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Produktdetails
  • Verlag: Hoffmann und Campe
  • Seitenzahl: 1535
  • Deutsch
  • Abmessung: 241mm x 156mm x 72mm
  • Gewicht: 1950g
  • ISBN-13: 9783455042870
  • ISBN-10: 3455042872
  • Artikelnr.: 20769431
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Autorenporträt
Siegfried Lenz, geboren 1926 in Lyck (Ostpreußen), begann nach dem Krieg in Hamburg das Studium der Literaturgeschichte, Anglistik und Philosophie. Danach wurde er Redakteur. Er zählt er zu den profiliertesten deutschen Autoren. Seit 1951 lebte Siegfried Lenz als freier Schriftsteller in Hamburg. 1988 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2004 wurde ihm der Hannelore-Greve-Preis der Hamburger Autorenvereinigung verliehen, 2009 erhielt er den Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte und 2010 wurde Siegfried Lenz mit dem Nonino International Prize ausgezeichnet. 2011 schließlich verlieh man ihm die Ehrenbürgerwürde seiner polnischen Geburtsstadt. Siegried Lenz verstarb 2014.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2006

Mit dem Großen Zackenbarsch auf Streifzug durch ein Seeaquarium
Aus dem Lebenswerk eines Erfolgsschriftstellers: Sämtliche Erzählungen von Siegfried Lenz, versammelt in einem Band

Ein Buch wie ein Vollziegel, um es bautechnisch zu formulieren. Letzterem sagt man im Unterschied zum Hohlziegel nicht nur hohe Kapillarität sowie gutes Austrocknungsverhalten und Formbeständigkeit nach, sondern auch hohen Energieverbrauch bei der Herstellung. Mit anderen Worten: 1536 Seiten Erzählungen von Siegfried Lenz liegen auf dem Schreibtisch des Rezensenten, der sich nun vor allem um den eigenen Energieverbrauch Sorgen macht. Wie soll er das alles lesen? Die Frage muß vorerst unbeantwortet bleiben. Warum aber der Schriftsteller Lenz die Kraft für ein so enormes Erzählwerk aufbringen konnte, offenbart der Autor auf der letzten Umschlagseite des Bandes: "Ich bekenne, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen."

Die Welt muß dem Schriftsteller Lenz ein immerwährendes Rätsel gewesen sein, das er mit "insgesamt fast 170" Erzählungen, wie es in der editorischen Nachbemerkung heißt, zu lösen versucht hat. Nach unserer Zählung sind es exakt 168 Texte, von denen 107 bereits in der zwanzigbändigen und 1999 abgeschlossenen Werkausgabe enthalten und alle anderen in Zeitungen, Zeitschriften oder Anthologien gedruckt worden sind. Daß ein Erfolgsschriftsteller wie Lenz nicht für die Schublade geschrieben hat, ist nicht weiter überraschend. Aber daß in diesen Band kein einziger bisher ungedruckter Text aufgenommen worden ist, überrascht dann doch. Entweder sollten die Schubladen verschlossen bleiben, oder aber das Haus des nunmehr achtzigjährigen Lenz ist auf das beste bestellt.

Was man von der Welt, in der wir leben und von der Siegfried Lenz erzählt, nicht unbedingt sagen kann. Auch wenn der Schriftsteller Lenz durchaus gelegentlich zum Idylliker werden kann wie in "So zärtlich war Suleyken", der erfolgreichen Sammlung masurischer Geschichten, wo das Leben mit sogenanntem versöhnenden Humor aufs menschlich-heimatliche Maß herunterdekliniert -, oder aber, je nach Lesart, erhoben wird. Doch ist die Suleyken-Idyllik keine verlogene, keine Schönfärberei. Lenz bekennt sich nicht nur zur Fiktionalität seines masurischen Dorfes und dessen Menschen mit "unterschwelliger Intelligenz". Er bemüht sich mit seinem Märchen- und Anekdotenton auch gar nicht erst darum, uns glauben zu machen, daß es früher und in einer Gegend, wo die Orte Quaken und die Menschen Ludwig Karnickel heißen, wirklich besser und menschlicher gewesen wäre. Niemand aber kann ihn daran hindern, als Geschichtenerzähler einfach mal so zu tun.

