Mateusz und Adam, die gemeinsam im polnischen Untergrund gegen das kommunistische Regime gekämpft und sich dort »Blutsbrüderschaft« geschworen haben, gehen nach dessen Zusammenbruch getrennte Wege. Mateusz macht innenpolitisch Karriere und wird schließlich polnischer Ministerpräsident. Adam geht nach dem EU-Beitritt Polens nach Brüssel, wo er in der Europäischen Kommission in der Generaldirektion für Erweiterung arbeitet. Im Streit um den Beitritt Albaniens in die Europäische Union wird aus der einstmals tiefen Verbundenheit der beiden Männer eine unversöhnliche Feindschaft von schicksalhafter Dimension. Auf dem schwankenden Boden eines albanischen Kreuzfahrtschiffs kommt es zum Showdown.
»Mit Die Erweiterung legt [Menasse] nach: ein gewitztes, fesselndes Werk über die Westbalkan-Politik der EU und eine nationalistische Strategie, die sich starker Symbole bedient.« Florian Baranyi orf.at 20221111
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Paul Jandl hat viel Freude am zweiten Teil von Robert Menasses EU-Groteske. Dem Buch, das Jandl als "Unterhaltungsroman für die gebildeten Stände" preist, liegt erneut Menasses Plädoyer für ein Europa der Regionen zugrunde, klärt der Kritiker auf. In diesem Fall möchte Albanien in die EU, aber Macron mauert. Schon wie Menasse die "Arroganz" des Westens gegenüber dem Osten aufspießt, amüsiert den Rezensenten. Wenn dann noch kurz vor der Rückgabe der Helm des albanischen Volkshelden Skanderbeg verschwindet und die europäischen Staatschefs führerlos, aber mit einem Virus an Bord übers Meer schippern, ist der Spaß für Jandl perfekt. Mit ein paar "Redundanzen" , "Kalauern" und Erfindungen kann der Kritiker gut leben, denn: Niemand erkennt das "Absurde der Wirklichkeit" so genau wie Menasse, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2022Unsere
Baustelle
Robert Menasse schreibt seine große
europäische Erzählung fort:
„Die Erweiterung“ heißt sein zweiter
EU-Roman.
Ein Besuch zu Beginn einer Lesereise
VON ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID
Robert Menasse räuspert und entschuldigt sich, ehe er loslegt: Er mache das jetzt zum ersten Mal. In einigen Wochen wird es schon routinierter klingen. Seine Lesereise, auf der er seinen neuen Roman vorstellt, führt ihn bis Jahresende in zwei Dutzend deutsche Städte. Sie beginnt in Hartberg, einer kleinen Stadt mit 6774 Einwohnern in der Steiermark. „Die Erweiterung“ ist Menasses zweiter EU-Roman. 2017 hat der Autor aus Österreich den Deutschen Buchpreis für den ersten bekommen: In „Die Hauptstadt“ konzentrierte er sich auf die Brüsseler Institutionen, diesmal geht es darum, wie die Europäische Union größer wird.
Dazu passt, dass Menasse in Hartberg in einem im wörtlichen Sinne offenen Haus liest. Es ist eine Baustelle mit freigelegten Fundamenten und ohne Fenster, sodass der Wind hindurchzieht. Hier soll einmal ein Kulturzentrum entstehen, aber noch muss man in einem nach zwei Seiten offenen Stadel Platz nehmen – was dem Kettenraucher Menasse die Gelegenheit gibt, auch während der Lesung, die mehr eine Vorlesung über die Funktionsweise der EU ist, seiner Passion nachzugehen.
Dieser Ort, den Menasse vorher nicht kannte, ist das perfekte Symbol für das, was der frühere Kanzler Helmut Kohl in seinen Reden wiederholt als „Bau des gemeinsamen Hauses Europa“ bezeichnet hat: unfertig, ausgehöhlt – da und dort sind Teile angebaut.
