Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996Geruch von Fesseln im Schnee
Dreifache Verdammung: Bruce Lincoln folgt den Russen nach Sibirien / Von Sonja Zekri
Auf nach Sibirien! Dieser Satz hat etwas Unheimliches", konstatierte der britische Journalist John Fraser im Jahr 1901 mit leichtem Gruseln: "Allein das Wort Sibirien läßt einem das Blut in den Adern gefrieren. Es riecht nach Fesseln im Schnee." Die Russen brachten Sibirien kaum wärmere Gefühle entgegen. "Rußland ist eine Eisfläche voller reißender Wölfe", sagte Apollon Apollonowitsch in Andrej Belyjs Roman "Petersburg" und schauderte beim Gedanken an die "eisige Hand", die ihn in die "Unendlichkeit: Das Russische Imperium" lockte.
Die 13 Millionen Quadratkilometer Land zwischen Ural und Pazifik konnten Reichtum und Ruhm bedeuten - oder Tod und Vergessen. Eine Handvoll Pelzjäger und Minenbesitzer fanden ihr Glück und unermeßliche Schätze; für Heerscharen von Verbannten aber, für die Gefangenen des Gulag war Sibirien das Todesurteil. Nirgendwo liegen Himmel und Hölle so eng beieinander wie hier.
Bruce Lincoln beschreibt Sibirien als Land der Träume und Albträume, eine wissenschaftliche Definition des Begriffes bleibt er indessen schuldig. Dadurch erhält das geographisch, wirtschaftlich und historisch ganz unterschiedlich geschnittene Gebilde Sibirien einen grenzenlosen, fast mythischen Zug. In großen Schritten folgt Lincoln den Kosaken und Pelzjägern, die in nicht ganz sechzig Jahren 8000 Kilometer Land eroberten, in denen westliche Vorstellungen von Raum und Zeit ihre Gültigkeit verloren, mit Tieren, Pflanzen und eingeborenen Stämmen, die sie nie gesehen hatten.
Die Bilanz von Einsatz und Wirkung war umwerfend: In ganz Sibirien waren im siebzehnten Jahrhundert gerade 3000 Russen in Garnisonen stationiert. Die Reichtümer Sibiriens aber machten inzwischen mehr als ein Zehntel der Staatseinnahmen aus. Und das war erst der Anfang. Mit der Herrschaft über Sibirien brachten die Russen ein Sechstel des weltweiten Gold- und Silbervorkommens in ihren Besitz, ein Fünftel des Platins und ein Drittel des Eisenerzes. In Sibirien gibt es viel Holz und der Himmel weiß wie viel Kohle, Erdgas und Öl. Merkwürdigerweise hatten die Russen bis ins neunzehnte Jahrhundert keine Ahnung von ihren Schätzen.
An ihren Absichten und Interessen änderte dies freilich nichts. Kein zivilisatorischer Auftrag, keine christliche Mission trieb sie nach Osten, sondern allein die Hoffnung auf Reichtum. Sibirien wurde das größte zusammenhängende Kolonialreich der Welt: "Es war die Herrschaft über Sibirien, die Rußland in die Lage versetzte, seinen Platz unter den Weltmächten einzunehmen, und es waren die sibirischen Reichtümer, die es ihm ermöglichten, diesen Platz zu halten", schreibt Lincoln.
Grausam, gierig und zuweilen sadistisch waren die russischen Kolonialherren, darin mehr als in allen anderen Dingen den Eroberern Nordamerikas ähnlich: "Wie die Büffeljäger in den Prärien Nordamerikas verfielen die russischen promyschlenniki (die Pelzhändler) dem Rausch des Tötens. Und wie die Amerikaner zogen sie lieber in neue Jagdgründe weiter, als sich in ihren alten einzuschränken - was die Tiere, von deren Pelzen sie lebten, vor dem Aussterben gerettet hätte."
