Bald nach der europäischen Wende, nachdem sein erzählerisches Werk endlich die erste Würdigung erfahren hatte, begann Kertesz, sich auch in der Form von Reden und Essays zur ethischen und kulturellen Bedeutung des Holocaust zu äußern. "Die Unvergänglichkeit der Lager", "Der Holocaust als Kultur" sind programmatisch seine ersten "theoretischen", in Wahrheit jedoch ganz von der Erfahrung des Überleben, Zeugen und Wächters inspirierten Texte überschrieben. Kertesz, der Nietzsche- und Wittgenstein-Übersetzer, tritt uns in ihnen mit der gleichen Radikalität und gnadenlosen Logik entgegen, die sein Romanwerk so beispiellos erscheinen läßt. Für ihn ist "Auschwitz keine Ausnahmeerscheinung, die sich wie ein Fremdkörper außerhalb der europäischen Geschichte befinden sollte", wie es in der Begründung der Schwedischen Akademie für den Nobelpreis heißt, "es ist die letzte Wahrheit über die Degradierung des Menschen im modernen Dasein". Ein "ethischer Nullpunkt", der, fällt er nicht der Verdrängung falscher "Wiedergutmachung" anheim, kulturbild sein könnte.
Die hier zum ersten Mal vollständig versammelten Essays, Betrachtungen und Reden über den Umgang mit dem Holocaust, das totalitäre 20.Jahrhundert, über Überleben und Exil, die Erscheinungen der Welt und das zu erneuernde Europa bilden die Summe eines unerbittlichen Nachdenkens, das - so die Schwedische Akademie - "den Leser von der Bürde obligatorischer Gefühle befreit und zu einer seltsamen Gedankenfreiheit verlockt".
Die hier zum ersten Mal vollständig versammelten Essays, Betrachtungen und Reden über den Umgang mit dem Holocaust, das totalitäre 20.Jahrhundert, über Überleben und Exil, die Erscheinungen der Welt und das zu erneuernde Europa bilden die Summe eines unerbittlichen Nachdenkens, das - so die Schwedische Akademie - "den Leser von der Bürde obligatorischer Gefühle befreit und zu einer seltsamen Gedankenfreiheit verlockt".
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.03.2003Berichte vom Untergang der Seele
Ist Wahrheit schön? Essays und Reden von Imre Kertész
Man kann beschreiben, was im Inneren eines menschlichen Körpers vor sich geht, wenn ein Holzprügel mit Wucht auf diesen Körper einwirkt. Blutgefäße platzen, Knochen splittern. Die Pathologie hat eine Terminologie dafür.
Um zu beschreiben, was in einer Seele vor sich geht, die gequält wird, genügt es nicht, über ein Vokabular zu verfügen: Der Autor selbst muss diese geschundene Seele sein. Das eigene Empfinden muss er abfackeln, muss alles ausbrennen, was seine psychische Natur an Schutzmänteln, Filz und Isoliermasse gnädig um die blanke, stahlblaue Qual gelegt hat. Es ist nicht schön, was dabei nebenher zutage kommt: das armselige, deformierte Gerüst einer malträtierten Seele. Aber es ist der Kern der Wahrheit. Den wird der Autor dann beschreiben.
So hat Imre Kertész gearbeitet. In seinen Essays über die „Lagerwelt”, die er im KZ und später im Stalinismus erlebte, interessiert er sich nur dafür, wie er selbst dies Leben wahrgenommen hat. Doch vermöge dieser Selbstprüfung wurde er zum Historiker: ein Flavius Josephus des Untergangs der Seele. Das Wort „Seele” benutzt er nicht, Innerlichkeit pflegt er nicht. Er spricht von Kultur: „Das zivilisierte menschliche Zusammenleben gründet sich schließlich auf jene stillschweigende Übereinkunft, den Menschen nicht gewahr werden zu lassen, dass ihm sein nacktes Leben mehr, sogar sehr viel mehr bedeutet als alle sonst verkündeten Werte. Sobald das aber evident ist – weil er durch Terror in eine Situation gedrängt wird, in der Tag um Tag, Stunde um Stunde, Minute um Minute nichts anderes als ebendies evident wird –, können wir in Wahrheit nicht mehr von Kultur reden.”