Die Zukunft Europas treibt Robert Menasse an, das wird auch im Gespräch deutlich. Als glühender Europäer will er aber nicht bezeichnet werden. Nein! „Die EU ist eine großartige Idee, die schlecht verwaltet wird.“ Die Nationalstaaten könnten mit ihren Vetodrohungen weitere Entwicklungen verhindern. Wenn man Europa verändern wolle, müsse man ein Bewusstsein für seine Widersprüche schaffen. Das will Menasse mit seinen Mitteln tun: „Mein Anspruch ist: Ich will Europa erzählen können. Die Abgründe, all den Wahnsinn, das Beglückende, das Großartige der Idee, die niederschmetternde Blödheit mancher Repräsentanten.“
Er hat sich kundig gemacht: Um den ersten Roman über die EU schreiben zu können, hat er mehrere Monate in Brüssel gelebt. Der neue kreist nun um Polen und vor allem um Albanien, wo Menasse auch drei längere Aufenthalte eingelegt hat. Warum ausgerechnet dort? „Albanien ist mit all seinen Wahnsinnigkeiten und Widersprüchlichkeiten ein interessantes Exempel. Das Land implementiert systematisch die Justizreform als Bedingung für den Beitritt. Und umgekehrt gibt es Länder, die sind Mitglied und brechen systematisch europäisches Recht, wie Ungarn oder Polen.“ Diese Dialektik habe ihn interessiert, sagt Menasse. Dass in Staaten wie Albanien Politiker Wahlen mit dem Versprechen gewinnen, ihr Land in die EU zu führen, während in EU-Staaten Politiker Zugewinne erzielen, wenn sie sich besonders EU-kritisch geben, findet Menasse „bezeichnend für den Zustand Europas“.
Eine große Rolle spielt in seinem Roman „Die Erweiterung“ der albanische Nationalheld Skanderbeg, der im 15. Jahrhundert das christliche Abendland gegen das Osmanische Reich verteidigte: „Ein christlicher Held in einem mehrheitlich muslimischen Land. Das zeigt, wie lächerlich die Bedenken etwa von Polen sind, kein muslimisches Land in die EU aufnehmen zu wollen“, sagt Menasse.
Der Helm dieses Skanderbeg liegt heute als Exponat im Weltmuseum, einer Dependance des Kulturhistorischen Museums in der Wiener Hofburg. Auf dieses nationalistische Symbol erhebt die albanische Regierung Anspruch. Er steht für ihren Versuch, die Albaner aller Länder – von Kosovo bis Nordmazedonien – hinter sich zu vereinen und Druck aufzubauen, damit es endlich etwas wird mit dem EU-Beitritt. Auch darum geht es Menasse, den Nationalismus und die Symbolpolitik in den EU-Staaten bloßzulegen: „Die momentanen Eliten agieren weitgehend geschichtslos. Auch im Widerspruch zu dem sehr klaren Geschichtsbewusstsein, das bei den Beitrittskandidaten vorherrscht. Die haben noch die jüngste Geschichte in den Knochen. Gleichzeitig haben sie nationale Mythen, die teilweise bis ins Mittelalter reichen. Das sind Dynamiken, die in den Alltag der Menschen hineinwirken.“
Um davon erzählen zu können, hat Menasse eine Vielzahl von Figuren erschaffen, was manchmal die Orientierung in der Geschichte etwas erschwert. Der Roman ist gleichzeitig Tragödie und Satire, enthält Liebesgeschichten und historische Lektionen. Wie bereits in „Die Hauptstadt“ transportiert Menasse in Form eines Romans viel Wissen über die eigentlich bürokratischen Vorgänge in Brüssel, mischt Fakten mit Fiktionen. Es stimmt, dass der französische Präsident Emmanuel Macron ein Veto gegen einen EU-Beitritt Albaniens eingelegt hat, und dass sich China für den albanischen Hafen Durrës und die Kupfervorkommen des Landes interessiert hat. Auch die Figur des albanischen Ministerpräsidenten im Roman erinnert frappierend an Edi Rama.
Manches steigert Menasse aber auch so ins Absurde, dass nicht klar ist: Was ist nun real, was erfunden? Am Anfang ist man noch versucht zu googeln, aber dann lässt man sich mitreißen vom Sog des Romans. „Das ist keine wissenschaftlich-historische Abhandlung, es geht um eine europäische Erzählung“, stellt Menasse klar. Er, der mit so viel Überzeugungskraft vortragen kann, ist vorsichtiger geworden, das merkt man. Im Jahr 2019 war eine Debatte über historische Richtigkeit ausgebrochen, nachdem er eben nicht nur im Roman, sondern auch in öffentlichen Reden behauptet hatte, Walter Hallstein, der erste Präsident der Europäischen Kommission, habe seine Antrittsrede über die Zukunft Europas auf dem Gelände des Konzentrationslagers Auschwitz gehalten. Historiker wiesen ihm nach, dass es dieses Ereignis nie gegeben hatte, auch Zitate, die Menasse verwendet hatte, fanden sich bei Hallstein nicht wörtlich. Scharf wurde das als Geschichtsklitterung kritisiert, wenn auch eine zu guten Zwecken, nämlich um das Projekt Europa pointiert als im Geist von „Nie wieder Auschwitz“ gegründet darstellen zu können. Menasse hat sich für die historischen Fehler entschuldigt. Wenn er heute spricht, fällt immer wieder eine Nebenbemerkung wie: Das würden manche Historiker vielleicht anders sehen.