Dankenswerterweise meidet der Amerikaner Lincoln den Vergleich zum Wilden Westen, den Europäer nur zu gern ziehen und gegen den vieles spricht, vor allem aber der Genozid an den Indianern in Nordamerika. Von den knapp 200000 Ursibiriern leisteten neben den Jakuten nur die Korjaken und die Tschuktschen nennenswerten Widerstand. Letztere erkannten die Herrschaft des Zaren nie an. Was Lincoln diskret verschweigt: Bis heute kursieren in Rußland zahllose Tschuktschen-Witze, die sie als tumbe Hinterwäldler darstellen - späte Rache für die verweigerte Unterwerfung.
Lincoln verzichtet auf analytischen Ballast und läßt sich mitreißen vom Strom der Schicksale und Zweikämpfe, der Triumphe und Niederlagen. Jedes Kapitel ist eine sorgfältig organisierte Expedition ins Gemüt des Lesers, die mit einem cliffhanger endet: Kolonialgeschichte als Reißer. Nun ist man immer mißtrauisch, wenn ein Sachbuch zu gut geschrieben ist, wittert Oberflächlichkeit und Sensationsgier. "Die Eroberung Sibiriens" hingegen entkräftet diese Vorurteile über weite Strecken. Lincoln, der in Moskau und Leningrad gelehrt hat und heute an der Northern Illinois University liest, knüpft ein dichtes Netz von Anmerkungen, für die er aktuelle Quellen, darunter viele russische, benutzt.
Von allen Eroberer-Typen sind Lincoln die Polarforscher noch die liebsten - richteten sie auf ihren Fahrten doch am wenigsten Schaden an. Die Versuche der Russen, in Amerika Fuß zu fassen, scheiterten bekanntlich, obwohl sie nicht nur bis nach Kalifornien, sondern bis nach Hawaii kamen. 1867 verkauften sie den Vereinigten Staaten Alaska - der Traum der Zaren von der Herrschaft auf drei Kontinenten war ausgeträumt.
So packend die Schilderungen der Polarexpeditionen indessen sind: verglichen mit den Ereignissen vor Ort, bleiben die politischen Hintergründe für das russische Sibirienabenteuer merkwürdig schemenhaft. Diese Zusammenhangslosigkeit zwischen dem europäischen Rußland und Sibirien zieht sich durch das ganze Werk, und um bei der Kritik zu bleiben: Einer der schwächsten Momente ist das Kapitel über Dostojewskijs "Aufzeichnungen aus einem Toten Haus". Ohne methodische Anleitung wird der Leser mit Zitathäppchen abgespeist, die mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten.
Je weiter Lincoln aber in die Neuzeit vordringt, seine eigentliche Forschungsdomäne, desto besser wird sein Text. Eindrucksvoll beschreibt er, wie Sibirien in einer schrittweisen Radikalisierung zum größten Kerker der Welt wurde. Seit dem siebzehnten Jahrhundert wurden die Verbannten und die Zwangsarbeiter in immer größeren Wellen nach Sibirien gebracht. Hier versuchte Rußland, sich seiner Kritiker zu entledigen, was sich indessen als eklatanter Fehlschlag herausstellen sollte: Die Zwangsarbeiter und Verbannten bildeten das revolutionäre Potential nach der Jahrhundertwende.
Der Amerikaner George Kennan notierte nach einem Besuch in einem russischen Gefängnis entsetzt: "Ich kann sehr wohl verstehen, wie ein im Grunde edel gesinnter Mensch zum Terroristen werden kann, wenn er, wie in Rußland, absolut unerträglichen Erniedrigungen ausgesetzt ist." Ironischerweise ging es dem Staatsfeind Nummer eins durchaus passabel: Aus seiner Verbannung am oberen Jenissej bombardierte Lenin seine Angehörigen mit Forderungen nach Ölzeug, Wirtschaftsklassikern, Millimeterpapier und einem Wecker - Wünsche, die auf ein Leben von geradezu bourgeoiser Kontemplation schließen lassen.
