Der englische Historiker Hugh Thomas entwirft ein farbenprächtiges Gemälde der Begegnung zweier Kulturen, Denkweisen und Mentalitäten. Er läßt das alte Aztekenreich wiedererstehen und schildert dessen Zerstörung durch die Spanier. Vor allem jedoch porträtiert er die handelnden Personen - in erster Linie die beiden Protagonisten Cortes und Montezuma.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998Der Azteke machte seinen Schärenschnitt
Hugh Thomas entdeckt bei Montezuma ein Stockholm-Syndrom / Von Wolfgang Reinhard
Die Geschichte kennt kaum ein größeres Abenteuer als die Eroberung des gefürchteten Aztekenreiches durch etliche hundert Spanier unter der Führung des Hernan Cortés zwischen 1519 und 1522. Sie "kennt" es dank einer Flut von Dokumenten, unter denen die gekonnte Selbstdarstellung des Cortés in seinen Briefen an den spanischen König und Kaiser Karl V. und die kritischen, aber ausführlichen und bunten Erinnerungen des Soldaten Bernal Diaz del Castillo besonderen Rang einnehmen.
Zusätzlich zum Exotismus einer fremden und reichen Welt wird die Phantasie der Leser stimuliert vom Schauder angesichts der exzessiven Menschenopfer der einen, der viehischen Grausamkeit der anderen Seite und von der Bewunderung für den unglaublichen Wagemut der Eroberer. Cortés' skrupellose, bisweilen geradezu kriminelle Verwegenheit zeigte sich zum erstenmal, als er seinen Auftraggeber Velázquez, den Gouverneur von Kuba, ausmanövrierte, sich mittels juristischer Kniffe zum selbständigen Eroberer bestellen ließ und seine zaudernden Gefährten durch seine beachtliche Rednergabe zum riskanten Zug von der üppigen Küste ins eher karge Hochland zur Inselstadt Tenochtitlan bewegte. Indianische Verbündete, von ersten Nachrichten angelockter spanischer Nachschub, geschickte Strategie, etwa der Bau und Einsatz von Segelbooten, und nicht zuletzt kalkulierter Terror ließen Cortés die Katastrophe des verlustreichen Rückzugs aus Tenochtitlan überstehen und ermöglichten ihm eine siegreiche Rückkehr.
Die Briefe an den Kaiser sollten die Legalisierung seiner Aktionen bewirken, die angesichts des Erfolges und massiver Bestechung maßgebender Leute auch nicht ausblieb. Allerdings wurde die Regierung des Landes dem Eroberer wie üblich baldmöglichst entzogen und Vertrauensleuten der Krone übertragen. Cortés hatte sich aber längst gewaltig bereichert, als Grundherr und Unternehmer, vermutlich aber zuerst durch Betrug an seinen Gefährten, deren Beuteanteil erbitternd gering ausfiel, was ihre spätere Entschädigung auf Kosten der Indianer unvermeidlich machte.
Auf der Gegenseite, bei diesen Indianern im allgemeinen und den Azteken im besonderen, waren Unsicherheit und Angst angesichts der spanischen Waffen und Pferde bald nicht mehr so groß, wie oft behauptet wird. Aber ihr Herrscher, Montezuma II., schwankte in seiner Haltung und fand sich schließlich als Geisel der Spanier sogar zur Kooperation bereit. Die Gründe waren offenbar religiöser Natur. Montezuma war für aztekische Begriffe ein frommer Mann, wie übrigens Cortés ebenso für spanische, trotz seiner Skrupellosigkeit. Doch was das bedeutete, ist im zweiten Falle leichter festzustellen als im ersten.
Die Quellenlage bringt es mit sich, daß die neue Monumentaldarstellung von Hugh Thomas, die der oft erzählten Geschichte bei aller Breite der Schilderung zweier Welten doch vor allem den Charakter einer Doppelbiographie der beiden Protagonisten gibt, in diesen Fragen ungleichgewichtig ausfällt. Thomas bewältigt solche Schwierigkeiten, indem er mit stupender Literaturkenntnis alle erdenklichen Informationen zusammenträgt und erörtert, um sich dann, wenn irgend möglich, für die plausibelste Lösung zu entscheiden.