Des Skandals unbenommen ist das „Manifest für eine europäische Republik“, das Menasse mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot geschrieben hat, in dem sie das „Europa der Nationalstaaten“ für gescheitert erklären, und inzwischen ins Haus der europäischen Geschichte in Brüssel gewandert ist. „Das ist ehrenhaft, aber das Ziel war die Realität, nicht die Musealität“, sagt Menasse. Schon in seinem im Jahr 2012 publizierten Essay „Der europäische Landbote“ hat Menasse mit Verve dafür plädiert, dass sich jeder Europäer über seine Region und die Union definieren solle. Denn, so argumentiert er: „Die großen globalen Krisen können nicht die Nationalstaaten alleine lösen, das geht nur gemeinsam. Entweder es gibt eine gemeinsame Zukunft oder es gibt keine Zukunft.“
Insofern, so sagt er mit einem Zögern, gehe etwas wie das Gipfeltreffen der
44 Staats- und Regierungschefs schon in die richtige Richtung, die sich Anfang Oktober in Prag über ihr Vorgehen in der Energiekrise und gegen Putins Angriffskrieg auf die Ukraine verständigten. Die Idee dazu kam von Macron, der angeblich nach einer Intervention von Angela Merkel die Vetodrohung gegen Albaniens EU-Beitritt zurückgezogen hat. Krisen sieht Robert Menasse auch als Chance zur Veränderung: „Gibt es keine Krise, erschöpft sich der Kontinent in der Verwaltung seiner selbst.“
Auch wenn Menasse nicht als glühender Europäer bezeichnet werden will, seinen europäischen Traum verfolgt der 68-Jährige konsequent: „Wer den Mauerfall 1989 erlebt hat, als von einem Tag auf den anderen alles anders wurde, darf nie wieder sagen, dass das Wünschenswerte nicht möglich ist oder etwas scheinbar Aussichtsloses nicht geändert werden kann.“
„Die großen globalen Krisen
können nicht die Nationalstaaten
alleine lösen.“
Robert Menasse:
Die Erweiterung. Roman. Suhrkamp, Berlin 2022. 653 Seiten, 26 Euro.
„Gibt es keine Krise, erschöpft sich der Kontinent in der Verwaltung seiner selbst“: Der Schriftsteller Robert Menasse in Wien.
Foto: Friedrich Bungert
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Baustelle
Robert Menasse schreibt seine große
europäische Erzählung fort:
„Die Erweiterung“ heißt sein zweiter
EU-Roman.
Ein Besuch zu Beginn einer Lesereise
VON ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID
Robert Menasse räuspert und entschuldigt sich, ehe er loslegt: Er mache das jetzt zum ersten Mal. In einigen Wochen wird es schon routinierter klingen. Seine Lesereise, auf der er seinen neuen Roman vorstellt, führt ihn bis Jahresende in zwei Dutzend deutsche Städte. Sie beginnt in Hartberg, einer kleinen Stadt mit 6774 Einwohnern in der Steiermark. „Die Erweiterung“ ist Menasses zweiter EU-Roman. 2017 hat der Autor aus Österreich den Deutschen Buchpreis für den ersten bekommen: In „Die Hauptstadt“ konzentrierte er sich auf die Brüsseler Institutionen, diesmal geht es darum, wie die Europäische Union größer wird.
Dazu passt, dass Menasse in Hartberg in einem im wörtlichen Sinne offenen Haus liest. Es ist eine Baustelle mit freigelegten Fundamenten und ohne Fenster, sodass der Wind hindurchzieht. Hier soll einmal ein Kulturzentrum entstehen, aber noch muss man in einem nach zwei Seiten offenen Stadel Platz nehmen – was dem Kettenraucher Menasse die Gelegenheit gibt, auch während der Lesung, die mehr eine Vorlesung über die Funktionsweise der EU ist, seiner Passion nachzugehen.
Dieser Ort, den Menasse vorher nicht kannte, ist das perfekte Symbol für das, was der frühere Kanzler Helmut Kohl in seinen Reden wiederholt als „Bau des gemeinsamen Hauses Europa“ bezeichnet hat: unfertig, ausgehöhlt – da und dort sind Teile angebaut.