Wenn Kultur als Selbstbetrug überführt ist, wie erträgt der Mensch dann die schlagartige Restauration der „Kultur” nach dem Terror, wie wird er fertig mit dem, was er als Heuchelei auf ganzer Linie wahrnehmen muss? Die Antwort kann Kertész aus eigenem Erinnern nicht geben, da er von einem Terror in den nächsten wechselte. Und indem er freiwillig in Ungarn blieb, freiwillig hinnahm, dass gegenwärtige Demütigung auf vergangene Demütigung sich häufte, auch Entsetzen das Entsetzen komplettierte, begab Kertész sich in die Ironie: Terror und Erniedrigung in Ungarn habe er erleben müssen, um Schriftsteller zu sein: „Der Ekel und die Depression, mit denen ich allmorgendlich aufwachte, stimmten mich unmittelbar auf die Welt ein”, die Welt des KZ, „die ich darzustellen beabsichtigte.” Was Imre Kertész, um Schriftsteller zu sein, mit seinem Leben bezeugt hat, ist die höchste Form der existentiellen Ironie: Einverständnis mit der eigenen Erniedrigung – im Bund und Einverständnis mit dem Schicksal freimütige Unterwerfung unter die eigene Erniedrigung.
Bevor die Leute über diese Vita womöglich erschüttert seien, lässt Kertész sie wissen, dass der Totalitarismus ihm überhaupt das Leben gerettet habe: „Diese Gesellschaft garantierte mir die Fortsetzung des Lebens in Knechtschaft und sorgte so dafür, dass viele Irrtümer gar nicht erst möglich wurden”, stellt er fest. Anders als Jean Améry, anders als Primo Levi, die aus dem KZ in freiere Gesellschaften entlassen wurden, habe er, der sich keine besonderen Hoffnungen machte, von der „Flut von Enttäuschungen” nicht eingeholt werden können.
Formen der Scham
Über Jean Améry hat Imre Kertész geschrieben, seine „einzige Chance” habe in der „Selbstdokumentierung” gelegen. Die dreht sich natürlich um die Scham. Unter bestimmten Bedingungen kann diese das Wesentliche dessen ausmachen, was vom Selbstgefühl noch übrig ist: Sie ist eben nicht nur diffuses Ergebnis des Leidens, sondern von präziser Gestalt. „Wollte er aber wirklich, dass die Scham ihn überlebte”, schreibt Kertész im Gedenken an Améry, über sich selbst, „dann musste er die Scham genau artikulieren und das Artikulierte in eine bleibende Form gießen, das heißt, er musste ein guter Schriftsteller werden.”
Eine Form der Scham, die Kertész in Ungarn erlebte, ist die hochnotpeinliche Verschüchterung, die den Menschen erfasst, der im Rückblick sein eigenes Handeln unter den Bedingungen der Diktatur nicht mehr gutheißen kann: „All das, was im nachhinein als unbegreiflich angesehen wird”, habe er in der Vergangenheit sehr wohl begreifen müssen, weil es „der Preis des Überlebens” war. Dann kommt ein Systemwechsel, es kommt eine neue Epoche, und auf einmal verstehen die Menschen nicht mehr, wie sie den politischen Herzschlag des alten Regimes so sehr hatten verinnerlichen können, dass sie selbst im Takt mit dem Regime funktionierten. Nicht die Geschichte sei unbegreiflich, schreibt Kertész: „Wir begreifen uns selbst nicht.”