So unheilvoll Lincoln die Rolle der Russen in Sibirien sieht - die Bolschewiken übertrafen sie in allen Bereichen. Nicht allein, daß sie mit der russischen Revolution eine "nationale Katastrophe" heraufbeschworen, die in Sibirien zur Schreckensherrschaft von Koltaschak führte. Sie forcierten die Ausbeutung der Natur in beispielloser Gigantomanie - von den riesigen Staudämmen über die Öl- und Erdgasgewinnung bis zu den vergeblichen Versuchen unter Chruschtschow, auf den südsibirischen und kasachischen Steppen Neuland zu gewinnen. Überzeugend weist Lincoln den Bolschewiken einen Hang zur Selbsttäuschung nach, der für die Sowjetbürger verheerende Folgen hatte: Auch die Hölle des Gulag, so Lincoln, war letztlich nur die ohnmächtige Reaktion eines im Grunde liberalen Strafgesetzes auf die ausufernde Kriminalität - eine Lesart, deren Horror gerade in der Zufälligkeit liegt.
Vielleicht ist dies das größte Verdienst des Buches: Daß Lincoln den Zusammenhang zwischen Zwangsarbeit und Wirtschaftsinteressen entschlüsselt, zwei Faktoren, die das moderne Sibirien prägten wie nichts sonst. Schon zu Zarenzeiten wurden die Gefangenen für die Gold-, Silber-, Blei- und Erzminen wichtiger, je weiter die Ausbeutung des Nordens voranschritt. Die sowjetische Erschließung Sibiriens aber, die "sozialistische Rekonstruktion", war ohne den Einsatz moderner Sklaven schlechterdings unausführbar: Die sechsunddreißig Bergwerke an der Kolyma benötigten Ende der dreißiger Jahre eine halbe Million Zwangsarbeiter pro Jahr. Die Norm für Erz war im Vergleich zu Zarenzeiten pro Häftling um das Zweihundertsiebzigfache erhöht worden. Ein Viertel der Zwangsarbeiter überlebte Kolyma nicht. Städte wie Magadan, die Fabriken von Norilsk, die Bergwerke des Kusbass, kurz, die "gesamten Anfänge einer Industrie, aus der sich die sibirische Wirtschaft entwickeln konnte", lebten von der Sklavenarbeit. Bis Chruschtschow, so Lincoln, war Zwangsarbeit "ein konstanter und wesentlicher Faktor des sibirischen Wirtschaftslebens".
Lincolns Urteil über die Russen in Sibirien ist dreifache Verdammung: für die Unterjochung der eingeborenen Völker, für die Pervertierung des Landes in ein Golgatha und für die Schändung der Schöpfung. Von allen Sünden verjährt der "Ökozid" vielleicht am langsamsten: Isset, Irtysch und Ob sind radioaktiv verseucht, die Taiga erstickt in Öl, in einer Stadt wie Magnitogorsk regnen pro Jahr zehn Tonnen Schadstoffe auf die Menschen herab, und der Baikal, der "göttliche" See, stirbt einen langsamen Tod. Dazu kommen die alten, die ewigen Schwierigkeiten Sibiriens: das mörderische Klima und die Nachschubprobleme, die unter postsowjetischen Marktbedingungen noch schärfer hervortreten. Nach den schlechten Erfahrungen mit den Russen, von denen viele selbst zu "Sibiriern" geworden sind, hält Lincoln die Abtrennung Sibiriens nicht mehr für ausgeschlossen. Es wäre die schlechteste aller Möglichkeiten, denn nach 400 Jahren braucht Sibirien Rußland ebenso wie umgekehrt Rußland Sibirien.