Marcel Reich-Ranicki zählt in seinem dem Band vorangestellten Geleitwort mit guten Gründen die Geschichten "Das Feuerschiff", "Der Verzicht", "Die Phantasie" und "Ein Kriegsende" "zu den Höhepunkten des Lenzschen Werks". Außerdem schätzt und liebt er "auch aus persönlichen Gründen" die Geschichte "Der Große Zackenbarsch". Was mögen das für persönliche Gründe sein? Der Blick in den unter dem Titel "Ein geretteter Abend" gedruckten Text zeigt uns: Er ist Marcel Reich-Ranicki gewidmet. Der Text erzählt von einem ungewöhnlichen Vortragsabend in einer Volkshochschule. Eigentlich hätte ein Referent den Vortrag "Scharfrichter oder Geburtshelfer? Über das Wesen literarischer Kritik" referieren sollen. Doch der Mann sagt kurzfristig ab, und statt dessen wird einer der Besucher unfreiwillig zum Referenten. Es handelt sich um einen Meereskundler, der die Zuhörer auf einen "Streifzug durch ein Seeaquarium" mitnimmt und hierbei die Rolle des Großen Zackenbarsches erläutert, der so etwas wie der Großkritiker unter den Aquariumsfischen ist. Die einen frißt er, die anderen läßt er laufen und sorgt so für Ordnung im Aquarium. Wobei er dies ganz im Sinne der besten Aquariumsordnung tut, "sich durch keinen Köder verführen" läßt, "mithin unbestechlich sei".

Eine weitere Interpretation erübrigt sich. Die durchaus freundlich und freundschaftlich gemeinte Kritikerparabel gehört zu den Texten, von denen Lenz mit Blick auf sein Frühwerk einmal selbstkritisch gesagt hat: "Alles war enorm ausgeflaggt, alles war kenntlich gemacht, im Hinblick auf die Symbolbedeutung." Das mag für einen eher scherzhaft gemeinten Gelegenheitstext wie den Großen Zackenbarsch nicht so gravierend sein, ist aber ein Grund dafür, daß Lenz der Schulbuchautor der deutschen Gegenwartsliteratur schlechthin geworden ist. Eine Lenz-Interpretation konnte und kann auch noch dem schwächeren Schüler zu Erfolgserlebnissen verhelfen. Das ist lernpsychologisch äußerst günstig, doch hat diese Art des ausgeflaggten symbolischen Realismus dem Autor nicht nur massive Kritik eingetragen, sondern sein Werk oder zumindest Teile davon mit Kreidestaub und der Patina des pädagogisch Wertvollen überzogen und gerade für die jüngeren Leser hoffnungslos altmodisch gemacht.

Oder, um es mit den Worten Lenz' aus dem Jahr 1982 zu sagen: "Ja, junge Leute haben mir oft in Debatten zu verstehen gegeben, daß ich politisch und als Schriftsteller für sie seit ungefähr tausend Jahren unter den Pyramiden begraben liege." Nun sind die Pyramiden ja seit einiger Zeit wieder gewaltig im Kommen. Und das, was darunterliegt, auch. Allerdings ist ein anderthalbtausendseitiges Werk vielleicht nicht der geeignetste Anlaß, einmal einen frischen und unbefangenen Blick auf das Lenzsche OEuvre zu werfen. Man sollte es trotzdem tun, zumal bei dem Preis. Günstiger kriegt man so ein erzählerisches Lebenswerk nicht. Darüber hinaus eines, das sorgfältig ediert und mit den entsprechenden Angaben zur Entstehung der einzelnen Texte, zum Erstdruck sowie zum ersten Wiederabdruck in einer selbständigen Veröffentlichung des Autors versehen ist und auf diese Weise auch die Versäumnisse der Werkausgabe kompensiert.

Da der Rezensent selbst pädagogisch tätig ist, würde er der Jugend dieses Landes am liebsten zurufen: Nehmt - beziehungsweise stemmt - und lest. Das versagt er sich. Er weist lieber auf eine seiner Lieblingserzählungen hin, die rein zufällig auch zu den von Reich-Ranicki hochgelobten Texten zählt. Gemeint ist die Erzählung "Die Phantasie" aus dem Jahr 1974. Der Text ist so etwas wie die erzählerische Entfaltung der Lenzschen Poetik. Drei Männer, Schriftsteller allesamt, beobachten in einer Kneipe ein ungleiches Pärchen, überlegen, was diese beiden wohl zusammen- und in diese Kneipe geführt haben mag, und denken sich drei verschiedene Geschichten zu ihnen aus. Das ist nicht die Scheherazade-Situation. Lenz beziehungsweise seine drei Schriftstellerfiguren erzählen nicht um ihr Leben. Es ist eher die Situation des einsichtig gewordenen Parzival, der die Welt und die Menschen zu erlösen sucht, indem er sie nach ihren Daseinsweisen und den Umständen ihres Lebens befragt. Mitmensch, wie geht es dir?

Siegfried Lenz: "Die Erzählungen". Mit einem Geleitwort von Marcel Reich-Ranicki. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2006. 1536 S., geb., 40,- [Euro].

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»Siegfried Lenz hat stets so geschrieben, dass wir jedes Wort verstehen. Das ist bei bis zu 67 Jahre alten Texten nicht selbstverständlich. Viele der Geschichten von Siegfried Lenz mögen in versunkenen Welten spielen. Aber nichts in ihnen ist vergangen. Sie sind ganz Gegenwart.« NZZ am Sonntag 20151129