Die Zukunft Europas treibt Robert Menasse an, das wird auch im Gespräch deutlich. Als glühender Europäer will er aber nicht bezeichnet werden. Nein! „Die EU ist eine großartige Idee, die schlecht verwaltet wird.“ Die Nationalstaaten könnten mit ihren Vetodrohungen weitere Entwicklungen verhindern. Wenn man Europa verändern wolle, müsse man ein Bewusstsein für seine Widersprüche schaffen. Das will Menasse mit seinen Mitteln tun: „Mein Anspruch ist: Ich will Europa erzählen können. Die Abgründe, all den Wahnsinn, das Beglückende, das Großartige der Idee, die niederschmetternde Blödheit mancher Repräsentanten.“
Er hat sich kundig gemacht: Um den ersten Roman über die EU schreiben zu können, hat er mehrere Monate in Brüssel gelebt. Der neue kreist nun um Polen und vor allem um Albanien, wo Menasse auch drei längere Aufenthalte eingelegt hat. Warum ausgerechnet dort? „Albanien ist mit all seinen Wahnsinnigkeiten und Widersprüchlichkeiten ein interessantes Exempel. Das Land implementiert systematisch die Justizreform als Bedingung für den Beitritt. Und umgekehrt gibt es Länder, die sind Mitglied und brechen systematisch europäisches Recht, wie Ungarn oder Polen.“ Diese Dialektik habe ihn interessiert, sagt Menasse. Dass in Staaten wie Albanien Politiker Wahlen mit dem Versprechen gewinnen, ihr Land in die EU zu führen, während in EU-Staaten Politiker Zugewinne erzielen, wenn sie sich besonders EU-kritisch geben, findet Menasse „bezeichnend für den Zustand Europas“.
Eine große Rolle spielt in seinem Roman „Die Erweiterung“ der albanische Nationalheld Skanderbeg, der im 15. Jahrhundert das christliche Abendland gegen das Osmanische Reich verteidigte: „Ein christlicher Held in einem mehrheitlich muslimischen Land. Das zeigt, wie lächerlich die Bedenken etwa von Polen sind, kein muslimisches Land in die EU aufnehmen zu wollen“, sagt Menasse.
Der Helm dieses Skanderbeg liegt heute als Exponat im Weltmuseum, einer Dependance des Kulturhistorischen Museums in der Wiener Hofburg. Auf dieses nationalistische Symbol erhebt die albanische Regierung Anspruch. Er steht für ihren Versuch, die Albaner aller Länder – von Kosovo bis Nordmazedonien – hinter sich zu vereinen und Druck aufzubauen, damit es endlich etwas wird mit dem EU-Beitritt. Auch darum geht es Menasse, den Nationalismus und die Symbolpolitik in den EU-Staaten bloßzulegen: „Die momentanen Eliten agieren weitgehend geschichtslos. Auch im Widerspruch zu dem sehr klaren Geschichtsbewusstsein, das bei den Beitrittskandidaten vorherrscht. Die haben noch die jüngste Geschichte in den Knochen. Gleichzeitig haben sie nationale Mythen, die teilweise bis ins Mittelalter reichen. Das sind Dynamiken, die in den Alltag der Menschen hineinwirken.“
Um davon erzählen zu können, hat Menasse eine Vielzahl von Figuren erschaffen, was manchmal die Orientierung in der Geschichte etwas erschwert. Der Roman ist gleichzeitig Tragödie und Satire, enthält Liebesgeschichten und historische Lektionen. Wie bereits in „Die Hauptstadt“ transportiert Menasse in Form eines Romans viel Wissen über die eigentlich bürokratischen Vorgänge in Brüssel, mischt Fakten mit Fiktionen. Es stimmt, dass der französische Präsident Emmanuel Macron ein Veto gegen einen EU-Beitritt Albaniens eingelegt hat, und dass sich China für den albanischen Hafen Durrës und die Kupfervorkommen des Landes interessiert hat. Auch die Figur des albanischen Ministerpräsidenten im Roman erinnert frappierend an Edi Rama.