"Die Vorstellung, daß die Ankunft von Cortés keine religiöse Bedeutung habe, wäre den meisten Mexica genauso lächerlich erschienen wie einem Marxisten die Annahme, er sei in seinem Handeln nicht von ökonomischen Motiven angetrieben worden." Weiter scheint klar zu sein, daß Montezuma sich vor einem aus dem Osten wiederkehrenden Gott oder Herrscher - der Unterschied war bei den Azteken nicht groß - fürchtete; nur dessen Identität bleibt fraglich, denn die angebliche Identifikation von Cortés mit dem Toltekengott Quetzalcoatl hat sich inzwischen als nachträgliches Konstrukt aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts erwiesen.
Aber Montezuma war immerhin lange genug in seiner Handlungsfähigkeit gelähmt. In der Geiselhaft setzte Cortés ihn dem in solchen Fällen erfolgversprechenden Wechselbad von Zuwendung und Brutalität aus. Montezuma scheint die übliche emotionale Bindung des Entführungsopfers zum Entführer aufgebaut zu haben, bis er bei einem Vermittlungsversuch von seinem eigenen Volk getötet wurde - nicht durch Cortés, wie man bisweilen lesen kann. Aber dieser ließ daraufhin sofort die zwanzig bis dreißig Häuptlinge umbringen, die mit ihrem Herrscher gefangen waren.
Man sieht, Thomas fühlt sich nicht zur politischen Korrektheit des historischen Urteils verpflichtet, wie sie, wo es sich um Lateinamerika handelt, vor allem in Deutschland immer noch einseitig zugunsten der Indianer und gegen die Spanier erwartet wird. Er läßt sich auch auf keine der üblichen theoretischen Diskussionen ein, sondern erzählt einfach Geschichte, erzählt sie dabei gut und so ausführlich, daß dank der Berücksichtigung aller bekannten und sogar etlicher neuen Quellen und der umfangreichen Literatur aktuelle Ergebnisse und Gesichtspunkte ganz selbstverständlich in sein Buch eingehen. Zwar handelt es zum Beispiel nicht ausdrücklich von Sozialgeschichte, zeichnet aber doch mit einer Fülle von Einzelheiten das soziale Netzwerk der Konquistadoren nach, das für sie lebenswichtige Loyalitäten erzeugte - Cortés vertraute aus guten Gründen fast nur Verwandten und Landsleuten aus der Estremadura. Thomas' methodischer Königsweg ist die Berücksichtigung aller erdenklichen Details. So erörtert er fast eine Seite lang die mögliche Haar- und Hautfarbe des Cortés, später ausführlich den 1522 auffallend gelegen eingetretenen Tod seiner ersten Frau Catalina. Zweifellos war Cortés zu einem Mord fähig, aber die Quellen legen nun einmal eine harmlosere Erklärung nahe.
Thomas informiert uns aber auch über den Umgang der Azteken mit menschlichen Exkrementen und über die Kartenspiele der Konquistadoren, schildert den Siegeszug der von ihnen eingeschleppten Seuchen und vieles andere mehr. Alles genau und treffend, nur wo er sich auf fremdes Terrain begibt, gerät er gelegentlich ins Schleudern, macht Ferdinand I. zum Kaiser von Österreich, den es erst seit 1804 gab, verwechselt Hieronymus Münzer mit Thomas Müntzer und hat von kirchlichen Verhältnissen wenig Ahnung. Auch warum er Cortés ständig als Caudillo bezeichnet, bleibt offen. Will er damit Bezüge zur modernen spanischen und lateinamerikanischen Geschichte herstellen, über die er bereits mehrere Bücher veröffentlicht hat?
Die bisweilen etwas freie Übersetzung des umfangreichen Buches verdient ebenfalls allen Respekt. Nur gelegentlich unterlaufen ihr Schnitzer wie das Versäumnis, die Stadt "Aix-la-Chapelle" als Aachen zu identifizieren. Und wo der Übersetzer den englischen Text um eigene Beiträge erweitert, baut er bisweilen leider neue Fehler ein.
Allerdings wurde, wie von einem deutschen Großverlag inzwischen nicht anders zu erwarten, der wissenschaftliche Charakter des Buches in aller Stille drastisch reduziert. Sämtliche Anhänge einschließlich des Abdrucks verschiedener, von Thomas neu herangezogener Quellenstücke sind verschwunden, und der penible Anmerkungsapparat wurde um mehr als die Hälfte vermindert. Peinlicherweise sind dabei aber Verweise auf nicht mehr vorhandene Anmerkungen und den Anhang stehen geblieben. Nichtsdestoweniger handelt es sich um das derzeit beste deutschsprachige Buch über den Gegenstand und ein Lesevergnügen dazu.