Imre Kertész hat ein unverbrüchlich schwarzes Menschenbild. Das 20. Jahrhundert, von einer freundlichen Konvention zu einer Ausnahmeepoche in der Menschheitsgeschichte erklärt, hat für ihn, im Gegenteil, „allem” einmal die Gelegenheit gegeben, „sein wahres Antlitz” zu zeigen. Seine Essays (die Übersetzungen lesen sich gut, teils sogar ausgezeichnet) handeln von allem möglichen: Nicht nur von der Lagergesellschaft, sondern auch von Budapest, von Literatur, von der Politik seit dem Untergang des Sowjetsystems, Kertész’ Existenz bringt es mit sich, dass diese Themen alle miteinander verschränkt sind. Letztlich handeln alle Texte von einem: von der Wahrheit. Und wer noch glaubt, dass Wahrheit etwas Schönes sei, muss diese Essays zum Schönsten rechnen, was über das 20. Jahrhundert geschrieben wurde.
Mitunter deutet Kertész an, was er in einem anderen Leben gedacht haben könnte: Er liebt Sándor Márai und Thomas Mann, „die beiden letzten europäischen Schriftsteller, die sich als Bürger begriffen”. Und indem er über sie spricht, offenbart er sich als ein Bürger, der gern – in einem anderen Leben vielleicht – ein Mann der Aufklärung gewesen wäre. Doch sogar in der Gegenwart, sogar für ihn gibt es eine Gewissheit, die ihn hält. So schrieb Kertész 1998 resümierend: „es gibt ein Arbeitszimmer, und ein Paar blauer Augen begleitet mein Leben. Wenn man mich zu einem Geständnis nötigt, bitte, ich bekenne: Ich bin glücklich.” Nein, niemand nötigt ihn. Aber sofern der Respekt es erlaubt, freut man sich für ihn.
FRANZISKA AUGSTEIN
IMRE KERTÉSZ: Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Aus dem Ungarischen von G. Buda, G. Déreky, K. Koenen, L. Kornitzer, C. Polzin, K. Schwamm, C. Viragh. Mit einem Vorwort von Péter Nádás. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M 2003. 257 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ist Wahrheit schön? Essays und Reden von Imre Kertész
Man kann beschreiben, was im Inneren eines menschlichen Körpers vor sich geht, wenn ein Holzprügel mit Wucht auf diesen Körper einwirkt. Blutgefäße platzen, Knochen splittern. Die Pathologie hat eine Terminologie dafür.
Um zu beschreiben, was in einer Seele vor sich geht, die gequält wird, genügt es nicht, über ein Vokabular zu verfügen: Der Autor selbst muss diese geschundene Seele sein. Das eigene Empfinden muss er abfackeln, muss alles ausbrennen, was seine psychische Natur an Schutzmänteln, Filz und Isoliermasse gnädig um die blanke, stahlblaue Qual gelegt hat. Es ist nicht schön, was dabei nebenher zutage kommt: das armselige, deformierte Gerüst einer malträtierten Seele. Aber es ist der Kern der Wahrheit. Den wird der Autor dann beschreiben.
So hat Imre Kertész gearbeitet. In seinen Essays über die „Lagerwelt”, die er im KZ und später im Stalinismus erlebte, interessiert er sich nur dafür, wie er selbst dies Leben wahrgenommen hat. Doch vermöge dieser Selbstprüfung wurde er zum Historiker: ein Flavius Josephus des Untergangs der Seele. Das Wort „Seele” benutzt er nicht, Innerlichkeit pflegt er nicht. Er spricht von Kultur: „Das zivilisierte menschliche Zusammenleben gründet sich schließlich auf jene stillschweigende Übereinkunft, den Menschen nicht gewahr werden zu lassen, dass ihm sein nacktes Leben mehr, sogar sehr viel mehr bedeutet als alle sonst verkündeten Werte. Sobald das aber evident ist – weil er durch Terror in eine Situation gedrängt wird, in der Tag um Tag, Stunde um Stunde, Minute um Minute nichts anderes als ebendies evident wird –, können wir in Wahrheit nicht mehr von Kultur reden.”