Manches steigert Menasse aber auch so ins Absurde, dass nicht klar ist: Was ist nun real, was erfunden? Am Anfang ist man noch versucht zu googeln, aber dann lässt man sich mitreißen vom Sog des Romans. „Das ist keine wissenschaftlich-historische Abhandlung, es geht um eine europäische Erzählung“, stellt Menasse klar. Er, der mit so viel Überzeugungskraft vortragen kann, ist vorsichtiger geworden, das merkt man. Im Jahr 2019 war eine Debatte über historische Richtigkeit ausgebrochen, nachdem er eben nicht nur im Roman, sondern auch in öffentlichen Reden behauptet hatte, Walter Hallstein, der erste Präsident der Europäischen Kommission, habe seine Antrittsrede über die Zukunft Europas auf dem Gelände des Konzentrationslagers Auschwitz gehalten. Historiker wiesen ihm nach, dass es dieses Ereignis nie gegeben hatte, auch Zitate, die Menasse verwendet hatte, fanden sich bei Hallstein nicht wörtlich. Scharf wurde das als Geschichtsklitterung kritisiert, wenn auch eine zu guten Zwecken, nämlich um das Projekt Europa pointiert als im Geist von „Nie wieder Auschwitz“ gegründet darstellen zu können. Menasse hat sich für die historischen Fehler entschuldigt. Wenn er heute spricht, fällt immer wieder eine Nebenbemerkung wie: Das würden manche Historiker vielleicht anders sehen.
Des Skandals unbenommen ist das „Manifest für eine europäische Republik“, das Menasse mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot geschrieben hat, in dem sie das „Europa der Nationalstaaten“ für gescheitert erklären, und inzwischen ins Haus der europäischen Geschichte in Brüssel gewandert ist. „Das ist ehrenhaft, aber das Ziel war die Realität, nicht die Musealität“, sagt Menasse. Schon in seinem im Jahr 2012 publizierten Essay „Der europäische Landbote“ hat Menasse mit Verve dafür plädiert, dass sich jeder Europäer über seine Region und die Union definieren solle. Denn, so argumentiert er: „Die großen globalen Krisen können nicht die Nationalstaaten alleine lösen, das geht nur gemeinsam. Entweder es gibt eine gemeinsame Zukunft oder es gibt keine Zukunft.“
Insofern, so sagt er mit einem Zögern, gehe etwas wie das Gipfeltreffen der
44 Staats- und Regierungschefs schon in die richtige Richtung, die sich Anfang Oktober in Prag über ihr Vorgehen in der Energiekrise und gegen Putins Angriffskrieg auf die Ukraine verständigten. Die Idee dazu kam von Macron, der angeblich nach einer Intervention von Angela Merkel die Vetodrohung gegen Albaniens EU-Beitritt zurückgezogen hat. Krisen sieht Robert Menasse auch als Chance zur Veränderung: „Gibt es keine Krise, erschöpft sich der Kontinent in der Verwaltung seiner selbst.“
Auch wenn Menasse nicht als glühender Europäer bezeichnet werden will, seinen europäischen Traum verfolgt der 68-Jährige konsequent: „Wer den Mauerfall 1989 erlebt hat, als von einem Tag auf den anderen alles anders wurde, darf nie wieder sagen, dass das Wünschenswerte nicht möglich ist oder etwas scheinbar Aussichtsloses nicht geändert werden kann.“
„Die großen globalen Krisen
können nicht die Nationalstaaten
alleine lösen.“
Robert Menasse:
Die Erweiterung. Roman. Suhrkamp, Berlin 2022. 653 Seiten, 26 Euro.
„Gibt es keine Krise, erschöpft sich der Kontinent in der Verwaltung seiner selbst“: Der Schriftsteller Robert Menasse in Wien.
Foto: Friedrich Bungert
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2022Ihm ist ganz albanisch wohl
Ein Herz für Europa: Robert Menasse führt mit "Die Erweiterung" seinen EU-Romanzyklus fort
Ausgerechnet Albanien. Ein Land, über das die meisten wenig wissen. Das wenige ist dann allerdings immer gleich spektakulär: spektakuläre Natur, spektakuläre Bunker, die Enver Hoxha in der paranoiden Spätphase seiner Regentschaft hunderttausendfach an die Mittelmeerküste bauen ließ, spektakulär archaische Ehrbarkeitsbräuche in den Dörfern der nordalbanischen Alpen, spektakuläre Mafiaverbrechen. Dass dieses Land, das über Kupfer- und Erdölvorkommen verfügt, aber auch die glaubwürdigsten Anstrengungen unternimmt, Mitglied der EU zu werden, und die überwiegende Mehrheit der albanischen Bevölkerung für einen EU-Beitritt ist, während EU-Mitgliedstaaten mit rechtspopulistischen Regierungen den politischen Zerfall derselben betreiben, treibt Robert Menasse schon seit Längerem um.