W. Bruce Lincoln: "Die Eroberung Sibiriens". Aus dem Amerikanischen von Xenia Osthelder und Bernd Rullkötter.
Piper Verlag, München 1996. 571 S., geb., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dreifache Verdammung: Bruce Lincoln folgt den Russen nach Sibirien / Von Sonja Zekri
Auf nach Sibirien! Dieser Satz hat etwas Unheimliches", konstatierte der britische Journalist John Fraser im Jahr 1901 mit leichtem Gruseln: "Allein das Wort Sibirien läßt einem das Blut in den Adern gefrieren. Es riecht nach Fesseln im Schnee." Die Russen brachten Sibirien kaum wärmere Gefühle entgegen. "Rußland ist eine Eisfläche voller reißender Wölfe", sagte Apollon Apollonowitsch in Andrej Belyjs Roman "Petersburg" und schauderte beim Gedanken an die "eisige Hand", die ihn in die "Unendlichkeit: Das Russische Imperium" lockte.
Die 13 Millionen Quadratkilometer Land zwischen Ural und Pazifik konnten Reichtum und Ruhm bedeuten - oder Tod und Vergessen. Eine Handvoll Pelzjäger und Minenbesitzer fanden ihr Glück und unermeßliche Schätze; für Heerscharen von Verbannten aber, für die Gefangenen des Gulag war Sibirien das Todesurteil. Nirgendwo liegen Himmel und Hölle so eng beieinander wie hier.
Bruce Lincoln beschreibt Sibirien als Land der Träume und Albträume, eine wissenschaftliche Definition des Begriffes bleibt er indessen schuldig. Dadurch erhält das geographisch, wirtschaftlich und historisch ganz unterschiedlich geschnittene Gebilde Sibirien einen grenzenlosen, fast mythischen Zug. In großen Schritten folgt Lincoln den Kosaken und Pelzjägern, die in nicht ganz sechzig Jahren 8000 Kilometer Land eroberten, in denen westliche Vorstellungen von Raum und Zeit ihre Gültigkeit verloren, mit Tieren, Pflanzen und eingeborenen Stämmen, die sie nie gesehen hatten.
Die Bilanz von Einsatz und Wirkung war umwerfend: In ganz Sibirien waren im siebzehnten Jahrhundert gerade 3000 Russen in Garnisonen stationiert. Die Reichtümer Sibiriens aber machten inzwischen mehr als ein Zehntel der Staatseinnahmen aus. Und das war erst der Anfang. Mit der Herrschaft über Sibirien brachten die Russen ein Sechstel des weltweiten Gold- und Silbervorkommens in ihren Besitz, ein Fünftel des Platins und ein Drittel des Eisenerzes. In Sibirien gibt es viel Holz und der Himmel weiß wie viel Kohle, Erdgas und Öl. Merkwürdigerweise hatten die Russen bis ins neunzehnte Jahrhundert keine Ahnung von ihren Schätzen.
An ihren Absichten und Interessen änderte dies freilich nichts. Kein zivilisatorischer Auftrag, keine christliche Mission trieb sie nach Osten, sondern allein die Hoffnung auf Reichtum. Sibirien wurde das größte zusammenhängende Kolonialreich der Welt: "Es war die Herrschaft über Sibirien, die Rußland in die Lage versetzte, seinen Platz unter den Weltmächten einzunehmen, und es waren die sibirischen Reichtümer, die es ihm ermöglichten, diesen Platz zu halten", schreibt Lincoln.
Grausam, gierig und zuweilen sadistisch waren die russischen Kolonialherren, darin mehr als in allen anderen Dingen den Eroberern Nordamerikas ähnlich: "Wie die Büffeljäger in den Prärien Nordamerikas verfielen die russischen promyschlenniki (die Pelzhändler) dem Rausch des Tötens. Und wie die Amerikaner zogen sie lieber in neue Jagdgründe weiter, als sich in ihren alten einzuschränken - was die Tiere, von deren Pelzen sie lebten, vor dem Aussterben gerettet hätte."