Wenn Kultur als Selbstbetrug überführt ist, wie erträgt der Mensch dann die schlagartige Restauration der „Kultur” nach dem Terror, wie wird er fertig mit dem, was er als Heuchelei auf ganzer Linie wahrnehmen muss? Die Antwort kann Kertész aus eigenem Erinnern nicht geben, da er von einem Terror in den nächsten wechselte. Und indem er freiwillig in Ungarn blieb, freiwillig hinnahm, dass gegenwärtige Demütigung auf vergangene Demütigung sich häufte, auch Entsetzen das Entsetzen komplettierte, begab Kertész sich in die Ironie: Terror und Erniedrigung in Ungarn habe er erleben müssen, um Schriftsteller zu sein: „Der Ekel und die Depression, mit denen ich allmorgendlich aufwachte, stimmten mich unmittelbar auf die Welt ein”, die Welt des KZ, „die ich darzustellen beabsichtigte.” Was Imre Kertész, um Schriftsteller zu sein, mit seinem Leben bezeugt hat, ist die höchste Form der existentiellen Ironie: Einverständnis mit der eigenen Erniedrigung – im Bund und Einverständnis mit dem Schicksal freimütige Unterwerfung unter die eigene Erniedrigung.
Bevor die Leute über diese Vita womöglich erschüttert seien, lässt Kertész sie wissen, dass der Totalitarismus ihm überhaupt das Leben gerettet habe: „Diese Gesellschaft garantierte mir die Fortsetzung des Lebens in Knechtschaft und sorgte so dafür, dass viele Irrtümer gar nicht erst möglich wurden”, stellt er fest. Anders als Jean Améry, anders als Primo Levi, die aus dem KZ in freiere Gesellschaften entlassen wurden, habe er, der sich keine besonderen Hoffnungen machte, von der „Flut von Enttäuschungen” nicht eingeholt werden können.
Formen der Scham
Über Jean Améry hat Imre Kertész geschrieben, seine „einzige Chance” habe in der „Selbstdokumentierung” gelegen. Die dreht sich natürlich um die Scham. Unter bestimmten Bedingungen kann diese das Wesentliche dessen ausmachen, was vom Selbstgefühl noch übrig ist: Sie ist eben nicht nur diffuses Ergebnis des Leidens, sondern von präziser Gestalt. „Wollte er aber wirklich, dass die Scham ihn überlebte”, schreibt Kertész im Gedenken an Améry, über sich selbst, „dann musste er die Scham genau artikulieren und das Artikulierte in eine bleibende Form gießen, das heißt, er musste ein guter Schriftsteller werden.”
Eine Form der Scham, die Kertész in Ungarn erlebte, ist die hochnotpeinliche Verschüchterung, die den Menschen erfasst, der im Rückblick sein eigenes Handeln unter den Bedingungen der Diktatur nicht mehr gutheißen kann: „All das, was im nachhinein als unbegreiflich angesehen wird”, habe er in der Vergangenheit sehr wohl begreifen müssen, weil es „der Preis des Überlebens” war. Dann kommt ein Systemwechsel, es kommt eine neue Epoche, und auf einmal verstehen die Menschen nicht mehr, wie sie den politischen Herzschlag des alten Regimes so sehr hatten verinnerlichen können, dass sie selbst im Takt mit dem Regime funktionierten. Nicht die Geschichte sei unbegreiflich, schreibt Kertész: „Wir begreifen uns selbst nicht.”