Hugh Thomas: "Die Eroberung Mexikos". Cortés und Montezuma. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 912 S., Abb., geb., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hugh Thomas entdeckt bei Montezuma ein Stockholm-Syndrom / Von Wolfgang Reinhard
Die Geschichte kennt kaum ein größeres Abenteuer als die Eroberung des gefürchteten Aztekenreiches durch etliche hundert Spanier unter der Führung des Hernan Cortés zwischen 1519 und 1522. Sie "kennt" es dank einer Flut von Dokumenten, unter denen die gekonnte Selbstdarstellung des Cortés in seinen Briefen an den spanischen König und Kaiser Karl V. und die kritischen, aber ausführlichen und bunten Erinnerungen des Soldaten Bernal Diaz del Castillo besonderen Rang einnehmen.
Zusätzlich zum Exotismus einer fremden und reichen Welt wird die Phantasie der Leser stimuliert vom Schauder angesichts der exzessiven Menschenopfer der einen, der viehischen Grausamkeit der anderen Seite und von der Bewunderung für den unglaublichen Wagemut der Eroberer. Cortés' skrupellose, bisweilen geradezu kriminelle Verwegenheit zeigte sich zum erstenmal, als er seinen Auftraggeber Velázquez, den Gouverneur von Kuba, ausmanövrierte, sich mittels juristischer Kniffe zum selbständigen Eroberer bestellen ließ und seine zaudernden Gefährten durch seine beachtliche Rednergabe zum riskanten Zug von der üppigen Küste ins eher karge Hochland zur Inselstadt Tenochtitlan bewegte. Indianische Verbündete, von ersten Nachrichten angelockter spanischer Nachschub, geschickte Strategie, etwa der Bau und Einsatz von Segelbooten, und nicht zuletzt kalkulierter Terror ließen Cortés die Katastrophe des verlustreichen Rückzugs aus Tenochtitlan überstehen und ermöglichten ihm eine siegreiche Rückkehr.
Die Briefe an den Kaiser sollten die Legalisierung seiner Aktionen bewirken, die angesichts des Erfolges und massiver Bestechung maßgebender Leute auch nicht ausblieb. Allerdings wurde die Regierung des Landes dem Eroberer wie üblich baldmöglichst entzogen und Vertrauensleuten der Krone übertragen. Cortés hatte sich aber längst gewaltig bereichert, als Grundherr und Unternehmer, vermutlich aber zuerst durch Betrug an seinen Gefährten, deren Beuteanteil erbitternd gering ausfiel, was ihre spätere Entschädigung auf Kosten der Indianer unvermeidlich machte.
Auf der Gegenseite, bei diesen Indianern im allgemeinen und den Azteken im besonderen, waren Unsicherheit und Angst angesichts der spanischen Waffen und Pferde bald nicht mehr so groß, wie oft behauptet wird. Aber ihr Herrscher, Montezuma II., schwankte in seiner Haltung und fand sich schließlich als Geisel der Spanier sogar zur Kooperation bereit. Die Gründe waren offenbar religiöser Natur. Montezuma war für aztekische Begriffe ein frommer Mann, wie übrigens Cortés ebenso für spanische, trotz seiner Skrupellosigkeit. Doch was das bedeutete, ist im zweiten Falle leichter festzustellen als im ersten.
Die Quellenlage bringt es mit sich, daß die neue Monumentaldarstellung von Hugh Thomas, die der oft erzählten Geschichte bei aller Breite der Schilderung zweier Welten doch vor allem den Charakter einer Doppelbiographie der beiden Protagonisten gibt, in diesen Fragen ungleichgewichtig ausfällt. Thomas bewältigt solche Schwierigkeiten, indem er mit stupender Literaturkenntnis alle erdenklichen Informationen zusammenträgt und erörtert, um sich dann, wenn irgend möglich, für die plausibelste Lösung zu entscheiden.
"Die Vorstellung, daß die Ankunft von Cortés keine religiöse Bedeutung habe, wäre den meisten Mexica genauso lächerlich erschienen wie einem Marxisten die Annahme, er sei in seinem Handeln nicht von ökonomischen Motiven angetrieben worden." Weiter scheint klar zu sein, daß Montezuma sich vor einem aus dem Osten wiederkehrenden Gott oder Herrscher - der Unterschied war bei den Azteken nicht groß - fürchtete; nur dessen Identität bleibt fraglich, denn die angebliche Identifikation von Cortés mit dem Toltekengott Quetzalcoatl hat sich inzwischen als nachträgliches Konstrukt aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts erwiesen.