Der Buchpreisgewinner des Jahres 2017 hat sich dem Projekt verschrieben, die als blutleer geltende EU mit rotem Erzählsaft zu beleben. Und damit unsterblich zu machen - entgegen allen realpolitischen Prognosen. Einen Bürokratismus mit menschlichem Antlitz hatte Menasse schon zum Auftakt seiner geplanten Europa-Trilogie geschaffen. "Die Erweiterung" ist jetzt die Erweiterung dieses engagierten Schreibprojekts.
Teil eins, "Die Hauptstadt", spielte in Brüssel und im polnischen Auschwitz, das ein pfiffiger EU-Beamter, zuständig fürs fünfzigjährige Jubiläum der Kommission, zur europäischen Hauptstadt erklären wollte. Im neuen Roman verschiebt sich der Fokus. Der albanische Ministerpräsident möchte die durch ein französisches Veto blockierten Beitrittsverhandlungen wiederaufnehmen. Hierfür lässt sich der ehemalige Basketballprofi, der im Hof der Staatskanzlei von Tirana den ein oder anderen Dunking versenkt, von einem Dichter beraten.
Vieles hat Robert Menasse der Realität abgeschaut. Das französische Veto, das kurz darauf wieder zurückgenommen wurde, zum Beispiel. Aber auch das politische Personal: Menasses Ministerpräsident ist ein Abbild des amtierenden albanischen Premiers Edi Rama - ein Mann mit Basketballer-Vergangenheit und bildender Künstler wie sein Alter Ego im Roman. Dessen Berater brockt ihm eine geniale Idee ein und zugleich ein dickes Problem. Der Ministerpräsident soll sich eine auf seinen Schädel passende Kopie des im Kunsthistorischen Museum in Wien verwahrten Helms des albanischen Nationalhelden Skanderbeg anfertigen lassen. "Hatte die EU ein Symbol ihrer Einheit?", heißt es im Roman: "Nein. Aber die Albaner hatten eines, diesen Helm." Und deswegen muss der jetzt, auf dem symbolpolitischen Kampfplatz EU-Osterweiterung, wieder zu Ehren kommen.
Robert Menasse ist nicht nur ein Chronist der diplomatischen Verwicklungen zwischen Brüssel und Albanien. Er ist auch ein Spieler. 650 Seiten über einen EU-Beitritt wollen zusammengehalten werden durch ein Leitmotiv, das die Romanhandlung durchwirkt. So wird ihr erzähltechnisch der Helm des Skanderbeg aufgesetzt. Und der entwickelt sich vom Dingsymbol, zum Diebesgut, von dort weiter zur Hehlerware, dann zum Beweismittel und schließlich auch zur slapstickhaften Lachnummer. Denn nicht nur wird der Originalhelm von Unbekannten aus der Wiener Rüstkammer gestohlen, was den Verdacht auf den albanischen Neuskanderbeg wirft. Auch kommt die Kopie des Helms auf Abwege beziehungsweise in die Hände einer ehrbaren Familie, die sich normalerweise nicht mit Kunstraub abgibt, weswegen ihr Boss gleich ein paar unmissverständliche Zeichen in Form von rollenden Köpfen an die eigene Sippe schickt.
Es würde zu weit führen, alle Wege des Helms hier nachzuerzählen. Mit ihm kommt jedenfalls die Handlung ordentlich ins Rollen. Robert Menasse gibt etwa zehn Hauptfiguren samt biographischen Hintergründen und aktuellen Funktionen als Regierungssprecher, EU-Beamter, Polizeichef, Politikberater und Ministerpräsident eine Bühne. Hinzu kommen mindestens zehn Nebenfiguren. Dadurch entsteht ein episches Geflecht an Handlungen und Befindlichkeiten, das Menasse souverän als Page Turner präsentiert.
Antagonistische Prinzipien prallen aufeinander, symbolische Handlungen (sämtliche Einsatzgebiete des echten und des gestohlenen Volkshelden-Helms) auf den Brüsseler Pragmatismus einer oftmals frustrierenden Abstimmungsroutine. Die Rationalität des Amtes steht der Irrationalität ihrer Amtsträger gegenüber. Und rechtsstaatliche Selbstverständlichkeiten konkurrieren mit archaischen Ehrbegriffen, die nicht nur von der albanischen Mafia hochgehalten werden.