Imre Kertész hat ein unverbrüchlich schwarzes Menschenbild. Das 20. Jahrhundert, von einer freundlichen Konvention zu einer Ausnahmeepoche in der Menschheitsgeschichte erklärt, hat für ihn, im Gegenteil, „allem” einmal die Gelegenheit gegeben, „sein wahres Antlitz” zu zeigen. Seine Essays (die Übersetzungen lesen sich gut, teils sogar ausgezeichnet) handeln von allem möglichen: Nicht nur von der Lagergesellschaft, sondern auch von Budapest, von Literatur, von der Politik seit dem Untergang des Sowjetsystems, Kertész’ Existenz bringt es mit sich, dass diese Themen alle miteinander verschränkt sind. Letztlich handeln alle Texte von einem: von der Wahrheit. Und wer noch glaubt, dass Wahrheit etwas Schönes sei, muss diese Essays zum Schönsten rechnen, was über das 20. Jahrhundert geschrieben wurde.
Mitunter deutet Kertész an, was er in einem anderen Leben gedacht haben könnte: Er liebt Sándor Márai und Thomas Mann, „die beiden letzten europäischen Schriftsteller, die sich als Bürger begriffen”. Und indem er über sie spricht, offenbart er sich als ein Bürger, der gern – in einem anderen Leben vielleicht – ein Mann der Aufklärung gewesen wäre. Doch sogar in der Gegenwart, sogar für ihn gibt es eine Gewissheit, die ihn hält. So schrieb Kertész 1998 resümierend: „es gibt ein Arbeitszimmer, und ein Paar blauer Augen begleitet mein Leben. Wenn man mich zu einem Geständnis nötigt, bitte, ich bekenne: Ich bin glücklich.” Nein, niemand nötigt ihn. Aber sofern der Respekt es erlaubt, freut man sich für ihn.
FRANZISKA AUGSTEIN
IMRE KERTÉSZ: Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Aus dem Ungarischen von G. Buda, G. Déreky, K. Koenen, L. Kornitzer, C. Polzin, K. Schwamm, C. Viragh. Mit einem Vorwort von Péter Nádás. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M 2003. 257 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.2003Absurdität des Schöpferischen
Auschwitz als Befreiung: Reden und Essays von Imre Kertész
Imre Kertész hat von Anfang an und noch bei der Verleihung des Nobelpreises sein Schreiben als Privatangelegenheit betrachtet: "Ich hatte kein Publikum, und ich wollte niemand beeinflussen." Dieses Bekenntnis erscheint in seinen Essays und Reden seit 1990 als immer wieder zu bekräftigender Akt einer freien Anerkennung des Ausgestoßenseins, der Einsamkeit und eines schwierigen Lebens in der Distanz zu einer Gesellschaft, "in der allein die Lüge ernst genommen wird." So ist Schreiben als Manifestation der Realität des Selbst für Kertész die Rückgewinnung beschlagnahmten Lebens.
Auf die Erfahrung, einer fremden Nation als "Exportgut" zwecks Vernichtung zugestellt worden zu sein, reagiert Kertész in immer erneuten Formulierungen mit der Verweigerung jeglicher Zugehörigkeit zu Kollektiven. Nation, Staat und Gesellschaft bedeuten ihm nichts, das "Völkergefängnis" des Sozialismus, in dem die DDR eine "besonders unangenehme Abteilung" war, lehnt er ebenso ab wie die "alles niederwalzende Produktionsdynamik" des Kapitalismus. So möchte er auch nicht als Jude im ethnischen oder religiösen Sinne angesprochen werden. Das Judentum ist für ihn vielmehr ein universales Gleichnis des nirgendwo Hingehörens, der "Einsamkeit des Geistes" nach Auschwitz, es kann als "Existenzform und ethische Aufgabe" nur individuell angenommen werden.