Dankenswerterweise meidet der Amerikaner Lincoln den Vergleich zum Wilden Westen, den Europäer nur zu gern ziehen und gegen den vieles spricht, vor allem aber der Genozid an den Indianern in Nordamerika. Von den knapp 200000 Ursibiriern leisteten neben den Jakuten nur die Korjaken und die Tschuktschen nennenswerten Widerstand. Letztere erkannten die Herrschaft des Zaren nie an. Was Lincoln diskret verschweigt: Bis heute kursieren in Rußland zahllose Tschuktschen-Witze, die sie als tumbe Hinterwäldler darstellen - späte Rache für die verweigerte Unterwerfung.
Lincoln verzichtet auf analytischen Ballast und läßt sich mitreißen vom Strom der Schicksale und Zweikämpfe, der Triumphe und Niederlagen. Jedes Kapitel ist eine sorgfältig organisierte Expedition ins Gemüt des Lesers, die mit einem cliffhanger endet: Kolonialgeschichte als Reißer. Nun ist man immer mißtrauisch, wenn ein Sachbuch zu gut geschrieben ist, wittert Oberflächlichkeit und Sensationsgier. "Die Eroberung Sibiriens" hingegen entkräftet diese Vorurteile über weite Strecken. Lincoln, der in Moskau und Leningrad gelehrt hat und heute an der Northern Illinois University liest, knüpft ein dichtes Netz von Anmerkungen, für die er aktuelle Quellen, darunter viele russische, benutzt.
Von allen Eroberer-Typen sind Lincoln die Polarforscher noch die liebsten - richteten sie auf ihren Fahrten doch am wenigsten Schaden an. Die Versuche der Russen, in Amerika Fuß zu fassen, scheiterten bekanntlich, obwohl sie nicht nur bis nach Kalifornien, sondern bis nach Hawaii kamen. 1867 verkauften sie den Vereinigten Staaten Alaska - der Traum der Zaren von der Herrschaft auf drei Kontinenten war ausgeträumt.
So packend die Schilderungen der Polarexpeditionen indessen sind: verglichen mit den Ereignissen vor Ort, bleiben die politischen Hintergründe für das russische Sibirienabenteuer merkwürdig schemenhaft. Diese Zusammenhangslosigkeit zwischen dem europäischen Rußland und Sibirien zieht sich durch das ganze Werk, und um bei der Kritik zu bleiben: Einer der schwächsten Momente ist das Kapitel über Dostojewskijs "Aufzeichnungen aus einem Toten Haus". Ohne methodische Anleitung wird der Leser mit Zitathäppchen abgespeist, die mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten.
Je weiter Lincoln aber in die Neuzeit vordringt, seine eigentliche Forschungsdomäne, desto besser wird sein Text. Eindrucksvoll beschreibt er, wie Sibirien in einer schrittweisen Radikalisierung zum größten Kerker der Welt wurde. Seit dem siebzehnten Jahrhundert wurden die Verbannten und die Zwangsarbeiter in immer größeren Wellen nach Sibirien gebracht. Hier versuchte Rußland, sich seiner Kritiker zu entledigen, was sich indessen als eklatanter Fehlschlag herausstellen sollte: Die Zwangsarbeiter und Verbannten bildeten das revolutionäre Potential nach der Jahrhundertwende.
Der Amerikaner George Kennan notierte nach einem Besuch in einem russischen Gefängnis entsetzt: "Ich kann sehr wohl verstehen, wie ein im Grunde edel gesinnter Mensch zum Terroristen werden kann, wenn er, wie in Rußland, absolut unerträglichen Erniedrigungen ausgesetzt ist." Ironischerweise ging es dem Staatsfeind Nummer eins durchaus passabel: Aus seiner Verbannung am oberen Jenissej bombardierte Lenin seine Angehörigen mit Forderungen nach Ölzeug, Wirtschaftsklassikern, Millimeterpapier und einem Wecker - Wünsche, die auf ein Leben von geradezu bourgeoiser Kontemplation schließen lassen.