Robert Menasse hat sich in die Kulturgeschichte seines Schauplatzes hineingearbeitet. Und kann mit dem ein oder anderen Kuriosum aus dem Ethnologenlehrbuch aufwarten. So gibt es im Roman eine jüdische Figur, die nur deswegen der Judenhatz der Gebirgsdivision SS Skanderbeg entkommen ist, weil ihr albanischer Gastgeber die lokalen Gesetze des sogenannten Kanun, des albanischen Ehrenkodex, einhalten musste. Dieser besagt unter anderem, dass ein Gast unter allen Umständen den Schutz seines Gastgebers genießt. So schickt der tapfere Albaner, als es eines Tages auch an seiner Tür klopft, nicht den jüdischen Flüchtling hinaus, sondern den eigenen gleichaltrigen Sohn. Eine Geschichte von biblischer Drastik, die kontrastiert wird mit den Rechtsauffassungen jener politischen Organisation, der sich Menasse auch als Vortragsredner und engagierter Intellektueller verschrieben hat.
Auffällig und vielleicht nicht einmal dem Autor bewusst: Eine schmerzhafte Mutterlosigkeit zieht sich durch den gesamten Roman. Ob es ein verzopfter EU-Beamter ist, der bei seiner Großmutter aufwuchs, oder der albanische Regierungssprecher, dessen Vater eines der letzten Opfer des Hoxha-Regimes wurde, woraufhin sich die Mutter das Leben nahm. Auf den letzten zweihundert Seiten lernen wir noch eine Radiojournalistin besser kennen, deren Mutter bei der Geburt verstarb.
Auch wenn Menasse am Ende die gesamte europäische Elite in einer Art Flüchtlingsgeisterschiff auf dem Mittelmeer herumschippern lässt, ohne Aussicht auf Aufnahme, nirgends: In diesem Roman schlägt das Herz eines Europäers zum zweiten Mal laut und vernehmlich und auch irgendwie flehentlich. KATHARINA TEUTSCH
Robert Menasse: "Die Erweiterung". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
654 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Herz für Europa: Robert Menasse führt mit "Die Erweiterung" seinen EU-Romanzyklus fort
Ausgerechnet Albanien. Ein Land, über das die meisten wenig wissen. Das wenige ist dann allerdings immer gleich spektakulär: spektakuläre Natur, spektakuläre Bunker, die Enver Hoxha in der paranoiden Spätphase seiner Regentschaft hunderttausendfach an die Mittelmeerküste bauen ließ, spektakulär archaische Ehrbarkeitsbräuche in den Dörfern der nordalbanischen Alpen, spektakuläre Mafiaverbrechen. Dass dieses Land, das über Kupfer- und Erdölvorkommen verfügt, aber auch die glaubwürdigsten Anstrengungen unternimmt, Mitglied der EU zu werden, und die überwiegende Mehrheit der albanischen Bevölkerung für einen EU-Beitritt ist, während EU-Mitgliedstaaten mit rechtspopulistischen Regierungen den politischen Zerfall derselben betreiben, treibt Robert Menasse schon seit Längerem um.
Der Buchpreisgewinner des Jahres 2017 hat sich dem Projekt verschrieben, die als blutleer geltende EU mit rotem Erzählsaft zu beleben. Und damit unsterblich zu machen - entgegen allen realpolitischen Prognosen. Einen Bürokratismus mit menschlichem Antlitz hatte Menasse schon zum Auftakt seiner geplanten Europa-Trilogie geschaffen. "Die Erweiterung" ist jetzt die Erweiterung dieses engagierten Schreibprojekts.
Teil eins, "Die Hauptstadt", spielte in Brüssel und im polnischen Auschwitz, das ein pfiffiger EU-Beamter, zuständig fürs fünfzigjährige Jubiläum der Kommission, zur europäischen Hauptstadt erklären wollte. Im neuen Roman verschiebt sich der Fokus. Der albanische Ministerpräsident möchte die durch ein französisches Veto blockierten Beitrittsverhandlungen wiederaufnehmen. Hierfür lässt sich der ehemalige Basketballprofi, der im Hof der Staatskanzlei von Tirana den ein oder anderen Dunking versenkt, von einem Dichter beraten.
Vieles hat Robert Menasse der Realität abgeschaut. Das französische Veto, das kurz darauf wieder zurückgenommen wurde, zum Beispiel. Aber auch das politische Personal: Menasses Ministerpräsident ist ein Abbild des amtierenden albanischen Premiers Edi Rama - ein Mann mit Basketballer-Vergangenheit und bildender Künstler wie sein Alter Ego im Roman. Dessen Berater brockt ihm eine geniale Idee ein und zugleich ein dickes Problem. Der Ministerpräsident soll sich eine auf seinen Schädel passende Kopie des im Kunsthistorischen Museum in Wien verwahrten Helms des albanischen Nationalhelden Skanderbeg anfertigen lassen. "Hatte die EU ein Symbol ihrer Einheit?", heißt es im Roman: "Nein. Aber die Albaner hatten eines, diesen Helm." Und deswegen muss der jetzt, auf dem symbolpolitischen Kampfplatz EU-Osterweiterung, wieder zu Ehren kommen.