Diese geistige Auffassung des Judentums macht Kertész auch gegen "Holocaust-Sentimentalismus" und "Spielberg-Kitsch" und die "mechanisch wiederholten Zeremonien formaler Trauerfeierlichkeiten" geltend. So hält er auch nichts von der verbreiteten These einer Enteignung der Opfer durch die Äußerlichkeiten der Gedächtnisbetriebsamkeit. Auschwitz gehört niemandem oder allen. Das Judentum ist im fundamental unglücklichen zwanzigsten Jahrhundert zur allgemeinen Existenzform des Geistigen und zur Metapher des beschädigten und sich selbst fremd gewordenen Individuums geworden. Was als Auschwitz bezeichnet wird, ist vor allem eine universale Grunderzählung. Sie hat die Qualitäten des mythischen Gleichnisses, die "geschlossene und inzwischen unantastbare Struktur" und die Einfachheit der unbezweifelbaren Unterscheidung zwischen Gut und Böse.
Diese Erzählung ist, so Kertész in grimmigem Humor, "das einzige bleibende Werk" der faschistischen Ideologie. Wird es angenommen und recht gelesen, kann es Bereicherung und Befreiung des Geistes bedeuten. Denn in diesem zwanzigsten Jahrhundert hat sich endlich "alles entlarvt, hat wenigstens einmal alles sein wahres Antlitz gezeigt". Eine "wahrhafte Vorstellung" davon aber vermittelt nicht der Tatsachenbericht der Historie, welcher Richtung auch immer, nicht der Vergleich mit den stalinistischen Lagern, nicht die Statistik, nicht die intellektuelle Analyse, die für Kertész so oder so an die Macht gebunden bleibt, und auch nicht der Anblick von Leichenbergen in der medialen Inszenierung, so gut sie gemeint sein mag. Allein "mit Hilfe der ästhetischen Einbildungskraft" kann eine solche Vorstellung entstehen und wirksam werden.
Die Literatur aber ist für den Nobelpreisträger kein Institut, sondern nur die Zugangseröffnung zur illusionsfreien Erkenntnis, die als Selbstsein realisiert werden muß. In dieser Funktion aber ist sie wichtiger denn je: "Mehr noch: der einzige Sinn des Lebens." So kommt Kertész auf ein Individuationsprogramm zurück, das im so unglücklichen wie anpassungsbereiten Bewußtsein selbst schon als illusionär denunziert worden ist. Das entspricht seiner These, daß zumal der deutsche Faschismus vor allem aus der "Auflehnung gegen die Aufklärung" zu verstehen ist. Mit Adorno und Camus ist sich Kertész einig, daß die Defizite der Aufklärung nur durch eine ästhetische und individuelle Radikalisierung der Aufklärung zu beseitigen sind. Die "absurde Gestalt des schöpferischen Menschen" wird daher als Ausdruck nur in negativer Dialektik erkennbar, einbekannte Entfremdung kann zur Signatur der Freiheit werden.
Kertész' Gedankengänge sind gelegentlich auf irritierende Weise wahrhaftig und seiner Verehrung des Parsifal würdig. Seine Radikalität ist trotz seines Beharrens auf einer unbezweifelbar gültigen Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht manichäisch, in ihrem Vertrauen auf die Kraft des menschlichen Geistes erscheint sie manchmal rührend altmodisch. Aber auch, wenn er nicht ohne Peinlichkeit über gelegentliche Anfälle der Sehnsucht nach Zugehörigkeit berichtet, hat Kertész immer noch eine ironische Pointe parat. In Israel herzlich aufgenommen, verspürt er trotz seiner Vorbehalte gegen Nation und Staat kurz vor der Rückkehr nach Budapest plötzlich einmal das "schwere und erhebende Gefühl nationaler Verantwortung". Beim Verlassen des Flugzeugs meint daher der des Hebräischen nicht mächtige und mit der jüdischen Kultur wenig vertraute Atheist "God save Israel!" rufen zu müssen. Aber auch mit seinem Englisch scheint es gehapert zu haben: "Man hat mich nicht verstanden. Vielleicht ist es besser so."