So unheilvoll Lincoln die Rolle der Russen in Sibirien sieht - die Bolschewiken übertrafen sie in allen Bereichen. Nicht allein, daß sie mit der russischen Revolution eine "nationale Katastrophe" heraufbeschworen, die in Sibirien zur Schreckensherrschaft von Koltaschak führte. Sie forcierten die Ausbeutung der Natur in beispielloser Gigantomanie - von den riesigen Staudämmen über die Öl- und Erdgasgewinnung bis zu den vergeblichen Versuchen unter Chruschtschow, auf den südsibirischen und kasachischen Steppen Neuland zu gewinnen. Überzeugend weist Lincoln den Bolschewiken einen Hang zur Selbsttäuschung nach, der für die Sowjetbürger verheerende Folgen hatte: Auch die Hölle des Gulag, so Lincoln, war letztlich nur die ohnmächtige Reaktion eines im Grunde liberalen Strafgesetzes auf die ausufernde Kriminalität - eine Lesart, deren Horror gerade in der Zufälligkeit liegt.
Vielleicht ist dies das größte Verdienst des Buches: Daß Lincoln den Zusammenhang zwischen Zwangsarbeit und Wirtschaftsinteressen entschlüsselt, zwei Faktoren, die das moderne Sibirien prägten wie nichts sonst. Schon zu Zarenzeiten wurden die Gefangenen für die Gold-, Silber-, Blei- und Erzminen wichtiger, je weiter die Ausbeutung des Nordens voranschritt. Die sowjetische Erschließung Sibiriens aber, die "sozialistische Rekonstruktion", war ohne den Einsatz moderner Sklaven schlechterdings unausführbar: Die sechsunddreißig Bergwerke an der Kolyma benötigten Ende der dreißiger Jahre eine halbe Million Zwangsarbeiter pro Jahr. Die Norm für Erz war im Vergleich zu Zarenzeiten pro Häftling um das Zweihundertsiebzigfache erhöht worden. Ein Viertel der Zwangsarbeiter überlebte Kolyma nicht. Städte wie Magadan, die Fabriken von Norilsk, die Bergwerke des Kusbass, kurz, die "gesamten Anfänge einer Industrie, aus der sich die sibirische Wirtschaft entwickeln konnte", lebten von der Sklavenarbeit. Bis Chruschtschow, so Lincoln, war Zwangsarbeit "ein konstanter und wesentlicher Faktor des sibirischen Wirtschaftslebens".
Lincolns Urteil über die Russen in Sibirien ist dreifache Verdammung: für die Unterjochung der eingeborenen Völker, für die Pervertierung des Landes in ein Golgatha und für die Schändung der Schöpfung. Von allen Sünden verjährt der "Ökozid" vielleicht am langsamsten: Isset, Irtysch und Ob sind radioaktiv verseucht, die Taiga erstickt in Öl, in einer Stadt wie Magnitogorsk regnen pro Jahr zehn Tonnen Schadstoffe auf die Menschen herab, und der Baikal, der "göttliche" See, stirbt einen langsamen Tod. Dazu kommen die alten, die ewigen Schwierigkeiten Sibiriens: das mörderische Klima und die Nachschubprobleme, die unter postsowjetischen Marktbedingungen noch schärfer hervortreten. Nach den schlechten Erfahrungen mit den Russen, von denen viele selbst zu "Sibiriern" geworden sind, hält Lincoln die Abtrennung Sibiriens nicht mehr für ausgeschlossen. Es wäre die schlechteste aller Möglichkeiten, denn nach 400 Jahren braucht Sibirien Rußland ebenso wie umgekehrt Rußland Sibirien.
W. Bruce Lincoln: "Die Eroberung Sibiriens". Aus dem Amerikanischen von Xenia Osthelder und Bernd Rullkötter.
Piper Verlag, München 1996. 571 S., geb., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main