Aber Montezuma war immerhin lange genug in seiner Handlungsfähigkeit gelähmt. In der Geiselhaft setzte Cortés ihn dem in solchen Fällen erfolgversprechenden Wechselbad von Zuwendung und Brutalität aus. Montezuma scheint die übliche emotionale Bindung des Entführungsopfers zum Entführer aufgebaut zu haben, bis er bei einem Vermittlungsversuch von seinem eigenen Volk getötet wurde - nicht durch Cortés, wie man bisweilen lesen kann. Aber dieser ließ daraufhin sofort die zwanzig bis dreißig Häuptlinge umbringen, die mit ihrem Herrscher gefangen waren.
Man sieht, Thomas fühlt sich nicht zur politischen Korrektheit des historischen Urteils verpflichtet, wie sie, wo es sich um Lateinamerika handelt, vor allem in Deutschland immer noch einseitig zugunsten der Indianer und gegen die Spanier erwartet wird. Er läßt sich auch auf keine der üblichen theoretischen Diskussionen ein, sondern erzählt einfach Geschichte, erzählt sie dabei gut und so ausführlich, daß dank der Berücksichtigung aller bekannten und sogar etlicher neuen Quellen und der umfangreichen Literatur aktuelle Ergebnisse und Gesichtspunkte ganz selbstverständlich in sein Buch eingehen. Zwar handelt es zum Beispiel nicht ausdrücklich von Sozialgeschichte, zeichnet aber doch mit einer Fülle von Einzelheiten das soziale Netzwerk der Konquistadoren nach, das für sie lebenswichtige Loyalitäten erzeugte - Cortés vertraute aus guten Gründen fast nur Verwandten und Landsleuten aus der Estremadura. Thomas' methodischer Königsweg ist die Berücksichtigung aller erdenklichen Details. So erörtert er fast eine Seite lang die mögliche Haar- und Hautfarbe des Cortés, später ausführlich den 1522 auffallend gelegen eingetretenen Tod seiner ersten Frau Catalina. Zweifellos war Cortés zu einem Mord fähig, aber die Quellen legen nun einmal eine harmlosere Erklärung nahe.
Thomas informiert uns aber auch über den Umgang der Azteken mit menschlichen Exkrementen und über die Kartenspiele der Konquistadoren, schildert den Siegeszug der von ihnen eingeschleppten Seuchen und vieles andere mehr. Alles genau und treffend, nur wo er sich auf fremdes Terrain begibt, gerät er gelegentlich ins Schleudern, macht Ferdinand I. zum Kaiser von Österreich, den es erst seit 1804 gab, verwechselt Hieronymus Münzer mit Thomas Müntzer und hat von kirchlichen Verhältnissen wenig Ahnung. Auch warum er Cortés ständig als Caudillo bezeichnet, bleibt offen. Will er damit Bezüge zur modernen spanischen und lateinamerikanischen Geschichte herstellen, über die er bereits mehrere Bücher veröffentlicht hat?
Die bisweilen etwas freie Übersetzung des umfangreichen Buches verdient ebenfalls allen Respekt. Nur gelegentlich unterlaufen ihr Schnitzer wie das Versäumnis, die Stadt "Aix-la-Chapelle" als Aachen zu identifizieren. Und wo der Übersetzer den englischen Text um eigene Beiträge erweitert, baut er bisweilen leider neue Fehler ein.
Allerdings wurde, wie von einem deutschen Großverlag inzwischen nicht anders zu erwarten, der wissenschaftliche Charakter des Buches in aller Stille drastisch reduziert. Sämtliche Anhänge einschließlich des Abdrucks verschiedener, von Thomas neu herangezogener Quellenstücke sind verschwunden, und der penible Anmerkungsapparat wurde um mehr als die Hälfte vermindert. Peinlicherweise sind dabei aber Verweise auf nicht mehr vorhandene Anmerkungen und den Anhang stehen geblieben. Nichtsdestoweniger handelt es sich um das derzeit beste deutschsprachige Buch über den Gegenstand und ein Lesevergnügen dazu.
Hugh Thomas: "Die Eroberung Mexikos". Cortés und Montezuma. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 912 S., Abb., geb., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main