FRIEDMAR APEL
Imre Kertész: "Die exilierte Sprache". Essays und Reden. Aus dem Ungarischen übersetzt von György Buda, Géza Déreky, Krisztina Koenen, Laszlo Kornitzer, Christian Polzin, Kristin Schwamm und Christina Viragh. Mit einem Vorwort von Péter Nádas. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 258 S. geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auschwitz als Befreiung: Reden und Essays von Imre Kertész
Imre Kertész hat von Anfang an und noch bei der Verleihung des Nobelpreises sein Schreiben als Privatangelegenheit betrachtet: "Ich hatte kein Publikum, und ich wollte niemand beeinflussen." Dieses Bekenntnis erscheint in seinen Essays und Reden seit 1990 als immer wieder zu bekräftigender Akt einer freien Anerkennung des Ausgestoßenseins, der Einsamkeit und eines schwierigen Lebens in der Distanz zu einer Gesellschaft, "in der allein die Lüge ernst genommen wird." So ist Schreiben als Manifestation der Realität des Selbst für Kertész die Rückgewinnung beschlagnahmten Lebens.
Auf die Erfahrung, einer fremden Nation als "Exportgut" zwecks Vernichtung zugestellt worden zu sein, reagiert Kertész in immer erneuten Formulierungen mit der Verweigerung jeglicher Zugehörigkeit zu Kollektiven. Nation, Staat und Gesellschaft bedeuten ihm nichts, das "Völkergefängnis" des Sozialismus, in dem die DDR eine "besonders unangenehme Abteilung" war, lehnt er ebenso ab wie die "alles niederwalzende Produktionsdynamik" des Kapitalismus. So möchte er auch nicht als Jude im ethnischen oder religiösen Sinne angesprochen werden. Das Judentum ist für ihn vielmehr ein universales Gleichnis des nirgendwo Hingehörens, der "Einsamkeit des Geistes" nach Auschwitz, es kann als "Existenzform und ethische Aufgabe" nur individuell angenommen werden.
Diese geistige Auffassung des Judentums macht Kertész auch gegen "Holocaust-Sentimentalismus" und "Spielberg-Kitsch" und die "mechanisch wiederholten Zeremonien formaler Trauerfeierlichkeiten" geltend. So hält er auch nichts von der verbreiteten These einer Enteignung der Opfer durch die Äußerlichkeiten der Gedächtnisbetriebsamkeit. Auschwitz gehört niemandem oder allen. Das Judentum ist im fundamental unglücklichen zwanzigsten Jahrhundert zur allgemeinen Existenzform des Geistigen und zur Metapher des beschädigten und sich selbst fremd gewordenen Individuums geworden. Was als Auschwitz bezeichnet wird, ist vor allem eine universale Grunderzählung. Sie hat die Qualitäten des mythischen Gleichnisses, die "geschlossene und inzwischen unantastbare Struktur" und die Einfachheit der unbezweifelbaren Unterscheidung zwischen Gut und Böse.
Diese Erzählung ist, so Kertész in grimmigem Humor, "das einzige bleibende Werk" der faschistischen Ideologie. Wird es angenommen und recht gelesen, kann es Bereicherung und Befreiung des Geistes bedeuten. Denn in diesem zwanzigsten Jahrhundert hat sich endlich "alles entlarvt, hat wenigstens einmal alles sein wahres Antlitz gezeigt". Eine "wahrhafte Vorstellung" davon aber vermittelt nicht der Tatsachenbericht der Historie, welcher Richtung auch immer, nicht der Vergleich mit den stalinistischen Lagern, nicht die Statistik, nicht die intellektuelle Analyse, die für Kertész so oder so an die Macht gebunden bleibt, und auch nicht der Anblick von Leichenbergen in der medialen Inszenierung, so gut sie gemeint sein mag. Allein "mit Hilfe der ästhetischen Einbildungskraft" kann eine solche Vorstellung entstehen und wirksam werden.
