mich ein Mann, den ich kaum kannte, unabsichtlich beinahe um." Scheinbar nur die wertfreie Beobachtung unzusammenhängender Ereignisse aufzeichnend - die Entscheidung für die affektierte Aussprache eines Wortes und ein lebensbedrohlicher Unfall -, legt Hempel mit einer Klarheit den Grundstein für die sich durch die gesamte Geschichte ziehende Verschmelzung von Möglichem und Wirklichem, die ihresgleichen sucht.
Der Tod rückt vielen von Hempels Helden beängstigend nah auf die Pelle. Jedes Detail der Titelerzählung, so scheint es, verweist auf Sterblichkeit und Verfall, von Nierenspendern über Gebete für betrunkene Autofahrer zu versteiften Fingern und dem Bild eines abgeschlagenen Kopfes. Lediglich fragmentarische Andeutungen geben im ersten Teil spärliche Auskunft über den Zusammenstoß, der für die "fünfhundert Stiche" verantwortlich ist, mit denen das Bein eines namenlosen Mädchens im Krankenhaus wieder zusammengenäht wird. Und dies nur, um das Gesagte im zweiten Abschnitt zu revidieren: Aus den fünfhundert werden dreihundert Stiche, aus dem zweiten Unfallauto wird ein Motorrad, aus der Erzählerin eine Lügnerin. Oder eine Schriftstellerin. "Ich lasse vieles aus, wenn ich die Wahrheit sage", gibt sie zu. "Gleiches gilt, wenn ich eine Geschichte schreibe."
Es ist jenes Verschweigen und Verkürzen von Wahrheiten, das Hempel bei amerikanischen Kritikern den Ruf einer Minimalistin bescherte, mit Raymond Carver als Stilvorbild und dessen ehemaligem Lektor Gordon Lish als Lehrmeister. Tatsächlich scheint Hempel oftmals am meisten zu sagen, wenn sie nichts sagt; anstelle von situationserläuternden Übergängen setzt sie Leerzeilen. Adjektive und Adverbien sind rar. Es geht lakonisch zu. Der Freund der Ich-Erzählerin in "Die Ernte" hält den mit dem Blut seiner Freundin getränkten Pullover in die Luft. "Du wirst schon wieder", sagt er, "aber dieser Pullover ist ruiniert."
Auch die Trauer eines Jungen über den Selbstmord seiner Mutter in "Was an dir am meisten Mädchen ist" benennt Hempel nicht, sie lässt uns lieber beobachten, wie er "versucht, seine Zähne zerspringen zu lassen", indem er sich den Mund abwechselnd mit Eiswasser und heißem Kaffee spült. Dabei ist die Zuordnung zum Minimalismus längst kein reines Kompliment mehr. Gelegentlich könnte man meinen, dass hier eine kühl kalkulierende Schreibwerkstatts-Instrukteurin am Werk ist, die sich dasselbe Sparsamkeits-Diktat auferlegt hat wie ihren Studenten. Nach Stationen am Bennington College und der Duke University ist Hempel derzeit in Harvard als Briggs-Copeland-Dozentin für Kreatives Schreiben tätig.
Während ihr Minimalismus die Abwesenheit von Hoffnung im Leben ihrer Helden formell unterstreicht, führen Hempels Präzision und ihr Scharfblick für kleinste Beobachtungen in einem verunglückten Leben zu mitunter geradezu hysterisch komischen Elementen. So liest sich "Und führe uns nicht in Penn Station" wie ein bis ins Unendliche durchexerzierter Witz: Kommt ein Blinder in eine Bank, wird bis zur Spitze der Schlange durchgereicht - und bestellt ein Schinkensandwich. Dazu gesellen sich Polizisten, die ängstlichen Frauen empfehlen, ihre Türknäufe auf Hochglanz zu polieren, um nach einem Einbruch klare Fingerabdrücke vorweisen zu können, Ehefrauen, die ihre Drogendealer-Ehemänner bestehlen, um das Geld in Indien zu verteilen, und ein bewusstloser Spaziergänger, dem die Ecke eines Parkschilds in den Mund geschoben wird, damit er seine Zunge nicht verschluckt.
Amy Hempel betrachtet die Welt durch ein Nadelöhr. Ihr Gespür für Prägnanz, perfektes Timing, die feinsten Nuancen und den richtigen Tonfall sind nicht allein schriftstellerischer Disziplin zu verdanken. Es waren die Improvisations-Komiker San Franciscos, die Hempel in ihrer Jugend Abend für Abend beobachtete, von denen sie eine Kunst lernte, die sie "mit Absicht menschlich sein" nannten.
KATHARINA LASZLO
Amy Hempel: "Die Ernte". Erzählungen.
Aus dem Amerikanischen von Jakob Jung.
Luxbooks,
Wiesbaden 2013. 120 S., br., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tiefe Wunden und eine ganze Menge Pech: Amy Hempel folgt in ihren lakonischen Erzählungen dem Vorbild des großen Minimalisten Raymond Carver.
So kurz sie aufblitzt und so schnell sie wieder verschwindet, die Figur des Nachbarn in Amy Hempels Erzählung "Die Ernte" trägt wesentlich zum Verständnis der Geschichte, vielleicht aller Geschichten dieser Autorin, bei. Früher sei der Nachbar Chemielehrer gewesen, berichtet die Ich-Erzählerin, doch nur "bis eine Explosion ihm das Gesicht nahm und übrig ließ, was übrigblieb. Der Rest von ihm ist ordentlich in dunkle Anzüge und polierte Schuhe gekleidet." In sorgfältig formulierten Erinnerungen und nüchternen Beobachtungen zeugen Amy Hempels Erzählungen von tiefen Wunden und einer ganzen Menge Pech.
Schlechte Sätze, hat Amy Hempel einmal gesagt, würden sie krank machen. Ihren eigenen schenkt die Autorin daher uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Ganz besonders den Anfangssätzen, etwa in "Die Ernte", der titelgebenden Geschichte des Bandes, der nun in deutscher Übersetzung vorliegt: "In dem Jahr, in dem ich anfing, Wahs anstelle von Vase zu sagen, brachte mich ein Mann, den ich kaum kannte, unabsichtlich beinahe um." Scheinbar nur die wertfreie Beobachtung unzusammenhängender Ereignisse aufzeichnend - die Entscheidung für die affektierte Aussprache eines Wortes und ein lebensbedrohlicher Unfall -, legt Hempel mit einer Klarheit den Grundstein für die sich durch die gesamte Geschichte ziehende Verschmelzung von Möglichem und Wirklichem, die ihresgleichen sucht.
Der Tod rückt vielen von Hempels Helden beängstigend nah auf die Pelle. Jedes Detail der Titelerzählung, so scheint es, verweist auf Sterblichkeit und Verfall, von Nierenspendern über Gebete für betrunkene Autofahrer zu versteiften Fingern und dem Bild eines abgeschlagenen Kopfes. Lediglich fragmentarische Andeutungen geben im ersten Teil spärliche Auskunft über den Zusammenstoß, der für die "fünfhundert Stiche" verantwortlich ist, mit denen das Bein eines namenlosen Mädchens im Krankenhaus wieder zusammengenäht wird. Und dies nur, um das Gesagte im zweiten Abschnitt zu revidieren: Aus den fünfhundert werden dreihundert Stiche, aus dem zweiten Unfallauto wird ein Motorrad, aus der Erzählerin eine Lügnerin. Oder eine Schriftstellerin. "Ich lasse vieles aus, wenn ich die Wahrheit sage", gibt sie zu. "Gleiches gilt, wenn ich eine Geschichte schreibe."
Es ist jenes Verschweigen und Verkürzen von Wahrheiten, das Hempel bei amerikanischen Kritikern den Ruf einer Minimalistin bescherte, mit Raymond Carver als Stilvorbild und dessen ehemaligem Lektor Gordon Lish als Lehrmeister. Tatsächlich scheint Hempel oftmals am meisten zu sagen, wenn sie nichts sagt; anstelle von situationserläuternden Übergängen setzt sie Leerzeilen. Adjektive und Adverbien sind rar. Es geht lakonisch zu. Der Freund der Ich-Erzählerin in "Die Ernte" hält den mit dem Blut seiner Freundin getränkten Pullover in die Luft. "Du wirst schon wieder", sagt er, "aber dieser Pullover ist ruiniert."
Auch die Trauer eines Jungen über den Selbstmord seiner Mutter in "Was an dir am meisten Mädchen ist" benennt Hempel nicht, sie lässt uns lieber beobachten, wie er "versucht, seine Zähne zerspringen zu lassen", indem er sich den Mund abwechselnd mit Eiswasser und heißem Kaffee spült. Dabei ist die Zuordnung zum Minimalismus längst kein reines Kompliment mehr. Gelegentlich könnte man meinen, dass hier eine kühl kalkulierende Schreibwerkstatts-Instrukteurin am Werk ist, die sich dasselbe Sparsamkeits-Diktat auferlegt hat wie ihren Studenten. Nach Stationen am Bennington College und der Duke University ist Hempel derzeit in Harvard als Briggs-Copeland-Dozentin für Kreatives Schreiben tätig.
Während ihr Minimalismus die Abwesenheit von Hoffnung im Leben ihrer Helden formell unterstreicht, führen Hempels Präzision und ihr Scharfblick für kleinste Beobachtungen in einem verunglückten Leben zu mitunter geradezu hysterisch komischen Elementen. So liest sich "Und führe uns nicht in Penn Station" wie ein bis ins Unendliche durchexerzierter Witz: Kommt ein Blinder in eine Bank, wird bis zur Spitze der Schlange durchgereicht - und bestellt ein Schinkensandwich. Dazu gesellen sich Polizisten, die ängstlichen Frauen empfehlen, ihre Türknäufe auf Hochglanz zu polieren, um nach einem Einbruch klare Fingerabdrücke vorweisen zu können, Ehefrauen, die ihre Drogendealer-Ehemänner bestehlen, um das Geld in Indien zu verteilen, und ein bewusstloser Spaziergänger, dem die Ecke eines Parkschilds in den Mund geschoben wird, damit er seine Zunge nicht verschluckt.
Amy Hempel betrachtet die Welt durch ein Nadelöhr. Ihr Gespür für Prägnanz, perfektes Timing, die feinsten Nuancen und den richtigen Tonfall sind nicht allein schriftstellerischer Disziplin zu verdanken. Es waren die Improvisations-Komiker San Franciscos, die Hempel in ihrer Jugend Abend für Abend beobachtete, von denen sie eine Kunst lernte, die sie "mit Absicht menschlich sein" nannten.
KATHARINA LASZLO
Amy Hempel: "Die Ernte". Erzählungen.
Aus dem Amerikanischen von Jakob Jung.
Luxbooks,
Wiesbaden 2013. 120 S., br., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main