Robert Menasse ist nicht nur ein Chronist der diplomatischen Verwicklungen zwischen Brüssel und Albanien. Er ist auch ein Spieler. 650 Seiten über einen EU-Beitritt wollen zusammengehalten werden durch ein Leitmotiv, das die Romanhandlung durchwirkt. So wird ihr erzähltechnisch der Helm des Skanderbeg aufgesetzt. Und der entwickelt sich vom Dingsymbol, zum Diebesgut, von dort weiter zur Hehlerware, dann zum Beweismittel und schließlich auch zur slapstickhaften Lachnummer. Denn nicht nur wird der Originalhelm von Unbekannten aus der Wiener Rüstkammer gestohlen, was den Verdacht auf den albanischen Neuskanderbeg wirft. Auch kommt die Kopie des Helms auf Abwege beziehungsweise in die Hände einer ehrbaren Familie, die sich normalerweise nicht mit Kunstraub abgibt, weswegen ihr Boss gleich ein paar unmissverständliche Zeichen in Form von rollenden Köpfen an die eigene Sippe schickt.
Es würde zu weit führen, alle Wege des Helms hier nachzuerzählen. Mit ihm kommt jedenfalls die Handlung ordentlich ins Rollen. Robert Menasse gibt etwa zehn Hauptfiguren samt biographischen Hintergründen und aktuellen Funktionen als Regierungssprecher, EU-Beamter, Polizeichef, Politikberater und Ministerpräsident eine Bühne. Hinzu kommen mindestens zehn Nebenfiguren. Dadurch entsteht ein episches Geflecht an Handlungen und Befindlichkeiten, das Menasse souverän als Page Turner präsentiert.
Antagonistische Prinzipien prallen aufeinander, symbolische Handlungen (sämtliche Einsatzgebiete des echten und des gestohlenen Volkshelden-Helms) auf den Brüsseler Pragmatismus einer oftmals frustrierenden Abstimmungsroutine. Die Rationalität des Amtes steht der Irrationalität ihrer Amtsträger gegenüber. Und rechtsstaatliche Selbstverständlichkeiten konkurrieren mit archaischen Ehrbegriffen, die nicht nur von der albanischen Mafia hochgehalten werden.
Robert Menasse hat sich in die Kulturgeschichte seines Schauplatzes hineingearbeitet. Und kann mit dem ein oder anderen Kuriosum aus dem Ethnologenlehrbuch aufwarten. So gibt es im Roman eine jüdische Figur, die nur deswegen der Judenhatz der Gebirgsdivision SS Skanderbeg entkommen ist, weil ihr albanischer Gastgeber die lokalen Gesetze des sogenannten Kanun, des albanischen Ehrenkodex, einhalten musste. Dieser besagt unter anderem, dass ein Gast unter allen Umständen den Schutz seines Gastgebers genießt. So schickt der tapfere Albaner, als es eines Tages auch an seiner Tür klopft, nicht den jüdischen Flüchtling hinaus, sondern den eigenen gleichaltrigen Sohn. Eine Geschichte von biblischer Drastik, die kontrastiert wird mit den Rechtsauffassungen jener politischen Organisation, der sich Menasse auch als Vortragsredner und engagierter Intellektueller verschrieben hat.
Auffällig und vielleicht nicht einmal dem Autor bewusst: Eine schmerzhafte Mutterlosigkeit zieht sich durch den gesamten Roman. Ob es ein verzopfter EU-Beamter ist, der bei seiner Großmutter aufwuchs, oder der albanische Regierungssprecher, dessen Vater eines der letzten Opfer des Hoxha-Regimes wurde, woraufhin sich die Mutter das Leben nahm. Auf den letzten zweihundert Seiten lernen wir noch eine Radiojournalistin besser kennen, deren Mutter bei der Geburt verstarb.
Auch wenn Menasse am Ende die gesamte europäische Elite in einer Art Flüchtlingsgeisterschiff auf dem Mittelmeer herumschippern lässt, ohne Aussicht auf Aufnahme, nirgends: In diesem Roman schlägt das Herz eines Europäers zum zweiten Mal laut und vernehmlich und auch irgendwie flehentlich. KATHARINA TEUTSCH
Robert Menasse: "Die Erweiterung". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
654 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main