Die Literatur aber ist für den Nobelpreisträger kein Institut, sondern nur die Zugangseröffnung zur illusionsfreien Erkenntnis, die als Selbstsein realisiert werden muß. In dieser Funktion aber ist sie wichtiger denn je: "Mehr noch: der einzige Sinn des Lebens." So kommt Kertész auf ein Individuationsprogramm zurück, das im so unglücklichen wie anpassungsbereiten Bewußtsein selbst schon als illusionär denunziert worden ist. Das entspricht seiner These, daß zumal der deutsche Faschismus vor allem aus der "Auflehnung gegen die Aufklärung" zu verstehen ist. Mit Adorno und Camus ist sich Kertész einig, daß die Defizite der Aufklärung nur durch eine ästhetische und individuelle Radikalisierung der Aufklärung zu beseitigen sind. Die "absurde Gestalt des schöpferischen Menschen" wird daher als Ausdruck nur in negativer Dialektik erkennbar, einbekannte Entfremdung kann zur Signatur der Freiheit werden.
Kertész' Gedankengänge sind gelegentlich auf irritierende Weise wahrhaftig und seiner Verehrung des Parsifal würdig. Seine Radikalität ist trotz seines Beharrens auf einer unbezweifelbar gültigen Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht manichäisch, in ihrem Vertrauen auf die Kraft des menschlichen Geistes erscheint sie manchmal rührend altmodisch. Aber auch, wenn er nicht ohne Peinlichkeit über gelegentliche Anfälle der Sehnsucht nach Zugehörigkeit berichtet, hat Kertész immer noch eine ironische Pointe parat. In Israel herzlich aufgenommen, verspürt er trotz seiner Vorbehalte gegen Nation und Staat kurz vor der Rückkehr nach Budapest plötzlich einmal das "schwere und erhebende Gefühl nationaler Verantwortung". Beim Verlassen des Flugzeugs meint daher der des Hebräischen nicht mächtige und mit der jüdischen Kultur wenig vertraute Atheist "God save Israel!" rufen zu müssen. Aber auch mit seinem Englisch scheint es gehapert zu haben: "Man hat mich nicht verstanden. Vielleicht ist es besser so."
FRIEDMAR APEL
Imre Kertész: "Die exilierte Sprache". Essays und Reden. Aus dem Ungarischen übersetzt von György Buda, Géza Déreky, Krisztina Koenen, Laszlo Kornitzer, Christian Polzin, Kristin Schwamm und Christina Viragh. Mit einem Vorwort von Péter Nádas. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 258 S. geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nicht die Geschichte ist unbegreiflich, zitiert Franziska Augstein Imre Kertész, sondern "wir begreifen uns selbst nicht". Sein Menschenbild ist durch und durch schwarz, schreibt Augstein über den ungarischen Schriftsteller und Nobelpreisträger, der zwei Diktaturen und Lagerhaft erfahren musste. Anders als Jean Améry oder Primo Levi, die aus dem KZ in freiere Gesellschaften entlassen wurden, baute Kertész erst gar keine Hoffnungen auf, so dass er auch nicht besonders enttäuscht werden konnte. Statt dessen begab er sich in jenen Zustand der existenziellen Ironie, den Augstein für Kertész typisch findet: das "Einverständnis mit der eigenen Erniedrigung", eine Art Unterwerfung unter das eigene Schicksal. Denn was im nachhinein, nach einem Systemwechsel, als unbegreiflich erscheine, nämlich das eigene Verhalten, kehrt Augstein auf Kertész zurück, habe dieser in der Vergangenheit sehr wohl begreifen müssen. Das sei Kertesz' Preis fürs Überleben gewesen. Kertész' Essays lassen sich sehr gut lesen, empfiehlt Augstein ihre Lektüre, sie handelten von allem - von der Lagerzeit, von Budapest, von der Literatur, von der Politik auch Auflösung des Ostblocks - und vor allem immer von der Wahrheit.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH