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  • Gebundenes Buch

Produktdetails
  • Verlag: List
  • Originaltitel: Daring the Sea
  • Seitenzahl: 319
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 561g
  • ISBN-13: 9783471786628
  • ISBN-10: 3471786627
  • Artikelnr.: 24073286
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.1999

Nicht einmal ein Hauch von Muskat und Musik
George Harbo und Frank Samuelson hatte keiner gesagt, wie man den Atlantik durchrudert: Der großen Freiheit Glück sah anders aus

Zum Höhepunkt des Films "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde" nach dem Roman von Jules Verne hält die Handlung inne und läßt sowohl die Mitglieder des Expeditionskorps als auch den Zuschauer tief bewegt vor einer Leiche verharren. Es sind die Überreste eines Forschers, der den gesuchten Mittelpunkt der Erde weit früher fand als die Helden des Films, dort aber erschöpft verstarb. Die Gedanken der Männer wandern zurück zu den eben überwundenen Hürden, die sie im Kampf mit Lava, Lindwürmern, Ozeanen und allerhand seltsamem Getier bis an die Grenze des Möglichen getrieben hatten. Dabei wird unmittelbar klar, welcher der beiden Versuche, den Mittelpunkt der Erde zu finden, die wahre Leistung dargestellt hat.

Trotz Fiktion zeigen sich hier zwei reale Prinzipien. Erstens: Keine Herausforderung kann dem Menschen groß genug sein, um sich nicht an ihr zu versuchen. Zweitens: Diese Leistung läßt sich fast immer noch steigern. Es scheint damit nur eine Frage der Zeit, bis der Mount Everest barfuß bezwungen oder der Ärmelkanal rückenschwimmend und eine Pampelmuse auf einer Makkaroni balancierend durchquert wird. Trotz ausgeprägter Intelligenz scheint es Schwäche und Stärke des Menschen zugleich zu sein, aus den Fehlern anderer nicht nur zu lernen, sondern diese bisweilen auch zu ignorieren und sich nicht abhalten zu lassen, Wagnisse erneut anzugehen.

Wie immer die Einstellung zu Unternehmungen dieser Art sein mag - ob bewundernd, neidend oder verächtlich ablehnend -, schwer läßt sich der Schauer verbergen, der einen durchfährt, stellt man sich Einsamkeit, Schmerzen und Ängste vor, die solche Helden erleben. Zweien davon, George Harbo und Frank Samuelson, die im Sommer 1896 aufbrachen, um sich einer ganz besonderen Herausforderung zu stellen, widmet sich David W. Shaw in seinem umfangreich recherchierten Buch über die erste Atlantiküberquerung mit reiner Muskelkraft: von New York bis Le Havre im Ruderboot.

Wie im Roman von Jules Verne läßt sich auch bei diesem Abenteuer die wahre Leistung erst dann begreifen, wenn man sich mit den Gefahren und mit den Versuchen anderer auseinandersetzt, die besser ausgestattet waren und trotzdem scheiterten. Shaw erzählt die Geschichte der diversen Unternehmungen, die vorher oder später in Nußschalen, mit und ohne Muskelkraft, Teile der Weltmeere zu bezwingen versuchten. Geschickt läßt er in Vorwort und erstem Kapitel die Möglichkeit des Scheiterns seiner Helden offen, indem er die objektiven Gefahren heraufbeschwört; informativ das Schlußkapitel, das uns nach vollbrachter Tat gemeinsam mit den Ruderern erleichtert aufatmen läßt. Die faktenreiche Darstellung selbst resultiert aus Tagebuchaufzeichnungen, Interviews mit noch lebenden Angehörigen und Zeitungsmeldungen.

Neben ihrem Durchhaltewillen erstaunt, mit welcher Naivität sich die beiden Männer in das Abenteuer stürzten und wie häufig das Schicksal über Tod oder Überleben entschieden hat. Unbegreiflich, daß auf der Reise in dem winzigen Holzboot von fünf Metern Länge unbeschadet Feuer ausbrechen konnte, daß die Konfrontation mit Haifischen und der Verlust der für die Navigation so wichtigen Armbanduhr in einem Sturm überlebt wurden. Die Dauer von 55 Tagen, die Harbos und Samuelsons Überquerung benötigte, ist noch in den Zeiten von Satellitentelefon, Astronautennahrung und Trainingsplanung ungebrochen.

Der Grund für diesen allen sonstigen Erfahrungen gegenüber der Entwicklung von Rekorden widersprechenden Umstand liegt, so Shaw, neben der unglaublichen Willensanstrangung, der Ausdauer und der Navigationskunst der beiden Ruderer, im Verhalten des Meeres. Dieses Meer ist die dritte Person in diesem Stück. Es nimmt die Rolle eines Vaters ein, der mit Strenge und Wohlwollen seine beiden Söhne erzieht. Die Beschreibung der Stürme, das verzweifelte Kurshalten der Männer an den Rudern, ohne nachgeben oder gar einschlafen zu dürfen, gehören zu den Höhepunkten des Buches. Es lehrt uns, daß das Meer nicht bezwingbar ist, es läßt uns bestenfalls gewähren.

Doch Glück allein genügt nicht. Es bleibt rätselhaft, wo sich in Harbos und Samuelsons persönlicher Entwicklung die notwendige Risikobereitschaft und ihr Mut herausbilden konnten. Der eine war ruhig, der andere still, ihre Familien waren schweigsam. Vereint durch ein gemeinsames Schicksal - beide waren aus Norwegen eingewanderte Fischer vor den Küsten New Yorks - und verbunden durch Freundschaft, träumten sie von einer besseren Zukunft, von bescheidenem Reichtum durch eine besondere Leistung, die sich durch Presse und Vorträge vermarkten ließe. Es scheint, als ob zwei durchaus normale, eher etwas langweilige Menschen zufällig über die Idee der Atlantiküberquerung gestolpert sind. Einfach, weil sie beim Muschelfang viele Stunden zusammen auf der offenen See zubrachten und sich spielerisch mit der Idee auseinandersetzten.

Es überzeugt wenig, wenn Shaw voller Nationalstolz vom sehnsüchtigen Blick der beiden auf die Freiheitsstatue berichtet - gerade so, als hätte man die Idee nicht auch am Zielpunkt Le Havre entwickeln können. Nachvollziehbarer ist da schon der Reiz der Weite des Ozeans. So wie unsereins über eine Brüstung blickt und sich vorstellt, sich nur noch etwas weiter vorzubeugen, so muß es beide gepackt haben, um den nächsten Schritt gehen zu können.

Gesichert ist, daß sie durch das Vorbild eines anderen Abenteurers angeregt wurden, der es durch Berichte über seine Reise in einem kleinem Segelschiff zu moderatem Reichtum gebracht hatte. Aber die finanzielle Situation vieler Auswanderer war damals prekär, und Vorbilder, die mutig oder dumm genug waren, sich in Abenteuer zu stürzen, gab es ebenfalls genug. Vielleicht spielte die zeitweilige Abwesenheit der beiden Ehefrauen eine besondere Rolle; Männer kommen ja dann auf die aberwitzigsten Gedanken.

Zwar bleibt Shaw vage bei der Entwicklung der Motive, hält aber glücklicherweise in der weiteren Beschreibung den nötigen Abstand. Weder glorifiziert er seine Helden, noch versucht er sich allzu detailliert auf die Darstellung von Emotionen und Dialogen einzulassen. So vermeidet er Interpretationen, läßt statt dessen die Fakten sprechen: Details zu Technik, Wetter, Navigation und Meereskunde geben Einblick in die Anforderungen, die es zu bewältigen galt. Interessant etwa die Beschreibung des Bootes, vielleicht der vierte Hauptakteur im Stück, oder der primitiven Hilfsmittel zum Navigieren. Goretex-Bekleidung war noch nicht erfunden, und so mußte mit Ölzeug vorlieb genommen werden. Das hieß entweder, unter der ständigen Feuchte und Kälte auf der Haut oder, wenn das Wetter besser wurde, unter der Wirkung permanenter Sonneneinstrahlung und Durst, stets aber unter Schwielen, Abszessen und Schlafentzug zu leiden.

Über eine detaillierte Karte zur Veranschaulichung hätten sich nicht nur Harbo und Samuelson gefreut, wenn es diese zu ihrer Zeit gegeben hätte, sondern auch der Leser, der so etwas mittlerweile durchaus erwarten darf. Wenn Shaw aber in die Sprache echter Seemänner verfällt, von den "roaring fourties" und den "screaming fifties" spricht, fühlt man sich, als hätte man selber gerade Kap Hoorn umsegelt und persönlich Bekanntschaft mit diesen beiden gefürchteten Stürmen geschlossen.

Nüchtern betrachtet blieb für Harbo und Samuelson neben einer goldenen Medaille und Ehrungen nicht viel. Beide arbeiteten später wieder als Muschelfischer und führten ein unspektakuläres Leben, das leider bei Shaw etwas zu ausführlich ausgebreitet wird. Doch die späte Würdigung, die beiden Helden durch das vorliegende Werk widerfährt, bringt etwas ausgleichende Gerechtigkeit in die Geschichte der Atlantiküberquerungen in kleinen Booten. Nicht allein die übermenschliche Leistung und der Rekord hebt sie aus der Masse der Abenteurer heraus. Sie waren in gewisser Weise ihrer Zeit voraus, wollten sie doch reich und berühmt werden durch Nutzung der Medien. Wohl jedes ausgefallene Managementseminar zur Motivationssteigerung ließe sich mit den beiden als Beispiel für wahre unternehmerische Risikobereitschaft zieren. Zumindest aber ließen sich die Rechte an ihrem Stoff in Hollywood vermarkten. Aber die Zeit derer, die ihrer inneren Stimme folgen, ist vorbei.

ARVID RAPP

David W. Shaw: "Die Eroberung des Horizonts". Die wahre Geschichte der ersten Männer, die über den Atlantik ruderten. Aus dem Englischen übersetzt von Hermann Kusterer. List Verlag, München 1999. 320 S., Abb., geb., 44,- DM.

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